Wöbet auf Weisen
Damen und außer dem Reichsbankpräsidenten bestimmt noch eine
Anzahl anderer Prominenter — vor diesem Auditorium hielt
Albert Einstein einen Vortrag, den er: „Amüsantes aus
der Physik" betitelt hatte. Es war ganz reizend, und niemand
wäre so leicht auf. den Gedanken gekommen, daß hier der Ent
decker der allgemeinen Relativitätstheorie oder gar ein Universi
tätsprofessor vor der Schiefertafel stand und mit dem Schwamm
hantierte. Er dozierte nicht und er gebrauchte auch keine Formeln;
er sprach wie ein guter Onkel, der den Kindern Märchen erzählt.
In eine Kinderschar — freilich nicht in eine notleidende — ver
wandelte sich aber das Publikum nicht nur darum, weil Einstein
von vornherein annahm, daß es „physikalisch unschuldig" sei,
sondern auch dank der freundlichen und charmanten Art, in der
er der geringen Verständniskraft der Hörer entgegenkam. Ich er
innere mich der physikalischen Märchen: „Seifenblasen" von Kurd
Laßwitz, die ich vor vielen Jahren mit großem Genuß gelesen
habe. Wurden aber dort Utopien und Wunder gewissermaßen als
natürliche Vorgänge beschrieben, so verlieh Einstein umgekehrt
diesen den Charakter des Wunderbaren. Woher rührt es, daß am
Abend häufig eine dem Segler unangenehme Tendenz Zur Wind
stille eintritt? Wie erklärt sich die Möglichkeit des Fliegens und
wie die Wogenbewegung? Oder auch: aus welchem Grund ist
trockener Sand weich, Sand im Wasser ein schmieriger Brei und
Sand, auf den es geregnet hat, hart? Alle diese Tatsachen und
Ereignisse, die man gewöhnlich im blinden Vertrauen auf die
Naturgesetze einfach hinnimmt, wurden zunächst in ein frag
würdiges Licht gerückt, so daß man unwillkürlich um den Fort
bestand ihrer Existenz zitterte, und dann mit einer Sicherheit neu
erschaffen, die jeden Zweifel an ihnen benahm. Das war nicht
der Sand mehr, auf den man bisher gedankenlos getreten hatte;
das war ein innerlich durchleuchteter Sand, von dem man nun
ein für allemal weiß, daß er seine Mission getreulich erfüllt. Und
hätte Einstein diesem Sand selbst Aufgaben Zugewiesen, denen
er noch niemals nachgekommen ist: ich bin fest überzeugt davon,
daß er sie von jetzt an hätte übernehmen müssen. Denn die Er
läuterungen, zu denen Einstein ausholte, waren so bezwingend
wie die Argumente der Märchenvernunft, und hätten sie sich gleich
dieser unversehens von der Wirklichkeit entfernt: der Wirklichkeit
wäre nichts anderes übrig geblieben, als ihnen Folge zu leisten.
Nach dem Vortrag gab es noch einen Tee zum Besten der
notleidenden Kinder. Vor dem Harnackhaus standen die Autos in
langer Reihe. 8. Lraeauer.
los in die Höhe, Klaviere, deren Politur abgeschabt ist, verlieren
durch die Konfrontation mit den kahlen Hausfaffaden den letzten
inneren Halt, und die Fruchtkränze am Nachtkästchen, die hold
selig sein sollen, lächeln blöd und verwirrt. Leerer Schmuck einer
endgültig abgelaufenen Zeit: hier, an der Schwelle seines kommen
den Bestimmungsortes, wird er ohne Erbarmen entzaubert.
Ob die Stuhlbeine, die Platten, die Füllungen und Säulchen
je wieder zu richtigen Möbeln gedeihen? Sie ziehen in Zimmer
ein, die kleiner sind als die Preisgegebenen, und gleich über ihnen
beginnt schon die Decke. Ich fürchte, daß sie fortan mit den
Quadratzentimetern genau so rechnen müssen wie ihre Besitzer
mit den Pfennigen, und die Zeit des Glanzes unwiderruflich für
sie dahin ist. Z. Lraeauer.
Berlin, 1. Oktober.
Am heutigen Lag hat in Berlin eine wahre Völkerwanderung
der Möbel eingesetzt, es ist, als führen sie ins Weekend hinaus.
Vor allem in den Großwohnungen des Westens und in den
Grunewaldvillen hat sie die Unruhe gepackt. Dort standen sie lange
Jahre so sicher, als seien sie mit den Zimmerfluchten und Dielen
verwachsen und rührten sich nicht. Jetzt aber sind sie, durch die
Krise aufgescheucht- zu richtigen Wandermöbeln geworden, in denen
allerdings nicht der Frühling juckt, sondern der Herbst.
