DuLderlum und Keroismus.
Zu Zwei Filmen.
Besprochen von S. Krakauer.
Berlin, Anfang Februar.
Wichtiges Experiment.
Der Regisseur Paul Fejos, dessen Film: „Zwei junge
Herzen^ einer der schönsten stummen Filme ist, die je gedreht
worden sind, hat jetzt ein neues Werk inszeniert, das aus der Reihe
der Wichen Tonfilme völlig herausfällt. Es heißt „Marie" und
nennt sich selber eine Filmlegende. Diese Schöpfung ist unter
allen Umständen ein kühnes und für die Entwicklung der Gattung
wichtiges Experiment. Denn sie versucht nicht nur, den
Tonfilm Zum Kunstwerk Zu verdichten, sondern möchte ihm auch
die Jnternationalität des stummen Films zurückerobern.
Zu Grunde gelegt ist die ungarische Legende vorn Dienst
mädchen Alane, in der sich das Schicksal der geschundenen Kreatur
verkörpert. Marie wird geplagt wie Aschenputtel, verführt und
verlassen wie Gretchen und nach Eintritt der Schwangerschaft von
der ganzen Dorfgesellschaft verfemt. Nur die Insassen eines Freu
denhauses haben Erbarmen mit ihr. Hier kommt sie nieder, hier
verhätscheln alle Mädchen ihr Kind. Aber auf eine Denunziation
hin greift die Staatsgewalt ein und entreißt der armen Marie
das Töchterchen, ohne das sie nicht sein kann. Sie verfällt dem
Wahnsinn, irrt verspottet umher und stirbt. Nach ihrem Tod
nimmt die sozialkritische Legende vollends märchenhafte Züge an.
Erlöst von der Erdenpein, fährt Marie himmelwärts, putzt in der
ewigen Seligkeit eine schimmernde Küche und bewahrt als Schutz
engel ihre Tochter vor dem eigenen bitteren Los,
Diese ergreifende Fabel gibt Fejos zwei wesentliche Chancen.
Die eine: daß der Stoff einer freien filmischen Durchgestaltung
auf halbem Wege entgegenkommt. Zum Unterschied von den meisten
anderen Vorwürfen gestattet nämlich die Legende, alle Dinge von
einer einzigen, inhaltlich erfüllten Perspektive aus Zu betrachten.
Die Welt muß so erscheinen, wie Marie sie sieht, und der Blick,
den sie, die Gequälte, auf ihre Umgebung richtet, ist kein belie
biger Blick, sondern einer, der die Menschen und Zustände ent
larvt. Indem nun Fejos diesem Blick bewußt folgt, verfährt er
mit der Realität wie ein Dichter. Er nimmt alle Gestalten und
Gegenstände gleichsam durch die Äugen Maries wahr und hebt so
die konfuse Empirie in eine entschiedene Wirklichkeit. Seine ver
wandelnde Kraft ist oft groß. Der Glockenturm, zu dem Marie
aufsteht, wird mit Bedeutung imprägniert, das Standbild der
Muttergottes scheint bewegt, und die Gesichter der Dienstherrschaft
erhalten jene unpersönliche Härte, die ihrer sozialen Stellung
entspricht. Der Verlassenheit Maries antwortet die Oede der Ob
jekte. Die vorsintflutliche Eisenbahn führt aus der Welt heraus,
die Häuser wirken wie Feinde. Nur im Bordell eigentlich, einer
mtsehlichm Kleinstadt-Oase, tauen die Sachen und Figuren ein
wenig auf. Das mechanische Klavier spielt sebsttätig muntere
Disharmonien, der kalte. Lichterglanz erwärmt, und hinter der
erstarrten Physiognomie der Inhaberin regt sich ein Mitgefühl, das
sie spürbar verschönt.
Auch von der Zweiten Chance macht Fejos einen guten Ge-
Lmuch. Sie besteht darin, daß durch die Einfachheit und Sinn-
Migkeil der Fabel die Sprache auf ein Minimum beschränkt
werden kann. Wahrend Rens Clair den Dialog nach Möglichkeit
als Element des musikalischen Tongefüges verwendet, läßt ihm
Fejos, hierin realistischer, den Charakter des Sprechdialogs,
drängt ihn aber fast ganz in den Hintergrund. Er bemüht sich,
praktisch durchzüführen, was ich an dieser Stelle wieder und wieder
aus ästhetischen Gründen fordern zu müssen glaubte. Tatsächlich
sind alle W so entwickelt, daß das W o r t n a hez u
e n t b e h r l ich wird. Und in jenen Fallen, in denen es doch ein
tritt, erwachst sein Sinn ohne Schwierigkeit aus dem der Situation.
