Phänomenologie das alles leisten soll, was Schaler ihr
zyMtet, müssen ihr wahre Wunderkräfte innewohnen, und
man wird begierig sein zu erfahren, welche Bewandtnis es
eigentlich mit ihr hat. Phänomenologie zielt, um es in der
hier gebotenen Kürze zu sagen, auf die Erschauung geistiger
„Wesenheiten" ab, ste hat eS demnach nicht mit der Darbietung
und Erklärung der vorhandenen Wirklichkeit zu tun, vielmehr
kommt es ihr gerade darauf an, die unvergleichliche „Wrs-
heii", d. h. eben das Wesen aller möglichen Ge-Äenheiten
aufzudecken. Zur Erfassung solcher Wesenheiten ist nach
Scheler vonnöten, daß der Philosoph Liebe zum absoluten Wert
und Sein hege, daß er sein natürliches Ich verdemüttge uno
Selbstbeherrschung übe. Ob freilich die Erfüllung dieser (trotz
Scheler) psychologischen Vorbedingungen eine hinreichende
Gewähr dafür bietet, daß der ste Erfüllende wirklich an das
Wesen der Dinge rührt, wird nicht mitgeteilt. Der Vollzug
des von Scheler geforderten „moralischen Aufschwungs* bildet
an stch jedenfalls noch kein zulängliches Kriterium für die
Wahrheit der auf solche Weise zu gewinnenden Erkenntnisse.
Das Unternehmen der HerauSarbeitung einer natürlichen
Religion (bezw. einer natürlichen Theologie) darf sicherlich
dann allein als geglückt bezeichnet werden, wenn die Ergeb
nisse, zu denen die von Scheler auf metaphysischem und natür
lich-religiösem Gebiete geübte „Wesensschau" führt, unbedingt
einwandfrei sind. Wie schon wenige Proben lehren, wider
sprechen jedoch diese Ergebnisse einander zum Teil und weisen
im ganzen eine recht fragwürdige Beschaffenheit auf. Während
Scheler an einer Stelle z. B. darlegt, daß die Gruppen der
Wesenseinsichten verschiedener Subjekte (Völker, Rassen usw.)
verschiedenartig sind, und der durchaus relativistischen Auf
fassung ist, es könnten diese verschiedenen Einsichten und Ideen
vom Geiste Gottes alle wahr sein, führt er ein wenig später
aus, daß durch den aus Wesenszusammenhängen sich ergeben
den Satz von der Erschaffung der Welt durch Gottes Willen
berühmte andere metaphysische Lehren über Gott und Welt
streng widerlegt werden, und spricht wieder an anderem Orte
von den „entsetzlichen Irrungen" Calvins. Woher stammen
plötzlich diese Wertmaßstäbe, und Wahrheitskriterien?
Man fragt vergeblich, oder vielmehr: man ahnt bereits die
Antwort. Vor, ihrer Erteilung allerdings empfiehlt es sich,
noch etliche hie natürliche Religion wie das Verhältnis der
Menschen zur Religion überhaupt betreffende Wesensschauun-
gen näher zu prüfen. Aus dem Inhalt dieser Schonungen wird
nwn dann mit aller wünschenswerten Klarheit ihren wahren
Nrivkäng erschließen und ein Urteil über ihre vermeintliche
Evidestz und Objektivität sich bilden können. Wie z. B. nach
SMler eine richtige. Wertmetaphysik den Satz festhalten muß,
daß alles Weltübel in einer konzentrierten Macht des Bösen
gründet, und zwar, da das „Böse" nur Wesensattribut einer
Person sein kann, in der Macht einer bösen Person, so ist es
nach ihm eins (denknotwendige) Wesenstatsache, daß der Theis
mus den Glauben an den Sündenfall nach sich zieht, daß die
Erscheinung des Häretikers und der religiöse Singülarismus
widersinnig (!) ist usw. Vermittels der Phänomenologie
bringt Scheler es auch mit Leichtigkeit fertig, die Unmöglichkeit
einer neuen Religion (d. h. in Wahrheit einer anderen Reli
gion als der katholischen) für uns Menschen der Gegenwart zu
beweisen. Da heißt es u. a., daß die Intention aller großen
„domines reliAlosI" auf die Wiederherstellung der Ursprung-
lichen Religion abziele (wobei freilich unter Umstanden doch
so etwas wie eine neue Religion entstehen kann); daß der
Heilige der „wesettsmäßig höchsten denkbaren Form" schon
seiner Idee nach der „Einzige" sei (welche Feststellung doch
an sich gewiß nicht die Heraufkunst eines neuen Heiligen aus-
schließt); daß die Menschheit als Gattung altere, woraus für
die ältere Menschheit die Verpflichtung erwachse, gläubig an
dem festzuhalten, was einst seitens der jüngeren Menschheit an
transzendenten Realitäten erfahren wurde usw. Tretet nur
in die Kirche ein, so. klingen ungefähr diese Argumentationen,
denn jedes andere Verhalten ist „wesensunmöglich", be
ziehungsweise „widersinnig".
