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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.12/Klebemappe 1933 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

gewebe "zusammen. Ein Zylinderhut hat wichtige Aufgaben za 
bewältigen, und scheinbar zufällige Bildkonstellationen geben den 
Anstoß zu nachhaltigen Kurven und Mustern. Es ist aber ein ent 
scheidendes Merkmal jedes echten Filmwerks, daß in ihm die 
kleinsten Elemente eine tragende Rolle erhalten. Clairs Fähig- 
kert, sie auszubauen, hängt unstreitig mit seinem Flaneurtum zu 
sammen. Auch das Tongefüge beherrscht er in erstaunlichem Maß. 
Um von der.merkwürdigen Entgleisung eines Chorgesanges ab- 
zusehen, der immer wieder auftaucht und rein als Tondekora'ion 
wirkt, ist die Sprache überall treffend in die Situation hinemge- 
setzt. Diese wird nicht durch bis Worte geschaffen, sondern läßt 
sie aus sich erstehen, sodaß die Dialoge sich in Sprachbilder ver- 
wandeln,^ die MM anschauen kann. Das Liebesgeflüster ent 
wächst sichtbar wie eine Blüte der Umarmung der Küssenden. 
Volkserhebung. 
Der Luis-Lrenker-Film: „Der Rebell", der eine 
Cpispde aus dem Tiroler Freiheitskampf gegen Napoleon zeigt, 
ist auf jeden Fall großartig gemacht. Zugrunde liegt ihm eine ein 
fache, geschlossene, bildhafte Fabel. Ein junger Tiroler, der aus 
der Studentenzeit Heimkehrt, trifft sein Vaterhmrs als Trümmer 
haufen an, erschießt einen französischen Offizier und flieht in die 
Berge.. Es folgen bewegte Aktionen, in deren Verlauf der Rebell 
einen Bolksaufstand organisiert, der schließlich niedergeschlagen 
wird und mit seiner Exekution endigt. Die unentbehrliche Liebes 
geschichte ist geschickt eingearbeitet und drängt sich nicht vor. 
Der Hauptglanz strahlt natürlich von Trenker selber aus, 
der sich die Rolle des Rebellen auf den Leib geschrieben hat. Er 
hat sich noch nie so brillant und vielseitig entfallet. Als Reiter, 
Kletterer und Anführer vollbringt er QeistrMen, die sich denen 
von. Douglas Faibanks getrost an die Seihe stellen können. Die 
Freude, die man an ihnen hat, rührt wohl davon her, daß sie 
nicht einfach Bravourstückchen sind, sondern jeweils aus dem 
Zwang der Situation hervorgehen und überdies mit körperlichem 
Scharm ausgeführt werden. Reizend ist W Bällszene im JnnL- 
Lrucker Schloß. Trenker, der sich in bayrischer Offtziersuniform 
eingeschlichen hat, wird erkannt und muß sich auf gute Art davo.n- 
machen. Er bewerkstelligt seine Flucht dadurch, daß er die Gattin 
des Kommandierl-nd unter einem iP Augenblick erfundenen 
Vorwand aus dem Saal geleitet. Wie in dieser (bei der Premiere 
spontan LeklatM Episode, so gelingt es ihm durchweg, die Ein, 
heit von leiblicher Gewandtheit und Mistigem Elan zu verfilm- 
lichen. 
Wettn er auch der natürliche Mttelpunkt ist, spielt er sich 
doch nicht eigentlich in den Vordergl^nd hinein. Gewiß kargt.er 
keineswegs mit Flucht- und VerfolguMsszenen, in denen er allein 
auftreten und noch das Letzte aus sich fürs Publikum heraus 
holen darf. Aber über diesen Jagden, die trotz photsgmphischer 
Schönheiten ihn und uns durch ihre Länge ermüden, soll nicht 
vergessen werden, daß die von Trenker in Gemeinschaft mit Kurt 
Bernhardt geführte Regie das entscheidende Gewicht auf die 
Volksbewegung selber legt. Die ihr gewidmeten Szenenisind in 
der Tat.die.,.Achse^des.Films. .Man..muß.schon an die großen 
russischen Filme Zurückdenken, um eine Analogie für den Zug 
der Aufständischem zu finden. lEr ' ist iw eiE ' 
und gesteigert, die der Reflexion vorübergehend den Garaus Macht. 
