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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

III. 
Die „Tat" kehrt den kritisierten Zuständen den Rücken. 
Belangt sie über die Kritik hinausK Vermag sie jene sub 
stantielle Wirklichkeit zu bewähren, auf die ihre Grundbegriffe 
abzielen? 
Diese Fragen sind zu verneinen. Denn die Art und Weise, 
in der die Mitarbeiter der „Tat" fortwährend Volk, Staat, 
Mythos usw. im Munde führen, beweist bündig, daß es sich 
hier weniger um erfahrene Gehalte als um ersehnte handelt. 
Die Gehalte werden — das verrät der Gebrauch, der von ihnen 
gemacht wird -- nicht vorausgesetzt, sondern gefordert; man 
kommt nicht von ihnen her, man möchte zu ihnen hin. Mit 
anderen Worten: die Wirklichkeit, die der „Tat" am Herzen 
liegt, ist gar nicht vorhanden, es sei denn als Ziel. Nun hat 
aber die Rede von Substanzen nur dann einen Sinn, wenn 
sie als seiend enthüllt werden. Sie zu proklamieren wie irgend 
einen durch die bloße Willensanstrengung zu realisierenden 
Plan, heißt eine Forderung aufstellen, der von vornherein der 
Stempel der Unerfüllbarkeit aufgedrückt ist. Ein Gehalt existiert 
oder existiert nicht. Wer den Begriff von ihm verwendet, ohne 
ihn selber zu haben, gewinnt ihn nicht durch den Begriff, zeigt 
vielmehr etwas ganz anderes damit an. Dies: daß der Be 
griff eine pure Reaktion ist. Alle positiv geladenen Begriffe 
der „Tat" sind kaum mehr als Reaktionen auf das negativ ge- 
wertete System, das von ihr unter dem Sammelnamen Libera 
lismus zusammengefaßt wird. Sie sind recht eigentlich irreal, 
das heißt, sie treffen nicht die Realität, die ja bereits existieren 
müßte, um rechtmäßig angesprochen werden zu können. Und die 
ganze Bedeutung dieser Begriffe erschöpft sich darin, Symptome 
einer Gegenbewegung zu sein, die man zweifellos als roman 
tisch bezeichnen darf. 
Es zeugt von einer gewissen Besonnenheit, daß der Tat 
Kreis sich nicht auf das Erscheinen eines Führers verläßt, son 
dern für alle Fälle mit den Gestaltungskräften einer geistigen 
Elite rechnet, an deren Vorhandensein er glaubt. Die Ver 
mutung liegt nahe, daß er vor allem sich selber zu der von ihm 
gewünschten Elite zählt, und er ist ja auch wirklich eine Auslese 
deutscher Jugend. Immerhin steht er nicht davon ab, den even-^ 
tuellen Führer schon jetzt zu verherrlichen. „Die Sehnsucht nach 
diesem Einzelnen", träumt Zehrer vom Erwarteten, „ist im 
Volk seit über einem Jahrzehnt vorhanden. Wir wollen uns 
doch nichts vormachen: wenn das erste scharfe, aber gerechte 
Kommandowort eines wirklich persönlichen Willens in das 
deutsche Volk hineinfahren würde, würde sich dieses Volk for 
mieren und zusammenschließen. . . und es würde befreit auf 
atmen, weil es den Weg wieder wissen würde." Es wird sicher 
nichts von alledem tun, weil und solange sich guter politischer 
Wille in der Sehnsucht nach dem Führer entlädt. Dessen Kommen 
und Bleiben ist einzig und allein an die richtige und konstruk 
tive Erkenntnis der Situation geknüpft, und er verschwindet 
wieder, wenn er sich rein auf sein Führertum stützt, ohne die 
Situation zu durchschauen (Clemenceau, Lloyd George usw.j. 
Statt nun nach Möglichkeit die Bedingung zu realisieren, unter 
denen ein Führer überhaupt auftreten kann, glorifiziert Zehrer 
im voraus den Führer als solchen. Eine viel verbreiNe Ein-! 
erlaubt, daß der Mythos national sein müsse. Auf diese Not 
wendigkeit weist unzweideutig die Erklärung hin, daß es die 
Aufgabe der Zukunft sei, „eine neue Volksgemeinschaft zu schaf 
fen unter dem Mythos einer neuen Nation". 
