Skip to main content

Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.01/Klebemappe 1921 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Döensch erstehe! 
Le. 
deutschen Geistes nüt sich selber, ste galt letzten Endes nicht 
nur der Jugend, sondern einer in unserem Volk verbreiteten 
Denkweise überhaupt. Wohl der wichtigste Teil seiner Dar 
legungen betraf das Verhältnis des Einzelnen zur Gemein 
schaft. Mit allem Mchdruck hob er hervor, daß der in der 
Jugendbewegung noch vielfach herrschende Hang zur Form 
losigkeit und das Vertrauen auf die gute Gesinnung des auto 
nomen Ichs niemals Zu wirkliche Volksgemeinschaft führen 
rönne. Damit dies-e Heraufwachse, bedarf es nach ihm vielmehr 
eines neuen Willens zur Form, der sich zur Anerken 
nung übermdividueller Bindungen und Gestaltungen versteht. 
Echte Gemeinschaft hat ihren Schwerpunkt nicht im Subjekt, 
sondern jenseits des Subjekts, ste fordert von dem Einzelnen 
Dienst und Achtung vor dem Volksganzen. Stähling geißelte 
euch jenen schwärmerischen, gefühlsseligen Idealismus, der 
verantwortungslos die gegebene Wirklichkeit überfliegt. Ein 
dringlich ermähnte er die Jugend dazu, das Kreuz wirk 
licher Arbeit auf sich zu nehmen, und warnte ste in nicht 
Minder klugen Worten vor prinzipieller Ablehnung und Ent 
wertung jeglicher Autorität. Aus seiner Rede llang die ganze 
Sehnsucht des deutschen Geistes nach GeMtwerdung und Bän 
digung heraus. 
Wie wenig überflüssig Hz war, daß SLählin. so manche be 
denkliche Erscheinungen, die sich in der Jugend zeigen, offen 
enthüllte und einsichtsvoll verwarf, bewiesen die Ausführun 
gen von Eberhard Arnold. Seine überschwängliche Lob 
preisung des „Lebens" und jaulender Lebensfreude mutete 
recht unlebendig an, denn ste beschwor nochmals das vec- 
floffne Stadium der Jugendbewegung herauf. Dieser hochge 
spannte Hymnus auf die Jugend, die Leben ersehnt, das bleibt 
und nicht stirbt, die nach mystischer Einheit ihres Innersten 
mit dm Weltkern drängt und über alles Emengende hinweg in 
allumfassender Liebe wahrer Gemeinschaft zustreöt, verriet nicht 
im mindesten, daß auch die Jugend dem Gesetz des schlich 
ten Werktags untersteht und daß auch ihr die An 
erkennung der konkreten, nicht allein vom schöpferischen Ich aus 
gestaltbaren Wirklichkeit zm Pflicht, wird. Wenn man nicht 
wüßte, wie gut es um die Neuwerk-Bewegung bestellt ist, der 
Arnold angehört, aus seiner allzu dithyrambischen, recht eigent 
lich lebensfremden Leöensphilosophie hätte man es nicht er 
kannt. Gewiß, seine Worte waren von Wanne erfüllt, aber 
was vermochten sie einer Jugend zu geben, die nachgerade des 
Rausches der Worte müde Zu werden beginnt? Es zeugte 
nur von dem gesunden Sinn dieser Jugend, daß ste bei aller 
Achtung vor Arnold doch in der Aussprache seine Darlegungen, 
gestützt auf die von Stählin vorgebmchten Argumente, größten 
teils ablehnte. 
Das in der Rede Stählins verhältnismäßig leise angeschla 
gene Motiv, daß das Heil der Jugend an die Eingliederung 
in das Volksganze geknüpft sei, wurde von Wilhelm Stapel 
(Hamburg), einem Führer der „I u n g de u t s e n", breiter 
ausaesponnen. Den festen Halt, der heute von vielen, am 
stärksten vielleicht von der Jugend, gesucht wird, schenkt nach 
ihm daS Gefühl der Zugehörigkeit zur Volkheit. Das Volk ist 
für ihn eine „Idee Gottes"; es bildet gleichsam den letzten 
RMgrund jedweden geistigen Geschehens. Von seinem deutsch 
völkischen Standpunkt aus übte dieser gemütstiefe Lutheraner 
Kritik ander westlichen Demokratie, die ihm nicht recht unserem 
Wesen angemessen dünkt, weil ste zu wenig die natürliche Glie 
derung des Volkes berücksichtige. Was das Verhältnis der 
Teutschen zu den Juden anöettifft, so betonte Stapel Zwar, daß 
zwischen ihnen Verschiedenheiten bestünden, die auf Rassen- 
eipentüwllchkeiLen beruhten, aber er wünscht nicht, daß daraus 
politische Konsequenzen gezogen würden — eine Stellungnahme, 
die ihm, nebenbei bemerkt, von antisemitischer Seite schon den 
Vorwnrs der Lauheit zuaezogen hat. Seine Rede war rm gro 
ßen und ganzen eine einzige Ermahnung an die Jugend, ihre 
Deutschheit intensiver zu empfinden als bisher und durch Auf 
gehen in dem Volk stch gegen entwurzelnde äußere Einflüsse 
gleichsam immun Zu machen. Die Echtheit und Vornehmheit 
der Gesinnung Stapels benimmt den mancherlei Einwänden, 
die gegen seine Gedanken zu erheben sind, den Stachel. Eines 
,muß immerhin gesagt werden: so grundwichtig auch die tief 
innere Verbundenheit mit der Schicksalsgemeinschast des Vol 
kes ist, sie gewährt doch den ersehnten Halt nur dann, wenn 
über dem Volke ein hoher Sinn waltet, der seine Glieder mit 
einander verknüpft Niemand w'rd angesichts unserer Zerris 
senheit leugnen können, daß ein solcher Sinn heute fehlt. Wie 
«aber soll man in dem Volk allein sicher wurzeln ohne den Logos, 
der es in Wahrheit allererst erschafft? 
