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Metadata: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

sich auch dem nur lexikalisch geschulten Betrachter auf — sind die 
Meisten Kartenspiele Mikrokosmen. Eine Welt wird in ihnen 
auf kleinstem Formst zusammengedrängt. Sie dienen den Göt 
tern und Mschichtsherosn zum Stelldichein oder beherbergen Sze 
nerien aus dem prostmen Leben des Balls, das sich unter Eicheln 
lustig ergeht. Später wecken sie zum Sammelort allegorischer 
Aanderfiguren, inventarisieren Redensarten, wie: „Mein Prozes 
hat einen guten Fortgang", oder: „Der Schein betrigt", oder: 
„Ein Narr macht Welle*, und bemühen sich noch in der Mitte 
des 19. Jahrhunderts um vollständig« Ueberblick« über das Jagd 
leben, die fünf Weltteile und die italienischen und napoleonischen 
Kriegs. Von jeher sind beim Kartenspiel die Elemente der jeweils 
gültigen West auf gut Glück durcheinandergemischt worden, und 
vielleicht ist es überhaupt die entscheidend« Funktion des Spiels, 
das Gesetz dieser unserer Welt immer wieder autzuheben und sich 
einem sickeren unbekqnnten anzuvertrauen. Ursprünglich mögen 
Glück nick Prophetie zusammengegangen sein. 
Ich bemerke schließlich noch, daß im Konversationslexikon ver 
schiedene Grundwerke über das Kartenspiel angeführt sind. 
Von he» Spielkarten zu den alten Landkarten ist zum 
mindesten räumlich nicht weit. Sie sind im Warenhaus 
Wertheim ausgestellt — «ine schöne Schau, hie im 16. Jahr 
hundert auhebt und bis zum 18. reicht. „Das 18. Jahrhundert", 
so heißt es lapidar i» meiner Quelle, einem reizend gedruckten 
Weilchen: ,,Alt« Karten*, das Wertheim als Leitfaden für 
Sammler und Liebhaber herausgeüracht hat, „wird von andere» 
Gedanken beherrscht als dem Geist der Entdecker und Kolonisa 
toren. Die künstlerisch« Qualität verschwindet. Einige Ansätze 
zeigen matte und wertlose Kopien früherer Arbeiten. Auch an 
eMem Wissen verwischt sich manches." 
Kurzum, der Leitfaden für Sammler und Liebhaber scheint vom 
18. Jahrhundert nichts wissen zu wollen, und so folg« ich ihm 
einfach und lass« mich zurückleiten zu der Weltkarte des Fernando 
Verteilt aus dem Jahre 156S, zu de Jode, Mercatar, Jansson 
und Blaeu. Ihr« kosmographischen Studien sind prachtvolle Kunst- 
Alle Spiel- und FandkarLen. 
Zwei Ausstellungen. 
Air Berlin, im April. 
W« erste sicher LeMMgie Erwähnung der Spielkarten in 
Deutschland stammt, wie ich dem Konversationslexikon entnehme, 
aus dem 14. Jahrhundert. Das Konversationslexikon ist ein unge- 
«ri« nützlicher Werk. Es unterrichtet uns Wer Gegenstände, von 
denen, wir nichts zu wissen brauchen, und ermöglicht uns, so Zu 
tun, als ob wir doch etwas Wer sie wüßten. Vomusgosetzt, daß 
wir klug, genug sind, die Quelle unserer plötzlichen Kenntnisse zu 
verschweigen. . 
Ich bin es nicht, und räume daher außer dem verstohlenen 
Gebrauch des öffentlichen Lexikons bereitwillig «in, daß ich als Dilet 
tant die Ausstellung alter Spielkarten besucht habe, 
die zur Zeit in der Berliner Kunstgewerbest^ 
thek gezeigt wird. Der Dilettant hat den Fachmännern gegenüber 
eine, große Unbefangenheit voraus Verfügt man nur Wer sie allein, 
so kann man natürlich nicht viele Aussagen machen. Immerhin 
glaube ich mich zu der Feststellung berechtigt, daß dies« Spislkarten- 
Kollektion, die mit Proben aus der Früh,zeit beginnt, herrliche Bei 
spiele alter Kunstübung enthält. Um nicht als gar Zu »«historisch 
zu gelten, trage ich hier nach, daß mein Konversationslexikon zu 
der Ansicht neigt, die Kartenspiels seien bei uns wahrscheinlich von 
den Sarazenen eingeführt worden. Eins Hypothese, auf die ich mich 
fest verlasse, da die anders Behauptung des Lexikons, daß die ersten 
Karten gemalt worden seien, durch die Ausstellung selber bestätigt 
wird. In der Tat, ein österreichisches Kartenspiel aus dein Jahre 
1510 ist auf Pergament handgemalt und muß ein kostbares Besitz 
tum gewesen sein. Holz- und Kupferstiche beherrschen in der Folge 
zeit den engen Kartenraum. Unter den Künstlern, die ihn mit 
Kompositionen füllen, taucht auch ein Unbekannter auf, der einfach: 
„Meister der Spielkarten* genannt wird und mit einer wunder 
vollen Reihergrupps vertreten ist, die m Dürers Gräserstudien auf 
'und ab stolzieren könnte. Meister der Spielkarten: niemand weiß, 
roas dereinst von ihm übrig bleibt und worauf sich sein Nachruhm 
gründen chag/Auch die Gräfin v. Zennison-Valofol hat gewiß 
nicht geahnt, daß man noch nach weit über hundert' Jahren ihre 
Kunstfertigkeit anerkennen wird, Sie hat uns einen von Cotta her- 
ausgegebsnen Kartenalmanach hinterlassen, der mit Figuren im 
Zeitgeschmack ausgestattet ist und die kahlen Kartenzeichen auf 
sinnige Weise konkretisiert. So findet sich auf der Treffsechseckrte 
ein Arrangement auZ sechs kleinen Nsgerlein. Dergleichen ist um 
1800 üblich gewesen, und wie Schippe sich in «ins Mönchskutte 
verwandelt, so Eckstein in ein Diwanklssen und Coeur ins Gesäß 
eines seine Notdurft verrichtenden Kindes. Der Witz dieser Kom 
positionen hat darin bestanden, die Figuren so anznocknrn, daß 
die Zeichen ungezwungen den richtigen Platz auf der Kartensläche 
sinnchmsn. 