Doch genug der Beispiele — das Geheimnis der Scheler-
schen Phänomenologie liegt offen am Tag. ES besteht, kurz
ausgedrückt, darin, daß Scheler bald unter Verzicht auf
eigene Wertung gleichsam im leeren Raum das Wesen
eines jeden Dinges zu erfassen trachtet und bald dann wieder
die Dinge so beschreibt, wie ste von einem ganz bestimmten
Standpunkt aus, dessen Einnahme naturgemäß ihre
Wertung zuläßt, sich dem Beschauer darbieten. Je nach Be
dürfnis ist er einmal Relativist und das andere Mal -
Katholik. Wenn er doch wenigstens überall seinen Katho
lizismus offen zugestände! Aber das eben tut er nicht.
Meistens streicht er vielmehr dort, wo er gerade den Relativis
mus über Bord wirft, wo er also z. B. behauptet, daß die Ab
wesenheit einer unfehlbaren „kirchlichen Autorität" in Heils-
sacbrn in einer von einem allgütigen und allwahrhaftigen Gott
geschaffenen und gelenkten Welt widersinnig sei, den vorge
faßten katholischen Standpunkt fort, gibt die von ihm aus ge-
wortnSNen' Einsichten für Wrsensnotwendigkeiten aus und
gründet dann auf diese Wesensnotwendigkeiten wiederum den
Ein Münchhausen, der sich am eigenen Schöpf aus dem
Wasser zieht! Als Relativist nrulxrö lui billigt er jedem Volk
eine eigene Art der Gotteserkenntnis zu, huldigt dem Pluralis
mus usw.; als Katholik läßt er keine andere Art der GottrS-
erkennts ÄS die katholisch« gelten, die ober beileibe nicht M
ihrem richtigen Namen genannt werden darf, sondern eben eine
pure WesenZnotwendigteit ist. Die, Bewunderung, die man
der GeschiMchkeit zollen muß, mit der dieser in allen Fahr
wassern der Phänomenologie kundige Lotse zahllose gefährliche
Klippen umschifft, vermag nicht das Unbehagen auSzulöschen,
das sich bei solchem irrlichternden, schon rein im Stile übrigens
sich ausprägenden Zickzäckkurs des kritischen Geistes unfehlbar
bemächtigt.
Ueber die Willkür einer ganzen Anzahl sogenannter
„Wssenöschauungrn" braucht kaum noch ein Wort verloren zu
werden. Subjektiv bedingte Meinungen verwandeln sich uni«r
der Hand in objektive Wahrheiten, die im Sein der Gegeben
heiten selber gründen sollen; gleichviel, ob Scheler hier tiefer,
dort oberflächlicher als andere sieht, stets muß jedenfalls daS
Wesen der Dinge daran glauben. Diese -Willkür artet zudem
nicht selten in leere Scholastik aus, weil Scheler mitunter Sätze,
die weder unbedingt gelten noch in ihrer Allgemeinheit ein-
gesehrn werden können (wie z. B. den Satz, daß Erkenntnis
stets in Liebe fundiert sei, oder den Satz, daß jeder endliche Geist
entweder an Gott oder an einen Götzen glaube), zu »Wesens
apiomen" stempelt, und dann ander« Sätze aus ihnen ableitet,
die man nun, je nach Veranlagung, glauben mag oder nicht.
Und wie verhält eS sich schließlich mit der Phänomenologie
der natürlichen Religion? Hat der Relativist Scheler dar
Wort, so gibt es eine Mannigfaltigkeit natürlicher Religionen.