Die katholische Jugend, für die Pfarrer Weidner 
fFrankfurt) sprach, hat in gewissem Sinn den Logos Zu e.gen, 
sie bleibt darum vor manchen Verirrungen der sreideutschen 
Jugend bewahrt, die einem hemmungslosen Subjektivismus ent 
springen. Weidner gab einen Ueberblick über die katholischen 
Jugendbewegungen, die sich erst im Anschluß an die freideutsche 
BewtMyg zögernd entwickelt haben, und leitete ihre besondere 
Art aus dem Wesen des katholischen Glaubens ab, dem sich die 
Jugend mit neu erwachter Religiosität zuwendet. Seiner weit 
gehenden Uebereinstimmung mit Stählin verlieh er sreuvigen 
Aufdruck, wie er überhaupt die Gemeinsamkeiten betonte, die 
zwischen der katholischen und der übrigen Jugend bestehen. 
Die Unterschiede lassen stch freilich trotz alledem nicht ver 
wischen. Was der Protestant vom Subjekt her sucht und etwa 
im Bekenntnis zum völkischen Jdesl zu finden glaubt, ist dem 
Katholiken als objektive Heilswahrheit gegeben. In dankens 
werter Weise schilderte Weidner auch ausführlich, wie Innerhalb 
der katholischen Bewegung gewisse Probleme (so z. B. das Ver 
hältnis der Geschlechter zueinander oder das Verhältnis Zur 
WutoriM), die sich nun einmal aus dem Zusammenprall 
jugendlicher Bedürfnisse mit der vorhandenen Wirklichkeit aller 
orten ergeben, ihre Lösung finden. Ein feiner Zug von vielen 
Mg Per.verZrichU.et werden: Die QuMomer sind' der Ansicht, 
daß das „Du" erst verdient werden muß, und haben darum be 
schlossen, sich im allgemeinen mit »Ihr" anZureden. 
Mit der Gedankenwelt der Arbeiterjugeno machte 
ein ausgezeichneter Vortrag von Johannes Schult (Ham 
burg) vertraut. Als diese Jugend stch zu Anfang unseres 
Jahrhunderts Zu verselbständigen begann, bemächtigte sich ihrer 
zunächst die behördliche Jugendpflege; die eigentliche koslöfung 
von den übergeordneten Gewalten in Schule und Haus gelang 
in größerem Umfange erst seit der Revolution. Wie Schult 
hervorhob, wurde dieser Kampf um die Anerkennung jugend 
licher Rechte aus triftigen Gründen lange nicht mit der glei 
chen Schärfe wie tm bürgerlichen Lager geführt. Daß die Ge- 
werkschastsorgamsati^ aus den Arbeiterjugendverbänden eine 
Art von Rekrutenschulen zu machen suchten., darf we'.irr nicht 
Wunder nehmen; wie sich aber die katholische Jugend der allzu 
viel organisierenden Kapläne zu erwehren wußte, so verstand es 
auch die Arbeiterjugend, stch von der Bevormundung zu be 
freien, die von den Sekretären und Funktionären ausging In 
vielem geht ste heute mit der bürgerlichen Jugend zusammen: 
ste betreibt körperliche Uebungen (keinen „Sport"!), gibt sich 
der Sehnsucht nach Romantik hm und erlebt auf ihren Wander 
fahrten das Glück nahverbundener Gemeinschaft. Und «den 
noch bedeutet das alles nicht ganz genau dasselbe wie bei der 
übrigen Jugend, es sind Unterschiede vorhanden, die sich nicht 
ohne weiteres ausheben lassen. Die entseelende FabMätigkeiL 
weckt in den jungen Arbeitern Empörung gegen die soziale Un 
gerechtigkeit, Heäunft und Schicksal schmieden aus ihnen be 
geisterte Anhänger des Sozialismus. Das sozialistische Be 
kenntnis aber verknüpft ste eng mit der Partei, macht ste poli 
tisch aktiv und gewährt ihnen einen sachlich gegrün 
deten Zusammenhalt. Und nun beachte man wohl: 
Diese Jungsozialisten find keine Marxisten mehr. 
