Skip to main content

Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

stand, daß er ein ausgeräumtes Zimmer ist, in dem die Klienten 
vor spiegellosen Wänden sitzen. Wer schließlich geht es ja so, 
und wer wollte gern Las eigene Elend bespiegeln? 
Der Müßiggang,. der sicher auch dort, wo er nur zwangsweise 
herrscht, aller Laster Anfang ist, erzeugt ein Geflüster, das die 
Halle genau so erfüllt wie das Ofenrohr. Aus diesem Raunen 
heben sich nach und nach immer wiederkehrende Gespräche heraus, 
die sich auf Rauchwaren, Schuhe, Sweater und andere Objekte be 
ziehen. Obwohl auf den Wänden geschrieben steht: „Handeln 
strengstens verboten", wird eben doch in gewissem Umfang ge 
handelt, und die Verwaltung tut recht daran, daß sie die Leute 
stillschweigend gewähren läßt. Denn die Paar Dinge, die hier von 
Hand zu Hand gehen, sind schlechterdings lebensnotwendig. Ich 
habe sie betrachtet, diese Zigaretten und Gummisohlen, und es 
war mir dabei zumute, als hätte ich sie Zum ersten Male gesehen. 
In der Hallenwelt hören sie auf, bloße Waren zu sein, sie werden 
zu unersetzlichen Gütern, und nichts vermöchte mehr zu rühren als 
der Schimmer, der ihre Armseligkeit umgibt. 
Ausgesteuerte und Leute, die in der Wohlfahrt sind, bilden das 
Gros. Auch Doktoren seien unter ihnen zu finden, betont der 
Leiter nicht ohne einen Anflug von Trauer und Stolz. Er be 
gleitet mich durch den Saal, um einen der Doktoren aufzutreiben, 
kann ihn aber nirgends entdecken. Sobald er sich nähert, treten die 
improvisierten Handelsherren möglichst unauffällig den Rückzug an. 
Zur Entschädigung für den ausgebliebenen höheren Wärmekunden 
zeigt er mir den durch Holzwände abgetrennten Frauenraum, in 
dem die Weiber so durcheinandergewürfelt Hocken und schwatzen, 
als erwarteten sie an einer östlichen Grenzstation die Ankunft des 
Zuges. Der Zug kommt aber nicht. Sie sind jung und alt, häßlich 
und hübsch. Eine flickt einer anderen den zerrissenen Rock, und 
mehrere von ihnen betätigen sich wahrscheinlich in zweifelhaften 
Berufen. Ich bemerke, daß es bei ihnen und in der Männerhalle 
friedliebend zugeht, um nicht zu sagen harmonisch. Der Führer be ¬ 
stätigt diese Beobachtung und fügt hinzu, daß Verlauste und Be 
trunkene nicht ausgenommen werden. Die Trunkenbolde, nebenbei 
bemerkt, heißen „Brennabor", eine Wortbildung, die weniger von 
den Gummireifen als vom Brennspiritus herrührt. 
„Wie leben alle diese Leute?" erkundige ich mich Leim Leiter, 
„Viele von ihnen", erwidert er, „verbringen hier die Zeit, 
zwischen 7 und 3; solange ist die Halle täglich, auch Sonntags ge 
öffnet. Um 5 Uhr suchen sie das Asyl auf, wo sie schlafen können 
und verköstigt werden. Das Asyl schließt um 6 in der Frühe und 
dann kommen sie wieder zu uns." — 
Nach einer Pause: „Arbeit zu finden, ist schwer. Und wenn sie 
gefunden wäre, müßten die Leute erst noch eine Zeit lang unter 
stützt werden, um sich wieder an ein menschenwürdiges Dasein zu 
gewöhnen." 
Geboten wird den Besuchern ein halber Liter Kaffee für 5 Pfen 
nige und vier Brötchen zu 10 Pfennigen. Eine Kostprobe über 
zeugt mich davon, daß der Kaffee anständig schmeckt. Die mehr 
geistigen Ansprüche werden durch einen Radioapparat und -ins 
Bibliothek zu befriedigen gesucht. Das Lesebedürsnis soll kuriosei- 
weise an den eigentlichen Sonntagen größer sein als an den werr-, 
tägigen; vielleicht aus dem Wunsch heraus, die Erinnerung an jene 
Fcierzeit zu bannen, die mit dem Einerlei des notgedrungenen 
Feierns nichts gemein hat. Ich durchstöbere die sogenannte Biblio 
thek, eine Zufallskollektion abgelegter Werke, die wer weiß wo ihren 
Weltlauf begann, dann vielleicht in ein Krankenhaus gekommen ist, 
und nun in einem Schränk von mittlerer Größe ihre letzte Ruhe 
statt gefunden hat. Sie bestreitet ihre Existenz mit HarbouZ und 
Brachvogels, erstreckt sich von den „Quitzows und ihrer Zeit" bis 
zu Anzengruber und erhebt sich in einem Anfall von Uebermut zu 
Knechts Kommentar zur biblischen Geschichte. Am meisten Gewicht 
haben die Pensionierten Zeitschristenbände von „Nord und Süd" 
und der „Gartenlaube" aus den achtziger Jahren. Die Unter- 
Haltung, die sie liefern, ist den Interessen der Gegenwart nicht 
minder entrückt wie die Halle selber und ihre Besucher. 
