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Object: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Kostspieliger Weltfrieden. 
Der gigantische Film: „Ende der Welt" von Abel 
Gance mutet gar nicht französisch an. Ein monströses Werk, das 
eher ein Nachfahre von „Metcopolis" zu sein scheint. Allerdings hat 
dieser ältere Lang-Film seinerzeit in Paris gut gefallen, And über 
haupt haben die Franzosen genau so ihren Kitsch wie wir den 
unsrigen Nur die Vorliebe für unproportionierte Riesenmaße ist 
drüben neu. 
Durch Weltuntergang zum Weltfrieden: so 
lautet, auf ihre kürzeste Fassung gebracht, die These des Films. 
Oder anders.ausgedrückt: erst muß ein Komet die Erde bedrohen, 
ehe der Friedenswille der Völker sich durchsetzen kann. Ich finde, 
daß der Weltfriede durch dieses himmlische Eingreifen denn doch 
zu teuer erkauft ist, und zöge irdische Methoden zu seiner Verwirk 
lichung vor. Wären sie von Abel Gance berücksichtigt worden, so 
. hätte er aber weder sein Prunkschauspiel herstellen noch einen so 
gegenstandslosen Idealismus entfalten können. Träger dieses 
Idealismus ist ein Astronom, der unter Berufung auf die nahende 
Weltzerstörung gegen die Kriegsparteien kämpft und die Friedens- 
Neue Iitme. 
ILs* Berlin, im Mai. 
Unterwelt. 
Die Unterwelt blüht nicht nur in Chicago, sie ist auch in Berlin 
in Mode gekommen. Bei uns haben die Ringvereine den Fremden 
verkehr gewissermaßen in eigene Regie übernommen. Der Verein 
„Jmmertreu" verunstaltet Feste, Zu denen er lithographierte Ein 
ladungskarten verschickt, und läßt sich das Vergnügen, bei ihm zu 
Gast zu sein, teuer bezahlen. Wozu erst einbrechen, wenn man be 
quemer zu Geld kommen kann? Ich nehme an, daß die Snobs aus 
dem Berliner Westen bei solchen Gelegenheiten ein ähnliches Gru 
seln überläuft wie früher bei den Piscatorpremieren. Waren sie dort 
mitten in der Scheinrevolution, so sind sie hier im „Milieu", das 
noch dazu echt ist. Die Bürger werden heute von allen Mächten an 
gezogen, die jenseits der bürgerlichen Grenze stehen. Nur weiß ich 
nicht, ob die zunehmende Popularität der Ringvereinsfeste ein 
Zeichen für die Verbürgerlichung der Verbrecherorganisationen 
oder für das Schwinden des Eigentumsbegriffs ist. 
Die Filmindustrie beutet neuerdings das Interesse des großen 
Publikums an den Vorgängen in der Unterwelt aus. Ihnen ist vor 
allem der jetzt uraufgeführte Fritz Lang-Film der Nero: „M" 
gewidmet. Er ist das artistische Glanzstück eines außerordentlich be 
fähigten Regisseurs. Von den „Nibelungen" über „Metropolis" zu 
einem weltstädtischen Polizeifilm mit allen möglichen Schikanen 
und Sensationen — ein langer Weg, dessen Richtungssinn durch 
aus zu rechtfertigen ist. Denn das Hemd ist uns näher als der Rock, 
und ein Massenmörder betrifft uns in dieser Zeit mehr als etwa 
Hagen. Allerdings gibt Lang den Mythos nur preis, um auch das 
aktuelle Geschehen zu mythologisieren. 
„Eine Stadt sucht einen Mörder. Zwei ganz verschiedene Men 
schengruppen, Kriminalpolizei und Unterweltorganisationen, fahn 
den nach seiner Spur und finden ihn . . Der in diesen knappen 
Sätzen des Programms zusammengefaßte Inhalt ist unter Beteili 
gung Thea v. Harbous von einem Kollektiv hergestellt worden, das 
sämtliche Wirkungschancen haarscharf ausklügelt und berücksich 
tigt. Man liebt heute Tatsachenberichte: also sind dem Film lauter 
Tatsachen zugrunde gelegt — polizeilicher Erkennungsdienst, Er 
regung des Publikums, falsche Selbstbezichtigungen, Razzien usw. 
