Skip to main content

Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.11/Klebemappe 1932 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

/ 
Zwei große Iitm Kremieren. 
Berlin- Ende Dezember. 
Asts Nielsen. 
Viele Jahrs hindurch ist Asts Welsen nicht mehr auf der Lein» 
wand erschienen. Sie, die den stummen Film zum Rang einer 
Kunstgattung erhoben und eine Reihe unvergeßlicher Gestalten ge 
schaffen hatte, war schon von der Bildfläche verschwunden gewesen, 
ehe der Lonflim einzusetzen begann. Woher dieser Plötzliche Ab 
gang? Schuld an ihm trugen, wie ich in meinem Artikel: „Asts 
Nielsen und die Filmbranche" (vergl. Reichsausgabe vom 18. April 
19Z1) dargelegt habe, nicht so sehe gewisse, aus den sozialen Um 
schichtungen zu erklärende Wandlungen des Zeitgeschmacks, als die 
hartnäckigen und unbegründeten Widerstände, die sich in den Kreisen 
der WlmproduMon und des Filmverleihs gegen die Künstlerin 
regten. Um so weniger kannte das Verlangen nach einer Kunst 
verstummen, die durch die bisherige Entwicklung des Tonfilms 
wahrhaftig nicht aus der Erinnerung verdrängt worden war. 
Die Berechtigung dieses in der Öffentlichkeit wieder und wie 
der geäußerten Verlangens hat der nach einem Roman Schirokauers 
gedrehte Ulm: „Unmögliche Liebe" jetzt glänzend erwiesen, 
Asts Nielsen spielt in ihm eine alternde Bildhauern, die trotz ihrer 
zwei erwachsenen Töchter auf das eigene Leben nicht verzichten 
will. Sie liebt einen berühmten Bildhauer, gerät dadurch in einen 
Konflikt mit den Mädchen, die sich benachteiligt glauben, und resig 
niert spätem Ich erwähne nur M daß die Durchführung dieser 
Fabel älteren Stils an sich nicht eben zu fesseln vermag. Sie be« 
- handelt den Stoff auf konventionelle Weise, benutzt an entscheiden. 
der Stelle eine Jrrenhausszene, die uns besser erspart geblieben 
wäre, und mündet in einen 
Aber gleichviel, der Film gibt doch Asta Nielsen die Möglich, 
kelt, alle Zweifler schlagend und endgültig zu widerlegen. So groß 
ist ihre Kunst, daß sie sich in einer veränderten Zeit ungemindert 
behauptet. Nicht zuletzt dank der Stimme, deren schmiegsame 
Herbheit sich den verschiedenen Situationen leicht anpaßt und 
mit dem Gesamtspiel wie selbstverständlich zusammenwächst. Ge 
rade das Ineinander von Sprache und Mimik ist Frau Nielsen 
wunderbar gelungen, Sie läßt den stummen Auftritten viel Raum; 
so daß die Aussage nicht eigentlich durch die Gebärde unterstützt 
wird, sondern dieser jeweils das Wort entspringt. Noch kaum je ist 
die Sprache so filmgerecht eingesetzt worden. Hinzu kommt die 
Meisterung des Mimischen selber. Schon beim ersten Erscheinen 
der Nielsen ist die ganze Figur fix und fertig vorhanden. Man weiß: 
diese Bildhauers W sich ihre Existenz selber geschaffen, sie lebt 
zwischen den Milieus einer geregelten Bürgerlichkeit und einer 
freizügigeren Bohöme (die ebenso bürgerlich ist), sie möchte ihre 
mütterlichen Pflichten nicht vernachlässigen und doch noch einmal 
jung und unbeladen sein usw. Das alles weiß man, ehe ein Wort 
fällt. Eine Kraft des Ausdrucks, die auch die DurchgangZPaflagen 
erfüllt und sich in den großen Szenen hinreißend steigert. Der tra 
gische Grundton, den man von früheren Rollen der Nielsen her 
kennt, ist das düstere Lokalkolorit, in das alle mimischen Nuancen 
getaucht sind. Vielleicht hätte er manchmal zugunsten hellerer Töne 
ein wenig verblassen sollen. Infolge seiner Herrschaft kann zum 
Beispiel das Glück nicht frei ausschwingen, das die Bildhauerin 
über den Rowpreis empfindet, und auch ihre Liebe klingt nur ge 
dämpft. Die straffe Führung jedoch, die längere Abschweifungen 
ausschließt, duldet auf der anderen Seite nicht selten kurze Unter 
brechungen des Zinienzugs, die für seine Strenge voll entschädigen. 
Eine herrliche Enklave ist etwa das Lächeln der Schelmerei, das 
manchmal durchs GevM dringt und sofort den strahlenden Himmel 
hervorzanbert. 
Erich Waschnek hat den Film stüssig ünd mit dem hier an 
gebrachten psychologischen Verständnis inszeniert. Seine Stärke 
scheint der Sinn für die Eigentümlichkeiten der Darsteller zu sein. 
Wie er der Kunst Frau Nielsens zu bedeutenden Wirkungen ver- 
HM, so verfeinert er das Spiel Poin^ und läßt Ellen 
Schwannecke gewähren. Diese junge Künstlerin hat nicht nur 
jenen seltenen Charme, der aus einer aufrichtigen Natur kommt, 
sie verfügt auch über mehr als eine Dimension. Ihr Backfischlachen 
steckt an, ihr Schluchzen ist von rührender UnM ihr 
Wesen wird von reinen Empfindungen durchwaltet. Sie ist insofern 
eine Ausnahme, als ihr das Seelenschmalz fehlt, das in zahllosen 
anderen Fällen die Begegnungen zwischen Ernst und Heiterkeit ver 
hindert. 