In ihrem jugendlichen Idealismus lehnen sie stch, wie 
Schult überzeugend nachwies, gegen die selber dem kapitalisti 
schen Geist entwachsene Formel von der „Vergesellschaftung 
der Produktionsmittel" auf und bekämpfen die materialistische 
Weltanschauung. Sozialismus ist ihnen eine Angelegenheit 
des Herzens, er muß im Menscheninnem hevanreisen, dmwt er 
äußere Wirklichkeit werde. 
Wenn derart die Vorträge bezeugten, daß die Bewegungen 
der Jugend annähernd gemäß den das ganze Volk durch 
ziehenden Geistesströnmngen verlaufen, so offenbarten ste doch 
nicht minder die tiefe Sehnsucht nach Ueberbrückung der Gegen 
sätze. Und wie sollte es auch anders sein? Jugend ist Hinweis 
auf die Zukunft, und wer immer in unserer Zeit der Zerklüf 
tung mit der Jugend in Berührung tritt, um auf sie einzuwirken, 
senkt unwillkürlich den Traum künftiger Einheit in ste ein. 
Unterschiede mildem sich bei dieser Berührung, scharfe Konturen 
schleifen sich ab. In allen Reden schwang denn auch ein ver 
söhnlicher Grundton mit, kaum einer der Sprecher unterließ es, 
auf kommende Gemeinsamkeit hinZudrängen. Laßt uns bald 
einmal das ganze Modell zusammenklappen, so ungefähr sagte 
Pfarrer Weidner, nachdem er jede der verschiedenen Jugend-- 
bewegunaen als wertvollen und notwendigen Ausdruck unseres 
Volksgeistes gewürdigt hatte, auf daß endlich der volle deutsche 
--- Christentum und Spengler. Im Vortragszyklus der. deutsch, 
evangelischen VollSvereinigung sprach am Montag Pros. WMy 
Lüttge <Äertin) vor einer stattlichen ÄuhörML-aft über da» 
Christentum in Spenglers „Untergang des Äbeno.anves. ^acy 
kurzer Schilderung jener apokalyptischen Zustimmung, 
seltsamem Gegensatz zur stegeSjicherm Gewrßheü de» DEsmus be 
findet und im übrigen nicht nur von Spengler allein »erwünscht wird 
ging der Redner zunächst auf den K u l t u r b e g r i > s Spenglers 
näher ein. Er begrüßte es. daß dieser, en.geg-n der aus Fram- 
reich stammenden und vom SozialrsmuZ auMgrrfftnen K 
aufchssung der bürgerlichen AuMrung, die wahre Freiheit nur 
in der Befreiung von der Religion erblickt und alles organisieren 
will Kultur als dm Ausdruck schicksalhaft sich enlwickemoen geisti 
gen Lebens begreift, als eine geschichtlich gewordene umsastende 
Einheit, deren Seele gleichsam zur Zeit ihrer höchsten Entfaltung 
die Religion isll Was die Entwicklung der Kultur be.n^t, 
so zerschlägt Spengler:, wie der Redner memt, den modernen 
Götzen des Fortschritts und behauptet statt dessen das Werden und 
Vergehen einer jeden Kultur. Als Gründe für Speng.ers G.au- 
ben an das Ende gerade unserer Kultur hob er die gegenwärtige 
Herrschaft der Technik und der Massen hervor. Zur Kritik 
der Gsschichisphilochphie Spenglers machte der Vortragende gtt- 
tend. daß die Werke der Wissenschaft und Kunst bleibende Werte 
in sich bergen, die den Wandel der Kulturen überdauern, —as 
Gleiche trifft auch für die verschiedenen Religionen zu, es gut zu 
mal «ür das Christentum. Dieses hat, wie der Redner, im Ge 
gensatz zu Spengler betonte, eine Reih- von Kulturen ersaßt und 
innerlich erfüllt/ es hat das im ersten Jahrtausend so gut getan 
wie auch späterhin und ist darum von dem Schicksal der Emzettm- 
turen unabhängig. Für seine Weiterdauer tpncht u. «. der starke 
angelsächsische Protestantismus, die Renaissance des KacholiPS-. 
nms und der Versuch eines internationalen, Zusammenscymnes 
der protestantischen Kirchen Vor allem aber ist die Zukunft des 
Christentums an unsere GraubrnSgewißheit, an den verantwor 
tungsvollen Einsatz unseres eigenm Wesens geknüpft.
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.