— die in blendenden Reportagen verarbeitet werden. Man disku 
tiert in der Öffentlichkeit leidenschaftlich gewisse Paragraphen und 
Tendenzen: der Film pirscht sich an sie heran und beantwortet sie 
klugerweise nicht. Was hat es auf sich mit der Standesehre von 
Verbrechern? Soll ein Kindermörder, der wie Kürten sein Unwesen 
treibt, hingerichtet oder nur eingesperrt werden? Das Kollektiv stellt 
diese und andere Probleme gleichsam zur Schau. Und da man nicht 
gerne ohne eine Belehrung entlassen wird, ermähnt es durch den 
Film das Publikum, die auf der Straße gefährdeten Kinder zu 
schützen und überhaupt für die Verhütung von Verbrechen M sorgen, j 
Mit einem riesigen Aufwand und doch zugleich rationell wie 
nur der erfahrenste Fachmann hat Lang diese Spiel- und Repor 
tagehandlung in Szene gesetzt. Die Virtuosität seiner Arran 
gements ist unter allen Umständen zu bewundern. Wie er das 
angstvolle Warten der Mutter auf ihr Töchterchen steigert; wie er 
das Grauen vergegenwärtigt, das den Mörder umgibt — ich 
denke an die Szene, in der er seinem kleinen Opfer einen Ballon 
kaust, an sein Pfeifen, an seine kurze Rast hinter der Laube eines 
VorstadtcaseZ —; wie überhaupt das In einund erspiel von Poli 
zei, Presse,. Str^ und Bettlerorgani ¬ 
sation bewältigt wird: das ist filmisch gekonnt, fein detailliert, 
ohne in Kleinkrämerei auszuarten, und mit starker Hand Zu 
sammengebaut. Das Bedürfnis, allen alles zu geben, hat freilich 
doch Zu Breiten geführt. Manche an sich instruktiven Passagen er 
müden, wie geschickt immer sie eingebaut sind, und im Streben 
nach UeberdeutlichkeiL quellen auch verschiedene Abschnitte viel zu 
kraß und stilfremd heraus. Man könnte streichen. Dem Tonfilm 
bringt Lang nichts Neues; es sei denn, daß er sich weitgehend die 
optische Freizügigkeit wahrt, gut auskalkulierte Uebergänge macht 
und die Figuren mitunter von ihren Worten trennt. Aber im 
ganzen überwiegen die Dialoge. 
Die bereits erwähnte Tendenz zur Mythologisie- 
rung erzielt schwelgerische Effekte, die nur leider nicht die sach 
lich geforderten sind. Es scheint, als könne Lang von den Nibe 
lungen nicht lassen; jedenfalls verfolgt ihn die grdße Oper mit 
ihren Apotheosen bis in den kriminalistischen, Stoff hinein. Er 
hätte seinen Vorwurf in einem Sinne zu Ende führen sollen, der 
unserer sozialen Wirklichkeit entspricht. SLaMessen biegt er von 
ihr ab und heroisiert das Verbrechertum. Um pompöser Massen- 
auftritte willen muß dieses auf der Suche nach dem Kindsmörder 
ein riesiges Bürohaus bei Nacht und Nebel durchwühlen und 
dann Wer den Erwischten zu Gericht sitzen. Das sieht so großartig 
aus, ist aber unwahr und tilgt den Nutzwert der vorangegangenen 
Reportagen. Immer wieder diese Fassadenkultur, diese wilhel 
minische Pracht. Wenn Lang es über sich brächte, die Bramarbas 
gelüste zu unterdrücken, führen er und wir besser. 
Der in ein exakt umrissenes Schauspielermilieu eingestellte Peter 
Lorre ist ein unheimlicher Mörder. Formlose Sanftmut ver 
wandelt sich in fürchterliche Besessenheit, erschlaffte und bestialische 
Zuge wechseln miteinander. Schade, daß ein outrierter Gebrauch 
von rollenden Augen gemacht wird und das Mimische im Schluß 
akt zu stark unterstrichen ist. 
Montmartre-Singspiel. 
