93
$
M
daß man jede Russin für drei Paar Seidenstrümpfe
—94
maßen von sich aus jene tragikomischen Effekte,’
deren das Buch voll ist. Der Mietshausblock, dessen
Bewohner sich vor der Toilette drängen, die Wand
zeitung der Kindergruppe Budjonny, die Tante, die
aus unerfindlichen Gründen auf den Zehenspitzen
steht: das alles ruft Gelächter hervor und ist doch
Wichtig erscheint mir der Roman vor allem in
sofern, als er zu zeigen versucht, daß der gebildete
Mittelstand auch darum zugrunde geht, weil er
sich selber zersetzt. Der Held des Romans,
ein Ingenieur Kisljakow, der eine Anstellung im
Moskauer Zentralmuseum gefunden hat, ist ein er
bärmlicher Wicht, dem es nur noch auf die Er
haltung seiner Existenz ankommt. Gesinnungslos
paßt er sich den Wünschen des neuen kommunisti
schen Museumsdirektors an und läßt ihn im Stich,
sobald er von den Jungkommunisten abgesägt wird.
Nichtso, als ob dieser Kisljakow ein Streber wäre';
aber er ist ohne Halt und daher zum Ueberläufer
verdammt. Solche Figuren, die auch Dostojewski
gezeichnet hat, waren sicher typisch für den un-
revolutionären Teil der rusischen Intelligenz, der
Ordnung, flüchtet in die Religion und verzehrt sich
innerlich. Die Hauptenttäuschung bereitet ihm
seine Frau Tamara, die offenbar eine Uebergangs-
erseheinung darstellt, ; Statt Wie ihr Mann den
überkommenen Sitten treu zu bleiben, stürzt sie.
sich ins freie Leben, verführt den 1 schwachen Kis-
Ijakow, der nicht will und dann doch will, und
schläft im, Interesse ihrer Filmlauf bahn noch mit
verschiedenen anderen Leuten. Nachdem sie auf
diese Art und Weise die zynische? Behauptung
eines ausländischen Regisseurs bewahrheitet hat,
Der Roman: „Drei Paar Seiden- „Eis chbein streckt die Was fen", das mit dem Ro-
Untergang der Gebildeten in Rußland.
Von S. Kracauer.
gewesen, sein. Die Gründe hierfür sind nicht
schwer zu erraten. Zunächst berichtet der Roman
vom Schicksal der gebildeten russischen
Mittelschicht, das die gleichen Schichten an
derer Länder natürlich besonders stark berührt.
Dann ist er das Produkt einer gut geschulten Er
zählerkunst und einer Anschauungskraft, der sich
. weder zartere seelische Vorgänge noch die robusten
Fakten, der Außenwelt versagen. Beide Reihen von
Ereignissen greifen unaufhörlich ineinander, und
der Zwang, ihr Gemisch zu vergegenwärtigen, be
stimmt den Autor zu einer Darstellungsweise, die
sich am ehesten als komischer Realismus bezeich-
neu läßt. Mit ihrer Hilfe gelingt es, den Auf
lösungsprozeß, dem die bürgerliche- Intelligenz in
Sowjetrußland unterliegt, vielseitig zu beleuchten.
Grauen und Lächerlichkeit sind in diesem Prozeß
• Eine entwurzelte Gesellschaft, die nicht mehr aus
und ein weiß und. von. der ins Rollen gekommenen
Lawine der Sowjetmacht allmählich erdrückt wird.
Die Schilderungen, die Romanow von dem ungleichen
Alltagskampf zwischen Siägern Und Besiegten ent-
wirst, sind um so überzeugender, als er auch die
neuen Herren mit Kritik nicht verschont. Er ver
spottet die Kinderkollektive als Uebertreibungen der
Organisationssucht und' ist auch nicht gut auf die
Wichtigtuerei der Jungkommunisten zu sprechen.
Der Genosse Museumsdirektor, der das Museum vor
trefflich umgestaltet hat. wird von der jungkommu
nistischen Zelle dieses Instituts einzig und allein
aus dem Grunde vertrieben, weil er bei derReorga-
nisationsarbeit ohne ständige Fühlungnahme riit
der; Zelle vorgegangen sei. Sein despotisches Vor
halten erscheint nun in dem Roman —das aber ist
entscheidend — nicht etwa als ein schlimmes Ver
säumnis, sondern als ei zeitersparendes Handeln,
d äs- sich am Ende billigen ‘läßt, jedenfalls werden
.die Jungkommunisten, Spürbar satirisch traktiert,
und daß sie schließlich gerade Kisljakow zum ach-
foleerdes Direktors küren,, ist eine Pointe, die ihre
Zellen Weisheit nicht eben verherrlicht. ,
• Dennoch~ glaubt Romanow nicht, daß vorn ge
bildetenMittelstand noch je das Heil komme. Im
Gegenteil, er setzt ihn auf den Aussterbeetat, er
läßt ihn in der Gewißheit seines Unterganges ver
enden. „Die Zukunft/gehört einer anderen Rasse,"
sagt Arkadi zu Kisljakow auf den letzten Seiten, des
Buchs. „Verstehst du? Einer anderen Rasse... Die
Arbeiter sind doch eine andere. Rasse, die. nichts mit
uns- gemein hat! Ratten kann ich noch verjüngen,
aber einen Stand, der seinen inneren Halt verloren
hat, kann man nicht mehr verjüngen, das ist ausge-
daß man jede Russin für drei Paar Seidenstrümpfe schlössen.“ — Der Ohnmacht, die aus dieser Selbst-
kaufen könne, packt sie zuletzt der altmodische bezichtigung spricht, ist allerdings nicht mehr auf
Ekel vor sich selber an und sie bringt sich um. zuhelfen.
auch schrecklich. Schließlich mag der Autor die
ausländischen Sympathien noch dadurch gewonnen
haben, daß er, wie ja schon die von ihm verwandten
Stilmittel beweisen, seinen Standpunkt nicht offen
enthüllt. Er geißelt die neuen Machthaber nicht
minder als die Gebildeten, und obwohl er deren
Position preisgibt, bekennt er sich keineswegs en
thusiastisch zur Arbeiterregierung. Das reizende,
seinerzeit von mir besprochene Buch Roesmanns:
Strümpfe“ von Panteleimon Ro manow manows darin übereinstimmt, daß es die Lage tod-
(Universitas Deutsche Verlags-Aktiengesellschaft,. geweihter Schichten behandelt, hat sich besser vor
Berlin. 269 Seiten. Geb. N 6.50) soll außer in Mißverständnissen geschützt,
Rußland auch in England und Italien ein Erfolg
durch den Zarismus gekrümmt und verbogen wurde.
- . Der Nebenheld, ein gewisser Arkadi, ist nicht, so
unzertrennlich verbunden und fordern gewisser- geschmeidig 'wie sein Freund Kisljakow, sondern
' verzichtet auf Kompromisse'mit der neuen Staats-