Asta Nielsen wurde bei der Premiere mit begeisterten Ovationen 
begrüßt. Sie steht nun vor einem zweiten Beginn, Und es gäbe 
repräsentative Figuren genug, die nur durch ihre Kunst erweckt 
werden könnten. 
Technik und Menschen. 
Die Ufa hat uns zu Weihnachten mit dem langerwarteten 
Großfilm: „P. ?. 1 antwortet nicht" beschert, der seines 
sensationellen Inhalts wegen vermutlich die Millionen wieder 
Einbringen wird, die er gekostet hat. Worin besteht die Sensation, 
die er bietet? In der Vorwegnahme eines technischen Riesen- i 
Projekts^ dessen Verwirklichung man heute tatsächlich ernsthaft« 
erwägt. Wie ich in meinem Artikel: I auf der Insel Oie" I 
fallen, zu dem sich das verborgene Gesinde! verdichtet. Weder 
er eW Spur von Menschenähnlichkeit, noch auch gleicht er sonst 
emer bekannten Kreatur. Seine Gliedmaßen sind Garnspulen und 
-rollen, und das ganze Gestell wird von einem Seidenstern ge 
krönt. Wehe, wenn ihn einer abwickelte. Dann verschwände die 
drollige Schrecklichkmt, und das Fadenmännchen wirkte zu unserem 
Verderben wieder hinter den Kulissen. 
MMn unter diesen müßigen Artikeln machen sich Seifen, 
Krawatten, Parfümerien, Schals und andere handfeste Warm 
breit, die sich über ihre nichtsnutzige Nachbarschaft erhaben dünken. 
Sie liegen in Koffern zur Schau, die so billig sind wie sie selber,' 
und fordern seriöse Beachtung. Aber wenn sie such noch ss wichtig 
tun, gehören sie darum doch nicht minder zur Bagage ringsum. 
Man hat sie aus den Geschäften vertrieben, und nun führen sie in 
der Budenstadt dieselbe Vagabundenexistenz wie das übrige Ge 
lichter und die Verkäufer an Ständen und Tischen. Der Spuk aus 
Erdspalten und Möbeln verträgt sich ohne Schwierigkeit mit den 
Ausschußprodukten der Gesellschaft. Nicht umsonst drohen die Ge 
sichter mancher Arbeitslosen, die hier für einige Tage einen Ver 
dienst gefunden haben, ganz zu vergehen und dem Fadenmännchen 
Zu folgen. Hinter einem Tannenwaldbündel sitzt ein Bettler der 
sich ausdrücklich als einen „Zivilblinden" bezeichnet. Er bringt auf 
feinem Harmonium Melodien hervor, die das Hennengegäcker und 
die Flötenimitation übertönen. Sie werden erst dann lustig 
klingen, wenn alle diese lebensgroßen Elendsfigurm klein ge 
worden sind wie die springenden Püppchen, mit denen wir spielen. 
1-fL) V- L 
iV - 7^ 
Muchausstessungen in Merlin. 
^)ie deutsche Gesellschaft zum Studium Ost 
euro ps schutvo^^ in ihren Räumen eine sehr lehr ¬ 
reiche Ausstellung: ',Die schöne Literatur in der 
Sowjet-U nis n" veranstaltet. Diese Schau sucht am Beispiel 
der ins Deutsche übersetzten Sowjetliteratm nicht nur einen 
Querschnitt durch die sowjetruffische Belletristik, .sondern auch 
eine Einführung in das/Verständnis d^ 
Zu geben. Bilder und Karikaturen der bedeutendsten Autoren so 
wie Angaben Wer ihr Leben und ihre Arbeiten vervollständigen 
Las Bild- Jn dieseM Zusammenhang sei auch, auf das „soeben er 
schienene 'Werk' der Gesellschaft:- -,D i e Sü wj et -Unio n 
1. 917 — 19 32" hingewiesen, das eine systematische und mit 
Kommentaren versehene BMiogräMe der wichtigsten deutsH- 
fptachigen Bücher und Aufsätze über die Sowjet-Union enthält. 
Einen ausgezeichneten Ueberblick über den Stand des Prole 
tarischen Bü^ Ausstellung: „Di e W elt v o n h e u te 
und morgen" an der sich außer den bekannten Verlagen für 
Arbeiterliteratur auch die Verlage S. Fischer, Rawohlt, Kiepen» 
Heuer usw. beteiligt haben. Sie ist unweit des MittelmaM un 
tergebracht und stellt in sinnfälligen Arrangements die gesamte 
einschlägige Literatur zur Schau. Man erfährt in ihr,z. B., daß 
dieser Lage der I. Band des „Kapital", dem der II. und III. bald 
folgen werden, in einer Volksausgabe erscheint, die an Billigkeit 
ihresgleichen sucht. Die Jahrgänge der Zeitschrift: ,/Unter dem 
Banner des Marxismus", von der das eine oder andere Heft nicht 
mehr erhältlich ist, sind dort vollständig zu haben. Natürlich fehlt 
auch die bekannte und unbekanntere RüßlandliLevaLur nicht, deren 
Romane und Reportagen sich mit dem theoretischen Schrifttum 
vermischen. Nur die Werke Trohkis scheinen sogar in diesem Kreis 
das Schicksal ihres Verfassers teilen sie doch nir ¬ 
gends Zu sehen. Die Ausstellung soll noch den Januar über ge 
öffnet bleiben, K r.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.