Rens Clair ist in Gefahr, ein Publikumsliebling zu wer- 
Sem zweiter, in Berlin begeistert aufgenommener Großfilm: 
„Die Million" zeigt gefällige Dinge, die niemand in Un- 
v^setzen. Die Fabel: Ein junger Maler, der inmitten eines 
Kunstlervolkchens aus Murgers Boheme hoch unter den Dächern 
von Paris Haustz wird von einem Gläubigerchor gehetzt, entdeckt 
' aber gerade im Augenblick der Verzweiflung, daß er in der Lotterie 
eine Million gewonnen hat. Nur steckt das Los in einem Rock, der 
von seiner Freundin verschenkt worden ist. Es beginnt ein komisches 
Hindernisrennen aller Beteiligten mit Eifersuchtseinlagen, Kon 
kurrenzkämpfen und polizeilichen Intermezzi nach dem herum 
irrenden Glücksrock. Erst ganz am Schluß findet das Los zu seinem 
Inhaber zurück. 
Ich habe den Inhalt angedeutetz um auf das Entgleiten Clairs 
in die H a rml o s i gke iL des Vaudeville aufmerksam zu machen. 
Noch „8ous les toitg äe karis" enthielt wehmütige Satire und 
Motive, die unverkennbar den Geist der Avantgarde verrieten. Hier 
spürt man kaum etwas von Kritik, und sei sie auch mittelbar, von 
Outsidertum und Fremdheit. Atelierluft, Gläubiger und Grisetten: 
das alles zusammen ergibt eine etwas verschollene Umwelt, die 
durch die Jagd nach der Million nur verfestigt wird. Rein stofflich 
betrachtet geht uns der Budenzauber nichts an, und ob es sich 
bei solchen Farcen um Künstler oder Prinzen handelt -- roman 
tische Spielzeugfiguren sind beide. 
Mit Spielzeug kann man sich immerhin unterhalten, zumal 
wenn es anmutig ist. Rene Clair versteht sich auf Schick. Er baut 
die Methoden aus, die er schon früher angewandt hat, und gibt 
überhaupt eine Menge praktisch verwertbarer Anregungen. Ent 
scheidend ist sein Verhältnis zur Sprache. Die Vorherrschaft der 
Sprache wird gebrochen, und an ihre Stelle tritt eine breite 
rhythmische Bewegung von Bild- und Tongruppen, deren Zug 
seinerseits dem Wort den Platz anweist. So werden die Dialoge auf 
ein Minimum eingeschränkt — ein Verfahren, das nicht nur den 
Tonfilm erst zum Film macht und jeden Vergleich mit dem Theater 
zurückdrängt, sondern auch die Jnternationalität wieder anöahnt, 
die einst dem stummen Film zukam. In ihrem Interesse hat Clair 
ferner mit außerordentlicher Virtuosität kurze Szenen einmontiert, 
in denen zwei Sprecher, die sich der jeweiligen Landessprache be 
dienen können, den Gang der Handlung fortlaufend erläutern. Aller 
dings benutzt er zur Ausschaltung des Wortes Mittel, deren Ein 
seitigkeit bedenklich ist. Um von der musikalischen Untermalung ab- 
zusehen, reiht er Schlager aneinander und verfällt, wo er nur kann, 
ins Operetten hafte. Wie es scheint, ist die Verniedlichung 
auch formal gefordert. Aber ein Künstler wie Clair müßte imstande 
sein, den Dialog auszutreiben, ohne dabei auf den Abweg kunst 
gewerblicher Arabesken zu geraten. 
Nur in einer einzigen wundervollen Szene erreicht er seinen Ur 
sprung. Es ist die Szene in der großen Oper: eine vollendete 
Satire auf entleertes Pathos. Während im Vorderplan eine zentner 
schwere Sopranistin und ein Tenor, die sich beide am liebsten die 
Augen auskratzen mochten, süße Arien ausschwitzen, Lauert hinten 
im Kulissengebüsch der junge Maler mit seiner Freundin dem Rock 
auf, der gerade im Besitz des Heldensängers ist. Papierblütenblätter 
rieseln auf die Paare nieder, die Papprosen duften, und das Publi 
kum schmilzt dahin. Selten ist der alte Opernstil scharmanter ironi 
siert worden als durch die Konfrontation des tenoralen Edel- 
glanzes: nicht mit der Nüchternheit des Millionenjägers, sondern 
mit einem Kunststil, der die Welten des Sängers und des Malers 
umspannt.
	        
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