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H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Bibliographic data

fullscreen: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Manuscript

Persistent identifier:
BF00043386
Title:
H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]
Shelfmark:
H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930
Document type:
Manuscript
Collection:
Holdings and special collections
Year of publication:
1930
Copyright:
Deutsches Literaturarchiv Marbach

Full text

entscheidender sind ihre anderen Eigentümlichkeiten, die samt und 
sonders beweisen, daß sich in ihr der Gedanke nützlicher Auf 
klärung mit dem des Kollektivs verbindet, das sich sein 
Wissen selber erarbeitet. So lernen die Kinder weniger die fer 
Ugen Produkte als den Prozeß des Schaffens kennen. Manchmal 
ist zum Beispiel ein Bildhauer anwesend, der rhncn wie ein gute. 
Onkel auf Verlangen alle möglichen Tiere knetet, und auch su 
dürfen dann gleich an Ort und Stelle mit den Lonklumpen hau. 
Lieren. Ferner sind die Gegenstände nicht wie sonst dem Zugriff 
entzogen, sondern bieten sich Zur selbständigen Prüfung dar. „Das 
Kind erforscht alles," sagt Dr. Meksin, „und es glaubt nichts." 
s Schließlich, und das ist für die Anwendung der „dynamischen" 
^Methode besonders wichtig: das Kindermuseum wird durchweg 
von Kindern selbst bedient. Wo immer die Wanderausstellung 
hinlömmt, die es durch die ganze Sowjetunion entsendet, sofort 
werden ortsansässige Schulkinder und Jugenoirchc in der Hand 
habung der Objekte unterrichtet. Bei der Erörterung dieser Grund 
sätze meint Herr Meksin, daß sein Kindermuseum von len paar 
amerikanischen, die vermutlich viel reicher ausgestättet seien, zwei 
fellos in der schärferen Erfassung desabweiche. 
Im übrigen stellt er keine Vergleiche an und gedenkt weder der 
Vorläufer noch der Mtstrebenden; auch darin der echte Ange 
hörige eines Volkes, das mitunter in primitivem Stolz zu glauben 
scheint, mit ihm finge alles neu an. Ich erinnere meinen Ge 
sprächspartner an Fröbel, an die Montessori und überhaupt an die 
verschiedensten pädagogischen Versuche bei uns; weise ihn auch auf 
das Deutsche Museum in München hin, das er vom Hörensagen 
kennt und bewundert. 
Beispiele werden am besten seine theoretischen Absichten er 
läutern. Im Kindermuseum steht etwa, wie er erzählt, ein großer 
Guckkasten, der: „Zeiten und Bücher" heißt. Er enthält in seinem 
unteren Lerl vier Szenen aus verschiedenen Jahrhunderten und 
in seinem oberen Teil Kinderbücher aus den betreffenden Epochen. 
Die beiden Hälften lassen sich einzeln drehen, und dem Kind fällt 
Wendet er sich ihnen in den späteren Abendstunden einmal Zu, 
so ist er erst recht von ihnen entfernt und ganz weg. Es kommt 
etwa vor, daß er die Notenblätter auf dem Pult umdreht, aber 
diese Bewegung verrät nicht, daß er abspielt, sondern erfolgt nur 
aus Zerstreutheit. Seine Abwesenheit ist groß genug, um ihn eine 
Handlung vornehmen Zu lassen, die sonst gerade für die wache 
Gegenwart zeugt. Und so beweist auch die Tatsache, daß er stch 
über seine Hände neigt, alles andere eher als die Teilnahme an 
ihren Läufen und Trillern. Sie ist vielmehr ein Zeichen seiner 
entschlossenen Abkehr von der Umgebung, und wer genau zu ihm 
hinblickt, der gewahrt auch, daß er durch die Hände und Tasten 
hindurch auf unsichtbare Bilder starrt, zu denen das Spiel der 
Hände nicht dringt. Die Bilder sind zweifellos Erinnerungen, die 
ihn bei sich festhalten möchten. Gelähmt steht er der Vergangen 