Kis in die bürgerliche Aera hinein — diese Beobachtung drängt 
Mtter, deren Länder und Kontinente noch kaum an Geographie 
erinnern, sondern eher an Wiedergaben einer nur geahnten bizarren 
Welt. Aus ihren vier Ecken blasen die Winde, ihren Meeresfloren 
entsteigen Walrosse, und an ihren Modern kämpfen Bogenschützen 
mit Löwen. Es ist nicht recht scheuer an diesem durch viele Karten 
vergegenwärtigten Zwischenakt, an dem himmlische und irdische 
TopogWphts miteinander verschmelzen. 
Die Entdeckung Amerikas und der anderen fremden 
Landstriche hat den Eifer der Kartenkünstler beflügelt. Sie tragen 
neue Konturen ins Gradnetz ein und gleichen unseren sozialistischen 
Utopisten, dis das Bild der kommende» klassenlosen Gesellschaft 
vorauskonstrüieren wollen, auch darin, daß sie Irrtümer begchen, 
die dem rückwärts gewandten Blick als rührend erscheinen. Gin 
. großer Südkontinent kann sich lange behaupten; Japan muß dicht 
an Mexiko rücken; Kalifornien wird durch ein Paar Federstrichs 
vom amerikanischen Festland getrennt und gilt noch ewig als 
Insel. Irrtümer, die in einer Zeit gang und gäbe sind, in der 
schon New Aork auf den Karten auftaucht. Aber was für ein 
New Dort! Ein Märchsndorf aus der Kinderstube mit einer Wind-" 
Mühle, einer Kirche, einer Stadthertzergs und lauter Puppenhäus- 
chen, deren Dächer zinnoberrot angepinselt sind. Wenn einmal eine 
Ausstellung moderner Landkarten Veranstalter werden sollte, wird 
der dazugehörige Leldfoden für Sammler und Liebhaber dieses 
Spielzeugörtchen sicher nur zu dem Zweck erwähnen, um die Fort 
schritts unserer Zivilisation desto nachdrücklicher zu rühmen. 
Wie «in bewußter Abschied von E»n Darstellungen der alten 
Kartographen, die in einem anderen Raum als dem WsnM tzrr 
Hause gewesen sind, mutet eine Karte aus dem Jahre 1779 an; 
die „Charte von dem Quelle der Wünsche und den Ländern, welche 
dessen Ströme durchstießen, zum Besten derer entworfen, welche 
Wünsche zum Neuen Jahre bedürfen. Sie ist in dem Weü: „Der 
Quell der Wünsche" enthalten, das die Breitkopfische Buchhand 
lung in Leipzig heraurgegsbsn hat, und verzeichnet bis auf den 
Kilometer genau die Lage aller jener Landschaften, Städte und 
Weiler, nach denen dis Menschen sich sehnen. Da ist das große 
Land der Ehre, in dem sich der Wald des Verdienstes und die 
Orts Tittelkauf und Stolzsnhausen befinden; da ist das Land der 
Ruhe, das dem Fremdenverkehr lockend- Ziele wie Gleichmuts 
und Friedenthal bietet; da fehlt zuletzt nicht das glückliche Länd- 
chsn, ein kleiner Binnenstaat, der Freudenfest, auch Wonnestadt 
birgt. Ich Habs die Wunfchkarts nach der Lange und Breite durch, 
messen, ohne auf eine Gegend gestoßen zu sein,in der ich mich dauernd 
ansiedeln möchte, Sie ist allerdings 10 Iah« vor dem Ausöruch 
der französischen Revolution erschiene», die neue Karten und 
Wünsche erforderlich geumchr hat. 
Es wird, auch so bald mit ihnen Wn Ende nehmen.
	        
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