Spricht der Katholik Scheler, so ist die natürliche Religion
nichts weiter als verschämter Katholizismus) beziehungsweise
Theismus, der jederzeit bequem in den Katholizismus ein
münden kann. Mit der Schaffung dieses Zwitters von
natürlicher Religion hat Scheler sich recht eigentlich zwischen
zwei Stühle gesetzt. Den Katholiken macht er es mit
ihr nicht recht, weil er durch ste Katholische Anschauungen
relativiert und die konkreten Heilswahrheiten der KirckM
in einer Weise phänomenologisch unterbaut, die ihre
dogmatische Bedeutung äo kuvto aufhebt.') Gewiß, die
Natürlich« Religion ist kirchliche Lehre, aber eben weil sie
das ist, können ihre Gehalte nicht vorauSsetzungSloS im
leeren Raum erkannt werden. Den Nichtkatholiken wiederum
macht Scheler es nicht recht, weil sie hinter seinen WesenSon-
schmmnaen sehr bald den verkappten Katholiken herausspüren
and mißtrauisch werden gegen Erkenntnisse, deren Quelle so
geflissentlich verborgen gehalten wivd. Es wäre besser ge-
kvesen, Scheler hätte entweder seinen Standpunkt klar enthüllt.
oder seine Standpunktlostgkeit wirklich durchgeführt. Wer aber
wie er Jeden befriedigen will, befriedigt schließlich niemanden.
, Bleibt di« philosophische Aufgabe ungelöst, so Kann auch die
pädagogische Absicht nicht erreicht werden. Daß Anhänger
der verschiedenen Konfessionen sich auf der von Scheler kon
struierten Brücke einer natürlichen Religion treffen oder gar
vereinen, ist nach dem Gesagten Kaum zu erwarten. Fraglich
erscheint auch — und Katholiken selber werden das wohl am!
^ehesten bestreiten — ob man gerade durch die Pforte oer Phä-'
nsmenologie zum Katholizismus gelangt, ob gevade Wesens
schau missionierende Wirkungen auszüüben vermag. Die Phä»
nsmenologie ist, wie nicht zum wenigsten das Beispiel Sche-
lers lehrt, gleichsam «in „Mädchen für alles", sie läßt stch vom
Buddhisten ebenso benutzen wie vom Protestanten oder vom
Katholiken. Wenn Scheler sie als Vorspann katholischer Welt
anschauung verwendet und wohl auch mißbraucht, so erweist
er sich damit als rechter Eklektiker, denn nur der Eklek
tiker in religiösen Dingen wird derart unter Zuhilfenahme
phänomenologischer Betrachtung metaphysische Erkenntnisse
und religiöse Heilswahrheiten zusammenbiegen wollen.
Das ist ein Verfahren, Lei dem sowohl die naive Gläubig
keit wie die philosophische Unbefangenheit verloren geht und
lediglich ein Kunstprodukt übrig bleibt, das bestenfalls dem ge
bildeten Spätling Genüge leistet. Wer kennt ihn nicht, den
Intellektuellen von heut«, der, well er eS im Vakuum der
GlaubenSlostgkeit nicht mehr auShält, aus Grund romantischen
WiüenSemschiusses irgendwo Unterschlupf sucht? Ihm viel
leicht wird durch Scheler der Weg hinüber zum Katholizismus
geebnet. Menschen dieser Art aber, die solchen Schleichweg
der Schwäche, wenn auch einer sehr begreiflichen Schwäche,
wandeln sind gewiß nicht die Besten; begehren sie doch vor
eilig Erfüllung ihrer kurzatmigen Sehnsucht, statt im Vakuum
tapfer ouszuharren und zu — warten. — Durchaus positiv hat
man es im übrigen zu werten, daß Scheler auch durch jÄn
jüngstes Buch wiederum jene dem katholischen Wesen eigene
kontemplative Geisteshaltung auSzubrriten und zu stärken
sucht, die ein unerläßliches Gegengewicht gegen leerschwingende
Betriebsamkeit und gegen einen Aktivismus ist, der in der
Bewegung an sich schon einen Selbstzweck erblickt.
Die Unhaltbarkeit der philosophischen Grundpofltion Schelers
besagt nichts wider die Bedeutung seiner philosophischen Lei-f
stuvgen innerhalb weiter von ihm durchmessener Drukbereich«
Dieser mit den -'^uzcndsicn Gaben ausgestattete Geist bewährt
ÄsPsy ologe ei-en Tiesbltck, wir ihn heule wohl kaum ein
-Lenker aufweist. Seine in das neue Werk mit ausgenommen«
Abhandlung über „Reu« und Wiedergeburt" B. ist, von
ett chen sehr anfechtbaren Stellen abgesehen, «in Meisterwerk