heit gegenüber, und fern Kindergesicht zeigt überdeutlich, daß er 
nicht mit ihr fertig geworden ist. Nun kommt das Alter, ohne daß 
er ein Mann gewesen wäre, und er wird allein sein, allein. „Wenn 
die Elisabeth..." entquillt es den Fingern und: „8ons Iss toits 
äs karls". Ich entsinne mich eines anderen Klavierspielers, der in 
den Zeiten des stummen Films, damals, als es noch nicht die! 
entschwindet nach unbekannten Orten. Auf der Flügeldecke stehen 
Getränke für ihn bereit, und je nach der Verfassung, in der er 
gerade ist, greift er bald zum Champagnerglas, bald zum Bordeaux. 
Da. das Spiel unterdessen nicht stockt, muß er entweder eine dritte ; 
Hand zur Verfügung haben, oder mit der einen so fortfahren, als 
seien beide in Tätigkeit. Wenn er nicht trinkt, schluckt er in ge 
wissen Wständen Beobachtungen, die er still für sich macht. Er 
streckt leicht die Zunge heraus, denkt dabei nach und läßt sie mit 
samt dem Ergebnis seines Nachdenkens wieder in den Mund zurück 
schlüpfen. Was er stch während dieses Vorgangs vermerkt hat, gibt 
ihm offenbar ein Gefühl der Ueberlegenheit, denn hinterher bläst 
er die Backen auf und Zieht die äußeren Enden der Augenbrauen 
hochmütig nach oben. In der Regel erspart er sich jedoch die über 
flüssigen Abschweifungen und Gebärden und bleibt lieber innerhalb 
der vier Wände, deren undurchdringlichste sein Kindergesicht ist. Die 
Hände spielen unausgesetzt. 
Mussische KinderaussteMmg. 
Ein Ge s p r L ch. 
Mir Berlin, Anfang Dezember. 
Vor kürzern fand in Berlin eine Ausstellung des „Wander- 
museums des sowjetrussischen K i nderb u ch s" statt, 
die von der Deutschen Gesellschaft zum Studium Osteuropas und 
dem russischen Volksbildungskömmissariat verunstaltet worden war. 
Sie hatte schon in Reval und Rrga debütiert, ist jetzt nach Hamburg 
übergesiedelt und wird sich dann in Prag niederlasfen. Ueberall 
auf europäischem Boden ward bisher dieser pädagogischen Schau 
ein schöner Erfolg zuteil. 
Ich hatte die Gelegenheit, mich mit Dr. I. Meksin, ihrem 
Gründer und Leiter, zu unterhalten. Meine erste Frage galt der 
Herkunft seiner Neigung für Zinder. „Sie rührt daher," anwortete 
er, „daß ich selbst eine Kindheit ohne Kinderbücher hatte, die auch 
sonst keine Kindheit war." Was er nicht besessen, wollte er schon 
als Student, also lang vor dem Krieg, den fremden Kindern ver 
mitteln. Er begann damals mit dem Aufbau seiner internatio 
nalen Kinderbücher-Sammlung, die außer den westeuropäischen ; 
Werken auch die japanischen und chinesischen umfaßt. Nach dem 
Apsbruch der Revolution gab er stch nicht etwa mit den schwieri 
gen Problemen und Experimenten der Erwachsenen ab, sondern 
suchte lieber durch die Schaffung eines Kindergartens und eines 
Kinderspielplatzes in einem Moskauer Aröeiterbezirck das Dasein 
der Kinder paradiesischer Zu gestalten. Später wurde er Redakteur 
für Kinderbücher im russischen Staatsverlag, und vor ungefähr 
fünf Jahren stellte er mit Professor Selenko, der die einschlägigen 
amerikanischen Verhältnisse studiert hatte, in den Kellern des 
Museums für bildende Künste seine effte Kinderschau: „Von 
Tieren für Kinder" zusammen. Girre freiwillige öffentliche Lei 
stung, die so starken Anklang fand, daß ihr bald andere folgen 
konnten. Vor anderthalb Jahren entstand aus diesen Bemühungen 
die vom VollMWungskommLssariat und dem SLaatsverlag sud- 
ventiomerte: „Z e n L r a l a n st aL t für K i n d eraus stel 
ln n g e n", die in Moskau, ihre eigenen Räume besitzt. Sie ist die 