^olk, Staat, Mythos — diese geschlossen zusammenhängen« 
den Begriffe meinen eine substantielle Wirklichkeit. Dadurch, daß 
,,^at auf sib ausrichtet, ist sie auch zu einer substan 
tiellen Kritik an den herrschenden Verhältnissen befähigt ja 
sie wendet sich von dem Bestehenden überhaupt nur darum ab, 
weil es m wesentlicher Hinsicht unerträglich ist. Der Einfluß 
den sich der Tat-Kreis erworben hat, beruht - das scheint mir 
EU Zweifel zu dulden - nicht zuletzt auf dieser seiner Zeit 
kritik Wie es bei der hier gekennzeichneten Haltung nicht anders 
sein kann, trifft sie vor allem die Substanzarmut, die sich unter 
dem gegenwärtigen Regime breit macht. Ich lasse dahingestellt 
ob man zu ihrem Ausweis gerade von dem Generalnenner der 
genannten Begriffe ausgehen müsse oder nicht mindestens 
ebenso gut daran täte, von anderen Begriffen, dem der Klasse 
etwa, zu starten. Wichtig allein ist zunächst, daß die Tat" 
mit Hilfe der von ihr verwandten Kategorien entscheidende Ge 
brechen zu diagnostizieren vermag. Und zwar denke ich nicht nur 
' an Fried, der höchst gewaltsam freilich die heutigen Zerrformen 
kapitalistischen Wirtschaftens in seine Alfresco-Gemälde zwingt,! 
sondern auch an Aeußerungen von kleineren Dimensionen, die in 
den Kern der Zustände vorstoßen. Sie stellen zum Beispiel 
entgegen der vulgären, allzu Optimistischen Meinung den Be 
rufsgedanken richtig, entlarven die Mächte, die sich im Schutz 
der föderalistischen Kulisse ausleben, und analysieren stimmig 
die Situation einiger Parteien. Am tiefsten greift wohl der 
immerwährende Protest der „Tat" gegen das ungebundene 
Denken. Allerdings schadet sie ihrer eigenen Sache damit, daß 
sie häufig entgleist und den Kampf unter falscher Flagge führt. 
Wie leichtfertig konstruiert sie die Behauptung, daß es der 
jüdischen Intelligenz an konstruktiver Begabung ermangele; wie 
hämisch, nichts weiter als hämisch ist der folgende Satz: „Ein 
stein, das Reklamegenie der Bescheidenheit, tapert unentwegt 
durch diese Welt und kämpft mit der Waffe der Relativitäts 
theoriefür Kriegsdienstverweigerung und Zionismus". Zu sol 
chen Verfehlungen, die einer ernsten Zeitschrift unwürdig sind, 
kommt die andauernde Verwechslung jenes Denkens mit der 
„Liberalistischen Vernunft" oder gar der Vernunft schlechthin, 
mit der es schon gar nichts gemein hat. Die „Tat"-Sprache, 
für die Zehrer im voraus auf mildernde Umstände plädiert, 
ist nicht hilflos, sondern ungenau, und nur undeutlich schim 
mert durch den von ihr erzeugten Nebel das eigentliche An 
griffsziel durch. Es ist die Ratio, die ihren Ursprung ver 
leugnet und keine Grenze mehr kennt; zum Unterschied von der 
Vernunft im allgemeinen und der „liberalistischen" im beson 
deren, die ja schließlich am Humanitätsglauben ihre Stütze 
hat. Diese entfesselte Ratio, die auch keineswegs ohne weiteres 
als Intellekt angesprochen werden darf, ist so wenig Vernunft, 
daß sie vielmehr, einem Naturdämon gleich, das Vernünftige 
übermannt. Und gerade die Machtlosigkeit der Vernunft er 
laubt ihr, heute so ungezügelt zu walten. Sie, die blinde Ratio, 
gibt der Profitgier ihre Transaktionen ein; sie bedingt die Un- 
verantwortlichkeit einer gewissen Journaille; sie trägt die Schuld 
an der Ueberstürzung des Rationalisterungsprozesses und an 
allen jenen Kalküls einer entarteten Wirtschaft, die sämtliche 
Faktoren berücksichtigen, nur nicht den Menschen. Wie sie be 
sinnungslos eine technische Apparatur geschaffen hat, vor der 
wir wie der Zauberlehrling stehen, der die heraufbeschworenen 
Elemente nicht bannen kann, so hat sie auch die Bindungen 
Zersetzt, die den Zusammenhalt der bisherigen Gesellschaft ge 
währleisten. Welche, furchtbaren Folgen der durch sie bewirkte 
Zerfall zumal für^die Mittelschichten nach sich zieht, ist in 
meinem Buch : „Die Angestellten" darzustellen versucht worden. 