Zur Bewältigung ihres Ansturms hat man wie in den Tagen
der Mobilmachung sämtliche 'Verkehrswerkzeuge requiriert, die es
nur irgend gibt. Ich schweige von den großen Möbelwagen, die
gestern abend schon leer und düster in vielen Straßen standen und
das Signal des Aufbruchs erwarteten. Sie sind zwar geräumig,
aber sie reichen für die zehntausend Einrichtungen nicht aus, die
mit einem Schlag ihre heimische Scholle verlassen. So ist denn die
ganze rollende Reserve angerückt, eine Ersatzarmee auf Rädern,
die noch die ältesten Jahrgänge von Lieferwagen, Kohlenfuhr-
werken und Gemüsekarren umfaßt.
Geduldig harren sie vor den offenen Haustüren und lassen
sich übermäßig beladen. Stück für Stück wird der Hausrat heraus
geschleppt, ein Prozeß der Ablösung, der äußerst schmerzlich sein
muß. Da hat das Büfett seit unvordenklicher Zeit neben dem
Diwan gestanden und findet sich nun auf einmal mutterseelen
allein in einer ungewohnten Umgebung. Schutzlos dem Tageslicht
preisgegeben, gerät es in die gemischte Gesellschaft der Küchen-
schränke und Betten, die es kaum von Ansehen her kennt. Kräftige
Seile umschnüren die ausgehobene Herrlichkeit, und dann be
wegen sich die Vehikel, von pensionierten Schlachtrössern gezogen,
ächzend der ungewissen Zukunft entgegen. Hinter ihnen aber
wehen in verlassenen Zimmern, die vielleicht nie wieder bewohnt
werden, Tapetenfetzen wie Trauerfahnen von den Wänden herab.
Nach stundenlanger Fahrt treffen die Möbel endlich am Ziel
der Wanderung ein. Weit draußen in einer- Vorortstraße bleibt
ihr Beförderungsmittel mit einem Ruck stehen, und da nichts
weiter erfolgt, kampieren sie einstweilen im Freien. Sie warten,
und während des Wartens angesichts der neuen Behausung ent
hüllen sich alle ihre Gebrechen. Das sind keine Möbel mehr, das
ist altes Sack und Pack. Gedrechselte Säulchen schrauben sich sinn
Berlin, Ende September.
Studenten diskutieren.
Vor einigen Tagen diskutierten zwei Studenten im Ber
liner Rundfunk unter Leitung von Pros. Otto Hoetzsch
über die aktuelle Frage der Arbeitsdienstpflicht. „Es wird wertvoll
sein", so stand in der Progvammnotiz, ,Mch die studentischen Auf
fassungen über das Problem kennen zu lernen". Nun, man erfuhr
weniger die studentischen Auffassungen, die es vielleicht gar nicht
gibt, als die Standpunkte der Parteien, denen die beiden Sprecher
angehören. Der eine ist Fungdomann, der andere Sozialdemokrat,
und den bekannten Parteiprogrammen entsprachen denn auch die
bekannten Argumente, mit denen sie sich bekämpften. Nachdem sie
sich über die Ablehnung jedes Zwanges einE geworden waren, er
wogen sie zunächst konkret das Für und Wider; wobei der Jung
deutsche den Siedlungsgedanken verteidigte, während sein Gesprächs
partner die Partei seiner Partei ergriff und die Verwirklichung der
Gewerkschaftsforderungen (40 Stundenwoche und 9. Schuljahr)
empfahl. Der Dialog schraubte sich, wie es in Deutschland meistens
geschieht, zu weltanschaulichen Höhen empor, und am Ende stand
der Idee eines auf Selbstverwaltung gegründeten Volksstaates die
der sozialistischen Planwirtschaft gegenüber. Doch es handelt sich
hier nicht um die Auseinandersetzung mit den politischen Zielen,
sondern um die Veranstaltung selber. Sie war insofern gelungen,
als man nicht den Eindruck hatte, daß die Debatte nach einem ge
nau ausgearbeiteten Manuskript verlaufe. Die Unterhaltung wurde
gewissermaßen frisch vom Faß verzapft und vollzog sich so spotan,
als seien nicht einmal unsichtbare Hörer zugegen. Wahrscheinlich
sind überhaupt diese studentischen Rundfunkdiskussionen für die
Redner wichtiger als für das Publikum. Die Studenten werden
durch den begrenzten Termin Zur Schlagfertigkeit erzogen und
schulen sich in der halben Oeffentlichkeit des Rundfunkraums für
die ganze. Der einigermaßen kundige Hörer lernt zwar aus solchen
Gesprächen nicht viel hinzu, überzeugt sich aber gerne wieder einmal
davon, daß die Weitergabe des Wissens reibungslos funktioniert
und Verstand und Unverstand so bald nicht aussterben werden.
Einstein plaudert über Physik.
Im Harnackhaus fand zum Besten notleidender Kinder eine
Veranstaltung des Vereins Jugendheim Charlottenburg statt, die
wahrscheinlich nicht so sehr der Kinder als des Redners wegen
sehr gut besucht war. Mädchen und nochmals Mädchen, viele
Außerhakö der MmverstM