Keim-elle des K i n d e rnzüs e u.ms, das Herr Meksin in nächster 
Zukunft verwirklichen will. 
Kindermuseuw: was ist das für ein anmutiger Begriff! Er 
entstammt der EKnntuis, daß die meisten Museen in der Welt 
nur für die Erwachsenen sind. Oder, wie Dr, Meksin sich zu äußern 
beliebt: „Sie dienen mehr den vornehmen Ausländern als dem 
werktätigen Volk". Woraus hervorgeht, daß er auch die Mehrzahl 
seiner erwachsenen russischen Landsleute in allen Bildungsfragen 
für halbe Kinder hält, die sich in den überladenen, großen, 
schweren Museen nicht recht Zu bewegen wissen. 
Mekflns Kindermuseum ist natürlich kein Museum im eigent 
lichen Sinn, sondern eher eine auf das kindliche Verständnis Zu 
geschnittene Schau aller möglichen instruktiven Gegenstände. (Ihre 
Räpme werden täglich von mehreren hundert Moskauer Kindern 
besucht: Einzelgängern, Schulgruppen, Pionieren usw.). Die 
Ausstellung nimmt nur eine Stunde Zeit in Anspruch; erfrischt 
durch ständige. Gegensätze im Material, im Stil und in der Stim 
mung ihre Besucher; legt den Hauptakzent auf die anonymen 
künstlerischen Leistungen statt auf die Namen der Künstler. Nnh 
Filmorchester gab und niemand daran dachte, kunstvolle musikalische 
Illustrationen zusammenzustellen, in einem kleinen Kino vom frühen 
Nachmittag bis in die Nacht hinein aufspielte. Er war ein ehe 
maliger Konservatorist, ein verbummeltes Genie, wie die Leute 
sagten. Da er von dem Platz aus, an dem der Raumnot wegen das 
Instrument stand, die Leinwand nicht sehen konnte, spielte er, was 
ihm durch den Kopf ging: Militärmärsche mit Variationen, empfind 
same Lieder und glitzernde Passagen, die er je nach Bedarf improvi 
sierte. Wenn ein tragisches Ereignis eintrat, ertönte oft lustige 
Tanzmusik, wahrend Verlobungsaussichten immer wieder durch 
düstere Klänge gefährdet wurden. Schon längst paßt die Kinomusik 
haargenau zu den einzelnen Szenen des Films, aber ich habe nie 
wieder eine vernommen, die besser Zu ihnen gepaßt hätte als jene, 
die sich gar nicht nach dem Film richtete. Ein ähnlicher Zusammen 
hang, so meine ich, besteht auch zwischen dem Spiel der Hände des 
beleibten Herrn in der Bar und den Bildern, die vor seinem 
inneren Auge abrollen. Sie gleichen einem geheimen Filmstreifen, 
den der rasche Wechsel der Melodien wider Willen untermalt. 
Nur in seltenen Fällen taucht der Klavierspieler einmal aus 
seiner Versunkenheit auf. Dann hebt er laut zu singen an und 
gröhlt mit der dunklen Stimme des Trinkers einen Schlagertext. 
Die Hände sind bei ihm, und er ist bei seinen Handen. Auf seinem 
Gesicht liegt ein seliges Kinderlächeln, und der Gesang sprengt bei 
nahe die niedrige Bar. Aber wie durch ein Wunder scheint er den 
Gästen so leise zu klingen' wie die Fingerübungen, und sie reden 
weiter, als hörten sie nichts, als werde überhaupt nicht gesungen^ 
Und dennoch verändert der Gesang alle Dinge im Raum. Solange 
er dauert, weicht das Fluidum, die Pelzmäntel verlieren ihren 
Glanz, die Schönheit verblaßt. Der singende Spieler, der seine 
Hände wieder getroffen hat, herrscht über die Bar. Er weiß es 
allerdings nicht, er singt nur mit selbstvergessenem Lächeln. Wer 
ohne daß er es weiß, erhebt sich neben ihm sein Begleiter, das 
Elend, vor dem er in den Gesang und das Lächeln geflüchtet ist. 
Stumm richtet es sich auf und wirft einen Schatten auf die Gesell 
schaft, in der er allein sein muß, ganz allein. 
S. Kracauer.
	        

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