(Umso unbegreiflicher, daß d^e paar Sätze, die herauskristalli
sieren, in deutscher Sprache unterlegt worden sind.) Das hier
gegebene Beispiel verdient die Nachfolge um so mehr, als Fejos
aäch auf jede übertriebene oder sachlich unbegründete musikalische
Illustration verzichtet. Er nutzt Geräusche und Tierstimmen aus
und schaltet die Musik vorwiegend nur dort ein, wo sie von der
Fabel bedingt ist. Man hört die Klänge eines Tanzfestes herüber
wehen, das sich später vor aller Augen entfaltet. Ueberhaupt ist
kaum je eine akustische Untermalung angesetzt, die ein bloßes
Füllsel wäre und außerhalb des Films gelegene Quellen hätte.
Dank dieser sinnvollen Oekonomie aber wird der Film erst richtig
Zum^Fihn. Das heißt nichts anderes, als daß sein Hauptgewicht
auf- den stummen Partien ruht. Gesten übernehmen tragende
Funktionen, mimische Veränderungen, deren Verständnis an keine
Sprachgrenze gebunden ist, bestimmen die der Handlung. In
AnnabZlla hat Wos eine Darstellerin gefunden, die seine
Absichten Zu realisieren vermag. Sie besitzt eine erstaunliche Fähig
keit zu nuancieren, und wie sie das eine Mal ein Bild ausweg
loser Trauer ist, so erstrahlt sie das andere Mal in der Glorie
des Mütteralücks.
Trotz solcher schwer zu überschätzender Qualitäten bleibt aber
der Film weit hinter dem Ziel zurück, das Fejos ersichtlich vsrge-
schwebt hat. Und zwar darum, weil das Werk schon von Geburt
an mit einem Gebrechen behaftet ist. Erstrebt wird in ihm die Ver
filmung einer Legende von so rein epischer Beschaffenheit, daß
ihre Transportierung in die Filmsprache gar nicht gelingen kanm
In der Legende spielt der chronologische Zeitablauf nur eine un
wesentliche Rolle im Vergleich mit der legendären Zeit, die sich
windschief zur chronologischen verhält. Diese episch wohl Zu ges
stallende Zeit nun, die über Daten und Räume nach freiem Er^
messen verfügt, wird im Film oft bis zur Unerträglichkeit verzerrL.
Um sie annähernd widerzuspiegeln, ist Fejos genötigt, fortwäh
rend, zwischen langgezogenen Szenen und höchst summarisch verfah
renden Auftritten zu wechseln. Manchmal steht der Uhrzeiger still,
manchmal sind Monate oder Jahre ein Nichts. Was in der Legende
Zur Einheit verwoben sein mag, erscheint eben im Film als ab
ruptes Nacheinander. Diese Sprunghaftigkeit der Tempi, die ein
starkes Unbehagen erzeugt, weist aber deutlich darauf hin, daß sich
die Legende der Verfilmung widersetzt. Ihre Wahl wird dadurch
noch problematischer, daß die legendäre Phantasie häufig der Vev-
Lildlichung spottet. Sie ist im Himmel genau so wie auf der Erde
zu Hause und kann sich in Reichen ergehen, die nie ein Auge erblickt.
Daher muß der Filmregisseur notwendig scheitern, sobald er gewisse
Sprachbilder optisch belegen will. Seine Feerien schmecken auch
wirklich nach dem Atelier, seine Sterne sind künstlich, und die Erd
kugel, auf die Marie niederschaut, ist ein Modell. Solche Illustra
tionen sind Verfehlungen prinzipieller Art. Sie vernichten die
Kraft des erzählten Märchens und kommen der Phantasie nicht zu
Hilfe, sondern töten sie nur. Schließlich hat Fejos, vielleicht um
einen abendfüllend Film herzustellen, die Maße im ganzen zu
völlig genommen. Der Film erreicht eine Ausdehnung, der seine
JHMe nicht gewachsen sind, In der knappen Legende beheimatet,
werden sie sofort obdachlos, wenn man sie über die ihnen Zube
stimmte absolute Länge hinaus streckt.
