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fullscreen: H:Kracauer, Siegfried/01.11/Klebemappe 1932 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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daß man jede Russin für drei Paar Seidenstrümpfe 
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maßen von sich aus jene tragikomischen Effekte,’ 
deren das Buch voll ist. Der Mietshausblock, dessen 
Bewohner sich vor der Toilette drängen, die Wand 
zeitung der Kindergruppe Budjonny, die Tante, die 
aus unerfindlichen Gründen auf den Zehenspitzen 
steht: das alles ruft Gelächter hervor und ist doch 
Wichtig erscheint mir der Roman vor allem in 
sofern, als er zu zeigen versucht, daß der gebildete 
Mittelstand auch darum zugrunde geht, weil er 
sich selber zersetzt. Der Held des Romans, 
ein Ingenieur Kisljakow, der eine Anstellung im 
Moskauer Zentralmuseum gefunden hat, ist ein er 
bärmlicher Wicht, dem es nur noch auf die Er 
haltung seiner Existenz ankommt. Gesinnungslos 
paßt er sich den Wünschen des neuen kommunisti 
schen Museumsdirektors an und läßt ihn im Stich, 
sobald er von den Jungkommunisten abgesägt wird. 
Nichtso, als ob dieser Kisljakow ein Streber wäre'; 
aber er ist ohne Halt und daher zum Ueberläufer 
verdammt. Solche Figuren, die auch Dostojewski 
gezeichnet hat, waren sicher typisch für den un- 
revolutionären Teil der rusischen Intelligenz, der 
Ordnung, flüchtet in die Religion und verzehrt sich 
innerlich. Die Hauptenttäuschung bereitet ihm 
seine Frau Tamara, die offenbar eine Uebergangs- 
erseheinung darstellt, ; Statt Wie ihr Mann den 
überkommenen Sitten treu zu bleiben, stürzt sie. 
sich ins freie Leben, verführt den 1 schwachen Kis- 
Ijakow, der nicht will und dann doch will, und 
schläft im, Interesse ihrer Filmlauf bahn noch mit 
verschiedenen anderen Leuten. Nachdem sie auf 
diese Art und Weise die zynische? Behauptung 
eines ausländischen Regisseurs bewahrheitet hat, 
Der Roman: „Drei Paar Seiden- „Eis chbein streckt die Was fen", das mit dem Ro- 
Untergang der Gebildeten in Rußland. 
Von S. Kracauer. 
gewesen, sein. Die Gründe hierfür sind nicht 
schwer zu erraten. Zunächst berichtet der Roman 
vom Schicksal der gebildeten russischen 
Mittelschicht, das die gleichen Schichten an 
derer Länder natürlich besonders stark berührt. 
Dann ist er das Produkt einer gut geschulten Er 
zählerkunst und einer Anschauungskraft, der sich 
. weder zartere seelische Vorgänge noch die robusten 
Fakten, der Außenwelt versagen. Beide Reihen von 
Ereignissen greifen unaufhörlich ineinander, und 
der Zwang, ihr Gemisch zu vergegenwärtigen, be 
stimmt den Autor zu einer Darstellungsweise, die 
sich am ehesten als komischer Realismus bezeich- 
neu läßt. Mit ihrer Hilfe gelingt es, den Auf 
lösungsprozeß, dem die bürgerliche- Intelligenz in 
Sowjetrußland unterliegt, vielseitig zu beleuchten. 
Grauen und Lächerlichkeit sind in diesem Prozeß 
• Eine entwurzelte Gesellschaft, die nicht mehr aus 
und ein weiß und. von. der ins Rollen gekommenen 
Lawine der Sowjetmacht allmählich erdrückt wird. 
Die Schilderungen, die Romanow von dem ungleichen 
Alltagskampf zwischen Siägern Und Besiegten ent- 
wirst, sind um so überzeugender, als er auch die 
neuen Herren mit Kritik nicht verschont. Er ver 
spottet die Kinderkollektive als Uebertreibungen der 
Organisationssucht und' ist auch nicht gut auf die 
Wichtigtuerei der Jungkommunisten zu sprechen. 
Der Genosse Museumsdirektor, der das Museum vor 
trefflich umgestaltet hat. wird von der jungkommu 
nistischen Zelle dieses Instituts einzig und allein 
aus dem Grunde vertrieben, weil er bei derReorga- 
nisationsarbeit ohne ständige Fühlungnahme riit 
der; Zelle vorgegangen sei. Sein despotisches Vor 
halten erscheint nun in dem Roman —das aber ist 
entscheidend — nicht etwa als ein schlimmes Ver 
säumnis, sondern als ei zeitersparendes Handeln, 
d äs- sich am Ende billigen ‘läßt, jedenfalls werden 
.die Jungkommunisten, Spürbar satirisch traktiert, 
und daß sie schließlich gerade Kisljakow zum ach- 
foleerdes Direktors küren,, ist eine Pointe, die ihre 
Zellen Weisheit nicht eben verherrlicht. , 
• Dennoch~ glaubt Romanow nicht, daß vorn ge 
bildetenMittelstand noch je das Heil komme. Im 
Gegenteil, er setzt ihn auf den Aussterbeetat, er 
läßt ihn in der Gewißheit seines Unterganges ver 
enden. „Die Zukunft/gehört einer anderen Rasse," 
sagt Arkadi zu Kisljakow auf den letzten Seiten, des 
Buchs. „Verstehst du? Einer anderen Rasse... Die 
Arbeiter sind doch eine andere. Rasse, die. nichts mit 
uns- gemein hat! Ratten kann ich noch verjüngen, 
aber einen Stand, der seinen inneren Halt verloren 
hat, kann man nicht mehr verjüngen, das ist ausge- 
daß man jede Russin für drei Paar Seidenstrümpfe schlössen.“ — Der Ohnmacht, die aus dieser Selbst- 
kaufen könne, packt sie zuletzt der altmodische bezichtigung spricht, ist allerdings nicht mehr auf 
Ekel vor sich selber an und sie bringt sich um. zuhelfen. 
auch schrecklich. Schließlich mag der Autor die 
ausländischen Sympathien noch dadurch gewonnen 
haben, daß er, wie ja schon die von ihm verwandten 
Stilmittel beweisen, seinen Standpunkt nicht offen 
enthüllt. Er geißelt die neuen Machthaber nicht 
minder als die Gebildeten, und obwohl er deren 
Position preisgibt, bekennt er sich keineswegs en 
thusiastisch zur Arbeiterregierung. Das reizende, 
seinerzeit von mir besprochene Buch Roesmanns: 
Strümpfe“ von Panteleimon Ro manow manows darin übereinstimmt, daß es die Lage tod- 
(Universitas Deutsche Verlags-Aktiengesellschaft,. geweihter Schichten behandelt, hat sich besser vor 
Berlin. 269 Seiten. Geb. N 6.50) soll außer in Mißverständnissen geschützt, 
Rußland auch in England und Italien ein Erfolg 
durch den Zarismus gekrümmt und verbogen wurde. 
- . Der Nebenheld, ein gewisser Arkadi, ist nicht, so 
unzertrennlich verbunden und fordern gewisser- geschmeidig 'wie sein Freund Kisljakow, sondern 
' verzichtet auf Kompromisse'mit der neuen Staats-
	        
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