Zahllose rationale und wirklichkeitsnahe Einsichten, Beden
ken und Vorbehalte durchziehen die Dichtung Kafkas Zu dem
einzigen Zweck, um zuletzt iw Leeren zu verpuffen. Wie
sorgfältig prüft zum Beispiel das heimkehrende Höhlentier,
ob es Zur Erhöhung seiner Sicherheit nicht am Ende doch
eine Vertrauensperson an der Erdoberfläche. auf Beobach
tungsposten Zurücklassen soll. Aber: „Kann ich dem, welchem
ich Aug in Aug vertraue, noch dbenso vertrauen, wenn ich
ihn nicht sehe und wenn die Moosdecke uns trennt? Es ist
verhältnismäßig leicht, jemandem zu vertrauen, wenn man
ihn gleichzeitig überwacht oder wenigstens überwachen kann,
es ist vielleicht sogar möglich, jemandem aus der Ferne zu
vertrauen, aber aus dem Innern des Baues, also einer ande-
Er Welt heraus, jemandem außerhalb völlig zu vertrauen, ich
glaube, das ist unmöglich. Aber solche Zweifel sind noch nicht
einmal nötig, es genügt ja schon die Ueberlegung, daß wäh
rend oder nach meinem Hinabsteigen alle die unzähligen Zu
fälle des Lebens den Vertrauensmann hindern können, seine
Pflicht zu erfüllen usw " Hat sonst der Irrsinn Methode,
so sind hier die höchst real gemeinten methodischen Ueber-
legungen das Merkmal des Irrsinns der Welt, und dadurch,
daß sie nicht aufgehen, entlarvt sich vollends deren Irrealität.
Sie ist nicht ein Traum, im Gegenteil, sie ist wirklich; aber
sie ist kein Etwas und um so nichtiger, je geschlossener sie sich
gebärdet. In dieser ihrer Daseinsform entläßt sie Wesen aus
sich, die zwar dem DurchschniLtsbeLrachter nicht erscheinen,
dem RüÄehrenden jedoch, dem das Gerücht vom wahren
Wort nachklingt, sich zeigen. Mythische Wesen, zugeordnet
dem verworrenen Geraun des Lebens und seinem Räsonne-
ment. Zu ihnen gehört das unbenannte Höhlentier, das sich
der Anschauung verweigert, und der frierende „Kübelreiter,"
der auf seinem Kübel zum Kohlenfaden sprengt, ohne daß ihn
die Frau des Kohlenhändlers gewahr würde. Sie sind wicht
Geister noch Gespenster, sondern leibhafte Verdichtungen des
derzeitigen Weltzustands, in dem es statt der Könige nur
Kuriere gibt. „Es wurde ihnen die Wahl gestellt, Könige odex
Kuriere Zu werden. Nach Art der Kinder wollten alle
Kuriere sein. Deshalb gibt es lauter Kuriere, sie jagen durch
die Welt und rufen, da es keine Könige gibt, einander selbst
die sinnlos gewordenen Meldungen zu." Die Welt, in der
diese Kuriere hin- und hereilen, gleicht einem Schnittmuster
blatt, auf dem Teile dargestellt sind» die nicht zueinander
passen. Ost gefällt sich Kafka darin, irgendeine der irreführen
den Linien Herauszugreifen, zu verfolgen und gewissermaffen
Manchmal wachen die Karteien auch Wellenbewegungen und
rauschen wie eine Ziehharmonika. Unter anderem werden sie heute
Lei. der Arbeitsvermittlung verwandt, die allerdings nicht viel zu
vermitteln hat. Für die immer rationellere Ausgestaltung dieser
und anderer Einrichtungen in den Behördenbüros sorgt das pari«
tätisch beschickte Deutsche Institut für wirtschaftliche Arbeit in der
öffentlichen Verwaltung sVIV/IV), das einen eigenen Aus
stellungsraum hat, in dem auch eiE Kostprobe von der schönen
Schuldnerkartei des Amtsgerichts Berlin-Mitte verabreicht wird.
Sie muß vom Publikum bedient werden und legt über mehr als
400 Offenbarungseide Rechenschaft ab.
Tausende von Errungenschaften wären noch Zu bedenken: die
jüngsten Vervielfältigungsapparate, die FEmaschmen, die automa
tischen Briefschließer und Brieföffner, die Adressiermaschinen und
die Frankiermaschinen, die der Poesie der Portokassenjüngli^ nach
gerade ein Ende bereiten. Und um keinen Preis dürsten so reizende
Kleinigkeiten vergessen werden, wie ein neuartiger Pultordner oder
eine behutsame Büroklammer, die darauf bedacht ist, die von ihr
Zusammengehefteten Photographien nicht zu beschädigen. Aber wer
vermöchte die Gegenstände, die das Büro in eine Art von stähler
nem Laboratorium verwandeln, auch nur alle zu nennen? Genug,
sie sind vorhanden, bekümmern sich um jede Geringfügigkeit und er
ledigen prompt, was ihnen aufgetragen worden ist.
Freilich ist es mit ihnen allein nicht getan. Dieselbe mensch
liche Erfindungskraft, die sie hervorgebracht hat, müßte sie den
menschlichen Bedürfnissen unterzuordnen verstehen, sonst laufen
sie leer und richten Unheil um Unheil am Mr find diesem Zu
stand bedenklich nähe gerückt. Eine entfesselte Maschinerie rast über
die Menschen hinweg, und alle Zauberlehrlinge blicken ihr ängst
lich nach, ohne sie noch bändigen zu können. Käme der Meister/
sr schickte sie zweifellos in die Ecke, damit sie denen dienten, die
jetzt durch sie gefährdet werden.
im Spiel weiterzusühren. So schweift der forschende Hund,
nicht Zufrieden damit, der Geringfügigkeit wissenschaftlicher
Ergebnisse gedacht zu haben, zur Betrachtung aus: „Mir
genügt in dieser Hinsicht der Extrakt aller Wissenschaft, die
kleine Regel, mit welcher die Mütter die Kleinen von ihren
Brüsten ins Leben entlassen: „Mache alles naß, soviel du
kannst'." Es ist die Abstrusttät der Sachen, die mitunter doch
den Hauch von Munterkeit fordert.