Hat dieser Aufmarsch noch Vorbilder, so ist der Uebersall der 
Bauern auf die französische Armee., ein filmisches Ereignis, das, 
wenn ich mich nicht täusch^ . M einer bestimmlen 
Hinsicht hinter sich-läßt. Wie/reaM 
in manchen früheren KriegM gestaltet wördem ^ sie haben, 
niemals eine solche Unmittelbar erreicht. Die Wut der Ant er- - 
drückten und die Schrecken, die sie dem Feind. Zerptsn/.werden in 
diesem Film - Gegenwart. Man sieht und hört: die . Feuersalven, 
die aus geschützter Höhe auf die. im.Tal, Ziehende sranzosischr. 
Armee nieberprasseln; die donnernden Steinlawinen, die von den 
Tirolern auf die Zum Stürm angüsetzten Truppen herabgesandt 
werden; die mörderischen Geräusche eines beMMen Waldgefechts 
und die Bilder elementarer Vernichtung. Pserdtteiber, FelsWcke, 
TrompetenflgM Knäuel- kämpfenber Menschen, WafserW 
Bäume und verzerrte Gesichter fügen sich züm. entsetzlichen Chaos 
Zusammen. Es ist, darüber. besieht gar kein- Zwefl^ 
erstaunlichen. Konsequenz komponiert und . geht der Wirtlich kett 
bis in den letzten Schlupfwinkel nach. "" - 
Ich verzichte von - vornherein auf -dicim^ Kritik, (die 
außer den Längen noch 'einige ändere Schwächen -Zu- ?E 
nen hätte), um einen wesentlichen allgemein/n, M 
den Film desto stärker. Zu unterstreichen. Er-betrifft nicht- etwa) 
seine Kraßheit, sondern die Haltung, der diese entw^ 
herrlicht wird in deck Film die mythische Kraftf des Volkes, die 
sich in den Steinlawinen am deutlichsten s vergegenständlicht, der. 
von der Natur selber dikttertes^ gegen usurpaloriMe Ge 
walt. Indem aber Trenker diese . historische. . Episodei mit - einer 
Mnnfälliskeit ohnegleichen vorjübrt, suggeriert er dem Publfkum 
(absichttich oder - unabsichtlich)- -eine- - Gescküchtsaus-saffung, die sich 
jedenfalls. angesichts unserer aktuellen Zustände nicht behaupten ' 
kann.' Ihr natür^ Begriff" des" Volks' läßt sich ..so nicht Mehr 
realisieren, ihr Anruf des Mythischen hat die einstige Legitimität 
eingebüßt, und manches, was ihr noch als Ideal gilt, ist seines 
alten Schimmers entkleidet. Andere politische und gesellschaftiche 
Idyll, MslLseryeöung, KSarakter. 
ÄW S» Kracauer. 
l ch. , Berlm, im Januar. 
Das tanzende Paris. . 
Pop ein^ in höhere Regionen, in denen es um 
Probleme wie die/des laufenden Bandes und des Privateigentums 
ging hat fich R^ C l a i r in seinem jüngsten Film: „14- I u l i" 
mcher nach PaM heimgefunden. Ein Glück für ihn und für^uns;- 
tk mrlWre um/r den Dächern dieser Stadt, ist er wirklich Zu Hause. 
Er weiß , um ^)ie- Treppen und Winkel des Quartiers Bescheid, ist 
mn dtzr m itzr ansässigen^ nur ein SpeZMist 
vemaut un^ hat auch die Außenseiter von den Taschendieben an 
bis zu den Fremden gründlich erforscht Aus einer solchen Material- 
L^nnLms heraus läßt sich freilich immer neu schöpfen. 
Dsx Hilm hat eine Art von Fabel, an der aber wenig liegt. 
Ein TcKichauffeur urrd ein Blumenmädchen lieben sich, verleben 
den ^g des Nationalfestes zusammen und geraten dann aus« 
emanLer. Schuld daran ist die frühere Geliebte des Chauffeurs,.die 
ihn M zurückerobern möchte. Er wird durch sie in schlechte Gesell- 
gelockt- und brüht zu verkommen. Im kritischen Augenblick 
bLgcgnet er jedoch dem Blumenmädchen wieder, dem es inzwischen 
Luch nicht gut ergangen war. Endgültige Vereinigung der Lieben* 
sen. Es ist nicht schwer zu erkennen, daßr alle Schmollereien, Miß 
Verständnisse und Schwierigkeiten nur aus ihrer Liebe entstanden. 
Ddr Hauptzweck dieser locker gehaltenen Fabel ist ersichtlich 
der, einen günstigen Vorwand für Milieuschilderungen zu liefern.. 
Sie sind die eigentliche Essenz des Films. Mit der Leidenschaft des 
Flaneurs durchschwsist Rene Clair das Quartier, stellt Be 
obachtungen an, glossiert flüchtige Ereignisse, sammelt Gesichter 
und Szenen. Genau das, worüber die beschäftigten Leute hinweg- 
leben^M.-ch unerhört wichtig. Als musischer. 