Das Lagesheim in der Neuen Konigstraße muß früher eine 
Wohnung gewesen sein. Ihre Leiden geräumigen Zimmer liegen im 
Parterre und blicken auf einen ruhigen Hof. Seine Abgeschieden 
heit drückt den Zustand aus, in dem sich die Gäste des Heims be- 
fmden. Diese Sozialrentner, diese Unterstützungsempfänger, die 
durch einen Unfall zu Schaden gekommen sind — auch ihnen hat 
das Leben den Rücken gekehrt. Nun überdauern sie hinter ihm die 
endlosen Nachmittage in den zwei Stuben. 
Herrscht in der Ackerstraße die Armut, die nichts zu verlieren 
Hai und darum immer noch einen Ausstieg erhoffen darf, so hier 
eine die endgültig herabgesunken ist und nichts mehr gewinnen 
kann. Jene wäre der Rebellion fähig; diese muß verzichten lernen. 
Die meisten der 40 bis 50 Männer und Frauen, die das Heim 
bevölkern, haben bessere Zeiten gesehen. Einer von ihnen war 
26 Jahre lang Dolmetscher, ein anderer Reichsbankbote. Ihre 
Kleidung und ihr Benehmen bezeugt noch das Verlangen, den 
Schein der Verhältnisse zu wahren, aus denen sie kommen, und 
ein ehemaliger Eiseleur wirkt beinahe als Herr. Sie erinnern sich 
ihrer Herkunft und erlangen dadurch einen Halt; sie addieren un 
willkürlich zum trüben Licht, das die Zimmer vor der Dunkelheit 
rettet, den Glanz der Bürgerlichkeit hinzu, in deren Schatten sie 
sitzen. Kleiner verarmter Mittelstand — er wird sich nicht wieder 
erheben. 
Der Ort, an dem er seine letzte Zuflucht findet, ist kein Depot 
wie die Halle in der Ackerstrabe, sondern im wörtlichen Sinne ein 
Heim. So ist es in Ordnung; denn da die Besucher ohne Anschluß 
an die kämpfenden und aufstrebenden Schichten sind, kann ihnen 
nur eine Stätte Vorbehalten bleiben, die zugleich eine Sackgasse 
ist. Das Heim gewährt ihnen einen Unterschlupf, aber man zieht 
durch ein Heim nicht hindurch. „Die Leute bei uns", sagt mir der 
gutmütige Verwalter, der jeden Kunden freundlich behandelt, 
„kommen in der Regel hierher, um ihrer Einsamkeit Zu entrin 
nen. Wenn sie auch alle ein einigermaßen geordnetes Zuhause 
haben, so stehen sie doch allein in der Welt und sind auf die 
Freuden angewiesen, die ihnen ihre Gesellschaft bereitet". Als ein 
Bollwerk gegen die Oede draußen ist das Heim in der Tat von 
einer Gemütlichkeit, die den Außenstehenden ungleich trostloser 
anmutet als das unbehagliche Wesen der Ackerstraßenhalle. Noch 
hängt oberhalb der Durchgangstür das girlandengeschmückte Oval: 
„Fröhliche!!! 
Weihnachten!!!", 
Hessen Ausrufungszeichen die Anstrengung verraten, die hier 
die Fröhlichkeit kostet. Es soll vielleicht in der Absicht überwintern, 
durch seine magische Gewalt die entschwundene Fröhlichkeit fest 
zuhalten. Und an der einen Schmalwand hat sich auch das Klavier 
eingestellt, das wie die verblichenen Girlanden zu den unver 
meidlichen Repertoirestücken solcher Zimmer gehört. 
Die Alten rauchen ihr Pfeifchen, dösen vor sich hin und spielen 
Skat, Schafskopf und Schach. Sie wärmen sich nicht nur in den 
Räumen, sie erwärmen sich mehr noch aneinander. Wie die Be 
sucher der allgemeinen Wärmehallen sind sie mit den Errungen 
schaften des Radio ausgestattet und verfügen über eine Bibliothek, 
die sogar verschiedene neuzeitliche Kriminalromane enthält. Der 
Verwalter drückt den Wunsch nach Zeitungsspenden und illustrier 
ten Blättern aus, und es wäre den Zurückgezogenen auch wirklich 
zu gönnen, daß sie ein Echo des Lebens erreichte. Denn das leib 
hafte Leben geht am Hof vorbei und über sie weg. 
Ein kalter Wind fegt durch die Straßen, die ohne Sanftmut 
sind. Auf dem Bülowplatz leuchten Transparente mit den Namen 
von Lenin und Stalin. Und gestern ist wieder einmal eine deutsche 
Schönheitskönigin gekürt worden.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.