In der Untersuchung: „Beim Bau der chinesischen
Mauer," die er.selber eine historische nennt, schildert Kafka
die Ahnenwelt, jene, in der „das Gefüge der Hundeschaft
noch locker" war. Durch die Darbietung ihrer Struktur
möchte er weniger die frühere Daseinsweise zur verwirklich
ten Utopie erheben, als die Verschlossenheit des heutigen Zu
stands kennzeichnen. Zum mindesten liegt ihm am meisten
daran, gegen sein dichtes Gefüge das damalige lockere aus
Zuspielen. Die ganze Untersuchung ist, wenn man will, ein
großartiges Experiment, das nachprüfen soll, wie eine Welt
ausgssehen haben mag/die den ,-alten, doch eigentlich einfäl
tigen Geschichten" Einlaß gewahrt hat. In dieser Absicht
erörtert Kafka ausführlich das „System des Teilbaus", nach
dem bei der Errichtung der chinesischen Mauer verfahren
worden sei. Auf die Weisungen der Führerschaft — „wo sie
war und wer dort saß, weiß und wußte niemand, den ich
fragte" — wurden überall Lücken gelassen. „Es geschah das
so, daß Gruppen von etwa zwanzig Arbeitern gebildet wur
den, welche eine Teilmauer von etwa fünfhundert Meter
Länge aufzuführen hatten, eine Nachbargruppe baute ihnen
dann eine Mauer von gleicher Länge entgegen. Nachdem
dann aber die Vereinigung vollzogen war, würd, nicht etwa
der Bau am Ende dieser tausend Meter wieder fortgesetzt,
vielmehr wurden die Arbeitergruppen wieder in ganz andere
Gegenden zum Mauerbau verschickt." Um die grundsätzliche
Bedeutung einer solchen Arbeitsmethode noch zu unterstrei
chen, fährt der Erzähler fort: „Jw es soll Lücken geben, die
überhaupt nicht verbaut worden sind, eine Behauptung aller
dings, die möglicherweise nur zu den vielen Legenden gehört,
die um den Bau entstanden. °Gegen das so bestimmte
Teilbau-Shstem könnte der Vorwurf der Unzweckmäßigkeit
erhoben werden, da ja die Mauer dem Vernehmen nach zum
Schutz vor den Nordvölkern diente. Wer Kafka widerlegt den
selbst gemachten Einwand. Wenn der lückenhafte Bau un
zweckmäßig sei, so folge -daraus, daß die Führerschaft etwas
Unzweckmäßiges gewollt habe. Und er schließt mit der son
derbaren Vermutung: der Beschluß des Mauerbaues habe
wohl seit jeher bestanden und sich also gar nicht gegen die
Nordvölker gerichtet. Diese Auskünfte vervollständigen das
Bild vergangenen Lebens, das die Geschichte von der chine
sischen Mauer festzuhalten sucht. Sie ist eine Beschwörung in
doppeltem Sinne. Einmal insofern, als sie eine verschollene
Existenzform heraufzitiert und verklärt, in der die richtig
eingeordnete menschliche Kreatur noch nicht aus Lebensangst
und falschem Schutzbedürfnis die Lücken verstopfte, deren
Vorhandensein ihr offenbar ermöglichte, dem Echo des wah
ren Worts zu lauschen. Zum andern insofern, als sie die
Mahnung enthält, jenes Schwebezustands inne zu werden.
Das Licht der alten Zeit strömt aus ihr in die heutige: nicht
um uns zu seinem Glanz zurückzulenken/sondern um unsere
Finsternis gerade soweit aufzuhellen, oaß wir den nächsten
Schritt zu tun vermögen.
Sind wir seiner überhaupt fähig? „Unsere Generation ist
vielleicht verloren . - ."/heißt es/in den „Forschungen eines
Hundes". Dieses schwache Vielleicht läßt eine Spur von Hoff
nung. Bei ihrer näheren Bestimmung verrät Kafka eine Un
sicherheit, die genau dem unermeßlichen Abstand vom wahren
Wort entspracht und der Sicherheit entgegengesetzt ist, mit der
die Reflexionen der teuflischen Vernünftigleit austreten und
ausgleiten. Wie er den Fortschritt weder anerkennt noch ganz
verwirft, ebenso zweideutig verkoppelt er Ferne und Nähe.
„Der wahre Weg geht über ein Seil, das nicht in der Höhe
gespannt ist, sondern knapp über dem Boden. Es scheint mehr
bestimmt stolpern zu machen, als begangen zu werden." Mit
der Auffassung, daß die gesuchte Lösung unerreichbar und doch
zugleich hier und jetzt erreichbar sei, berührt sich der Aphoris
mus, der das Jüngste Gericht als ein SLandrecht begreift.
Er ist in den Oktavheften aus der Zeit 1917 bis 1919 ver
zeichnet, in denen sich auch der meines Wissens einzige Hin
weis Kafkas auf das Ereignis der Revolution findet: „Der
entscheidende Augenblick der menschlichen Entwicklung ist
immerwährend. Darum sind die revolutionären geistigen Be-
Iran; Kafkas nachgelassene Schriften.
Von S. Krseauee.