Diese Einwande besagen selbstverständlich nichts gegen den
außerordentlichen Wert, den der Film als Experiment hat. Die
Filmschaffenden könnten viel von ihm lernen.
Unterseeboot-Krieg.
Krieg als Ereignis heroischer Pflichterfüllung:
das ist das Thema des Ufa-Großfilm : „M orgenro t". Er ver
anschaulicht auf Grund eines von Gerhard Menzel gestalteten
Manuskripts eine Episode aus dem Unterseeboot-Krieg, deren
wichtigste Szene die folgende ist Die Äerlebends Mannschaft des
nach mehreren geglückten Unternehmungen vernichteten U-Boots
sitzt im MALN Schiffsraum Zusammen und weiß, daß sie nur noch em
paar Gründen Zu leben haben wird. Acht RetLungZappamte sind
vorhanden, aber die Besatzung Zählt einschsießlich des Kapitän
leutnants und des Oberleutnants Zehn Mann. Der Kommandant
fordert die Mannschaft auf, sich Zu retten Sie erklärt, daß sie mit
ihren Führe n zusammen sterben wolle. Erst der freiwillige Opfer
tod des Oberleutnants und eines Matrosen — dieser ist ein Ein-
U(ganger, jener hat eine (nur peripher angedeutete) unglückliche
Webe — verpflichtet die übrigen Acht, fürs Vaterland weiterzulebem
Die hier bewährte heroische Gesinnung wird im Verlauf der
Handlung mit dem Verhalten der Heiniat konfrontiert. Der Film
entwirft von ihr Schilderungen offizieller Art. Schuljugend stellt-
sich Zum Empfang der Helden am Bahnhof alss, und der Bürger
meister schwingt begeisterte Redem Entscheidend isi sich
die Gesinnung der Front von der des Kleinstädtchens deutlich
abhebt. Die Unterseeboot-Leute verwerfen den Heldenrummel ebenso
bestimmt wie die Verzagtheit, die sich später der Gemüter zu Hause
bemächtigt Ergänzt wird diese an der Bevölkerung des Hinter
landes geübte Kritik durch die Mutter des KapM die
dem Heroismus auf dre rechte Weise antwortet. Sie erklärt un
gefähr: daß nach Siegen kein Grund zum ungebrochenen Jubilie
ren vorliege, daß man auch immer der Opfer des Gegners
km solle usw. (Ihre Worte wurden bei der Uraufführung am leb
haftesten beklatscht.) Zu diesen an sich wohltuenden UbreKnnngsn
wäre nur Zu bemerken, daß sie in eine reichlich - stilisierte Wieder
gabe der wirklichen Verhältnisse eingefügt sind. Front und Heimat,
haben in jenen Jahren faktisch anders ausgefthe^ es die Mal-
Lypischsn Bilder des Films wahrhaLen möchten.
Während nirgends ein Wort fällt, das dem Phänomen M
Kriegs selber gilt, werden verschiedene SM
den Geist heroischer Pflichterfüllung als einen GrundZug unseres
Wesens ansprecheu. Der Kapitänleutnant sagt einmal, daß wir Zwar
vielleicht nicht richtig Zu leben, aber dafür „fabelhaft" zu sterben
verstünden. Und ein andermal bekennt er sich beinahe dankbar ZU
einem Geschick, das der heldischen Haltung gemäß sei. Damit stimmt
überein, daß in dem Film jede Frage nach dem Sinn des furcht
baren Geschehens fehlt, das er Zeigt. Stumm wird es hingenom
men, stumm abgewehrt oder herbeigeführt. Indem der Film so
die heroische Weltanschauung verabsolutiert, entkräfte sie aber
Zugleich. Denn echter Heroismus ist sich nicht Selbstzweck, sondern
steht im Dienst des von der Erkenntnis gesetzten Ziels. Daher
wäre es im nationalpädagogischen Interesse Zweifellos ratsamer,
auf die Notwendigkeit einer Regelung unserer Angelegenheiten
durch die Vernunft hinzuweisen, statt dem Heroischen ohne wei
teres den Primat ZUZuerteilen. Vorausgesetzt, daß es darum geht,
richtig zu leben , . .
Der Film, der Zum Teil an Bord eines finnischen Unterseeboots