Er entsubstantialisiert diese Schichten, die nun nichts mehr 
über sich haben als die verbindliche Neutralität des gehaltlosen 
Denkens. In seine Stummheit flüchtet sich das schwer er 
schütterte ökonomische und soziale System, dem wir zur Zeit 
unterstehen. 
stellung, die ersichtlich der Abneigung gegen den Parlamentaris 
mus der liberalen Demokratie entspringt, aber mcht das ge 
ringste bewirkt. Im Gegenteil! Dadurch, daß man ßch m 
Hymnen auf den Führer ausgibt, ehe er noch da ist unterlaßt 
man es gerade, ihm den Weg zu bereiten, und fallt allenfalls 
Abenteurern zur Beute. Die Erwartung des Führers zieht ihn 
nicht herbei, sie verhindert sein Nahen. Es zu erleichtern ver 
möchte höchstens die stete Frage nach dem, was notwendig zu 
geschehen hätte. Und Anwartschaft daraus, als Bild ms Be 
wußtsein des Volkes zw treten, hat nicht der erwartete, Andern 
erst der erschienene Führer. Das mit einer Gloriole umwobene 
Bild Lenins ist Ende und nicht Beginn der Führerlaufbahn, ist 
die Folge eines auf Erkenntnis gegründeten Verhaltens. 
Auch der Begriff vom Mythos, in dessen Zeichen sich das 
neue Staatsvolk bilden soll, ist ein unkräftiger Gegenbegriss. 
Der Auflehnung wider den denaturierten Liberalismus ein 
förmigen, möchte er an die Stelle der Vernunft, die angeblich 
versagt hat, eine wirksamere Macht setzen. Aber der Mythos 
läßt sich nicht setzen. Er ist, Bachosen zufolge, „nichts anderes 
als die Darstellung der Volkserlebnisse im Lichte des religiösen 
Glaubens". Oder wie Carl Albrecht Bernoulli in den Er 
läuterungen zu seiner Bachosen-Ausgabe bemerkt: „Mythos 
hat Geltung oder nicht Geltung, je nachdem er sich in uns wirk 
sam erweist oder nicht. Jedenfalls ,ist' er oder er ,ist nicht gemäß 
unserer Gefühlswelt..." Dem widerspricht nur scheinbar die 
Rede Mussolinis vor dem Marsch nach Rom, in der er dem 
Fascismus das Verdienst zufchreibt, den Mythos der Nation 
geschaffen zu haben; wenn auch Carl Schmitt, der diese 
Stelle der Rede in seinem Buch: „Die geistesgeWchtliche 
Lage des heutigen Parlamentarismus" nicht ohne Sympathie 
zitiert, die mit ihr verbundenen Ereignisse „ein Beispiel sür 
die irrationale Kraft des nationalen Mythus" nennt. Es wäre 
erst noch zu prüfen, bis zu welchem Grade der sogenannte 
fascistische Mythos nicht einfach der ideologische Ueberbau be 
stimmter materieller und sozialer Verhältnisse ist und ob er 
! überhaupt aus eigener irrationaler Kraft bestehen könnte. 
Zehrer verrät einmal unfreiwilligerweise selber, wie schwach 
das Fundament ist, auf dem das Mythos-Programm des Tat 
Kreises ruht. Er sagt vom Kommunismus: „Allerdings darf 
man seine Position auch nicht unterschätzen; er besitzt einen 
Mythos, der... unabhängig von dem ist, was er an Theorie 
enthält und lediglich zur Sammlung der Massen und zur 
Machtergreifung dient: das vermeintliche Vorbild Rußlands." 
Um ganz von der Frivolität abzusehen, mit der vom Anbeter 
des Irrationalen die Beziehung zwischen Theorie und späterer 
Praxis, zwischen Parole und Erfüllung vergleichgültigt wird, 
so ist hier zu fragen, welchem Umstand der Kommunismus 
seinen Mythos verdankt. Antwort: eben der von Zehrer ver 
achteten Theorie. Nur kraft ihrer theoretischen Einsichten ist 
es den russischen Kommunisten gelungen, aus Rußland das 
zu machen, was der Tat-Kreis, nicht aber der Kommunismus 
-WA-W-MWhWMÄ MM Mch, wie Carl 
Schmitt in feinem erwähnten Buch im Einklang mit Sorel 
erklärt, die nationalen Energien den Sieg der russischen Re 
volution bedingt haben, so sind doch nicht sie angesprochen 
worden, sondern gemeint war und ist der Sozialismus. 
Woraus hervorgeht, daß sogar heute noch vielleicht ein Mythos
	        
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