Müßiggänger verweilt er in Eoncierge-Logen und bei spielenden 
Kindern/sol^ sonderbaren Erscheinung einer Bürgerfamilie 
lang mit den Blicken nach, entzückt sich am Gewühl der Tanzenden 
und schlürft genießerisch das . Bild emer Kneipe. Solcher unauf- 
MigerDm die den Schlenderer berauschen, ist der Film voll. 
Die —Beziehungen zwischen Zimmerinterieurs, Fassadenschildern 
und Straßenperspektiven werden in bezaubernden Improvisationen 
ausgekostet, und ein kleiner, von den Passanten kaum gewürdigter 
Blumenwagen erhält den Rang eines Stars. 
Die Frage ist, welche Bedeutungen Rene Clair seinen Objekten 
abgewinnt. Das Quartier ist für ihn ein Idyll, das er mit 
Liebe,. heiter-versöhnlichem Witz und ein bißchen Melancholie be 
trachtet. Auf Grund dieser Haltung ergeben sich ihm natürlich 
viele >eingängig^ Bestrickend sind Zum Beispiel die natur- 
geschichtlichen Studien über das Leben der Chauffeure und eine 
Monographie, die sich mit der Existenz von Porti.ersframn befaßt. 
Als eine besondere Entdeckung ist das vornehme Restaurant zu 
preisen: M in dem sich ein paar Amerikaner und 
Angehörige der Oberschicht furchtbar mopsen. Zum Bindeglied 
zwischen seiner Qede und dem mit ihr glänzend kontrastierten 
Straßentreiben wird ein älterer Gentleman, der im Suff d'.e ver 
gnüglichsten Streiche begeht. Er verirrt sich ins Orchester, handelt 
mit dem Blumenmädchen an usw. Wie im Spiel und ganz ohne 
Zwang vermischen sich alle diese Typen. Indem Clair sie illustr ert 
und kommentiert, verwandelt er sie Zugleich in lauter harmlose 
- Wesen. Der Suff ist gutartig, die Kriminellen sind ungefährlich 
und die Bosheit wirkt komisch. Kein Sturm von außen fährt in 
diesB geschlossene idyllische Reich. Wenn die Liebenden sich an der 
Haustür endlos küssen, schleichen die Spießbürger andächtig vorbei. 
Wer diese Harmonie ist zu früh angesetzt. Vielleicht durch den 
inhernat onalen Ersolg verführt, hört Clair an einem Punkt auf, 
von dem aus er erst recht weitem vorstoßen müßte. Statt die sur- 
rcalistischen Möglichkeitien zu verwirklichen, biegt er sie ab und 
benutzt Stilmittel, mit denen man Ernst machen müßte, zur Ver- 
niedlichung der Menschen und Sachen. Seine Liebe zum Klein 
bürger ist nicht tief genug, um ihn beim Schöpf zu packen und 
durchzurütteln, sein Witz gibt sich damit Zufrieden, rauhe Zustände 
zu glatten, und seine Melancholie ist nur der schwache Widerschein 
wissender. Schwermut. Nirgends weist der Film die Sprünge unter 
der Oberfläche auf, im Gegenteil, er überdeckt sie und verstopft 
sämtliche Poren. Das Dasein wird vorzeitig zur Arabeske, der 
Heiterkeit fehlt der Schauernder sie zu legitimieren vermöchte. Das 
heißt aber nichts, anderes, als daß die große Chance des Surrealis 
mus: !)lls Nahe uns zu entfremden und dem Bestehenden die ver 
traute Maske herunterzureißen — daß diese Chance hier mit leichter 
Hand vertan wird. In der Tat ist der Film K u n st g e w e r b e. 
So gewiß die Qualität seiner Einfälle, an denen er wahrhaftig 
reich ist, außer Zweifel steht, ebenso gewiß sind sie grundlos und 
vl-ne Abgrund. Sie geben sich das Spiel zu rasch gewonnen, sie 
sollren die Kleinbürgerwelt illuminieren, damit sie transparent 
wird, und benutzen sie fakt zum Zweck einer lieblichen Illu 
mination. Man merkt noch gerade, daß sie etwas meinen könnten; 
aber ehe sie es sagen, kehren sie schon um und erfüllen die mindere 
Funktion bloßen Scharmierens. 
Die kunstgewerbliche Verfluchung ist um so unerträglicher, als 
Clair wieder einmal beweist, über welches außerordentliche fil 
mische Talent er verfüct. Mit unvergleichlicher Virtuosität ge-z 
staltet er Bagatellen zu Motiven aus und fügt diese zumBild-
	        
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