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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.01/Klebemappe 1921 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Phänomenologie das alles leisten soll, was Schaler ihr 
zyMtet, müssen ihr wahre Wunderkräfte innewohnen, und 
man wird begierig sein zu erfahren, welche Bewandtnis es 
eigentlich mit ihr hat. Phänomenologie zielt, um es in der 
hier gebotenen Kürze zu sagen, auf die Erschauung geistiger 
„Wesenheiten" ab, ste hat eS demnach nicht mit der Darbietung 
und Erklärung der vorhandenen Wirklichkeit zu tun, vielmehr 
kommt es ihr gerade darauf an, die unvergleichliche „Wrs- 
heii", d. h. eben das Wesen aller möglichen Ge-Äenheiten 
aufzudecken. Zur Erfassung solcher Wesenheiten ist nach 
Scheler vonnöten, daß der Philosoph Liebe zum absoluten Wert 
und Sein hege, daß er sein natürliches Ich verdemüttge uno 
Selbstbeherrschung übe. Ob freilich die Erfüllung dieser (trotz 
Scheler) psychologischen Vorbedingungen eine hinreichende 
Gewähr dafür bietet, daß der ste Erfüllende wirklich an das 
Wesen der Dinge rührt, wird nicht mitgeteilt. Der Vollzug 
des von Scheler geforderten „moralischen Aufschwungs* bildet 
an stch jedenfalls noch kein zulängliches Kriterium für die 
Wahrheit der auf solche Weise zu gewinnenden Erkenntnisse. 
Das Unternehmen der HerauSarbeitung einer natürlichen 
Religion (bezw. einer natürlichen Theologie) darf sicherlich 
dann allein als geglückt bezeichnet werden, wenn die Ergeb 
nisse, zu denen die von Scheler auf metaphysischem und natür 
lich-religiösem Gebiete geübte „Wesensschau" führt, unbedingt 
einwandfrei sind. Wie schon wenige Proben lehren, wider 
sprechen jedoch diese Ergebnisse einander zum Teil und weisen 
im ganzen eine recht fragwürdige Beschaffenheit auf. Während 
Scheler an einer Stelle z. B. darlegt, daß die Gruppen der 
Wesenseinsichten verschiedener Subjekte (Völker, Rassen usw.) 
verschiedenartig sind, und der durchaus relativistischen Auf 
fassung ist, es könnten diese verschiedenen Einsichten und Ideen 
vom Geiste Gottes alle wahr sein, führt er ein wenig später 
aus, daß durch den aus Wesenszusammenhängen sich ergeben 
den Satz von der Erschaffung der Welt durch Gottes Willen 
berühmte andere metaphysische Lehren über Gott und Welt 
streng widerlegt werden, und spricht wieder an anderem Orte 
von den „entsetzlichen Irrungen" Calvins. Woher stammen 
plötzlich diese Wertmaßstäbe, und Wahrheitskriterien? 
Man fragt vergeblich, oder vielmehr: man ahnt bereits die 
Antwort. Vor, ihrer Erteilung allerdings empfiehlt es sich, 
noch etliche hie natürliche Religion wie das Verhältnis der 
Menschen zur Religion überhaupt betreffende Wesensschauun- 
gen näher zu prüfen. Aus dem Inhalt dieser Schonungen wird 
nwn dann mit aller wünschenswerten Klarheit ihren wahren 
Nrivkäng erschließen und ein Urteil über ihre vermeintliche 
Evidestz und Objektivität sich bilden können. Wie z. B. nach 
SMler eine richtige. Wertmetaphysik den Satz festhalten muß, 
daß alles Weltübel in einer konzentrierten Macht des Bösen 
gründet, und zwar, da das „Böse" nur Wesensattribut einer 
Person sein kann, in der Macht einer bösen Person, so ist es 
nach ihm eins (denknotwendige) Wesenstatsache, daß der Theis 
mus den Glauben an den Sündenfall nach sich zieht, daß die 
Erscheinung des Häretikers und der religiöse Singülarismus 
widersinnig (!) ist usw. Vermittels der Phänomenologie 
bringt Scheler es auch mit Leichtigkeit fertig, die Unmöglichkeit 
einer neuen Religion (d. h. in Wahrheit einer anderen Reli 
gion als der katholischen) für uns Menschen der Gegenwart zu 
beweisen. Da heißt es u. a., daß die Intention aller großen 
„domines reliAlosI" auf die Wiederherstellung der Ursprung- 
lichen Religion abziele (wobei freilich unter Umstanden doch 
so etwas wie eine neue Religion entstehen kann); daß der 
Heilige der „wesettsmäßig höchsten denkbaren Form" schon 
seiner Idee nach der „Einzige" sei (welche Feststellung doch 
an sich gewiß nicht die Heraufkunst eines neuen Heiligen aus- 
schließt); daß die Menschheit als Gattung altere, woraus für 
die ältere Menschheit die Verpflichtung erwachse, gläubig an 
dem festzuhalten, was einst seitens der jüngeren Menschheit an 
transzendenten Realitäten erfahren wurde usw. Tretet nur 
in die Kirche ein, so. klingen ungefähr diese Argumentationen, 
denn jedes andere Verhalten ist „wesensunmöglich", be 
ziehungsweise „widersinnig". 
Doch genug der Beispiele — das Geheimnis der Scheler- 
schen Phänomenologie liegt offen am Tag. ES besteht, kurz 
ausgedrückt, darin, daß Scheler bald unter Verzicht auf 
eigene Wertung gleichsam im leeren Raum das Wesen 
eines jeden Dinges zu erfassen trachtet und bald dann wieder 
die Dinge so beschreibt, wie ste von einem ganz bestimmten 
Standpunkt aus, dessen Einnahme naturgemäß ihre 
Wertung zuläßt, sich dem Beschauer darbieten. Je nach Be 
dürfnis ist er einmal Relativist und das andere Mal - 
Katholik. Wenn er doch wenigstens überall seinen Katho 
lizismus offen zugestände! Aber das eben tut er nicht. 
Meistens streicht er vielmehr dort, wo er gerade den Relativis 
mus über Bord wirft, wo er also z. B. behauptet, daß die Ab 
wesenheit einer unfehlbaren „kirchlichen Autorität" in Heils- 
sacbrn in einer von einem allgütigen und allwahrhaftigen Gott 
geschaffenen und gelenkten Welt widersinnig sei, den vorge 
faßten katholischen Standpunkt fort, gibt die von ihm aus ge- 
wortnSNen' Einsichten für Wrsensnotwendigkeiten aus und 
gründet dann auf diese Wesensnotwendigkeiten wiederum den 
Ein Münchhausen, der sich am eigenen Schöpf aus dem 
Wasser zieht! Als Relativist nrulxrö lui billigt er jedem Volk 
eine eigene Art der Gotteserkenntnis zu, huldigt dem Pluralis 
mus usw.; als Katholik läßt er keine andere Art der GottrS- 
erkennts ÄS die katholisch« gelten, die ober beileibe nicht M 
ihrem richtigen Namen genannt werden darf, sondern eben eine 
pure WesenZnotwendigteit ist. Die, Bewunderung, die man 
der GeschiMchkeit zollen muß, mit der dieser in allen Fahr 
wassern der Phänomenologie kundige Lotse zahllose gefährliche 
Klippen umschifft, vermag nicht das Unbehagen auSzulöschen, 
das sich bei solchem irrlichternden, schon rein im Stile übrigens 
sich ausprägenden Zickzäckkurs des kritischen Geistes unfehlbar 
bemächtigt. 
Ueber die Willkür einer ganzen Anzahl sogenannter 
„Wssenöschauungrn" braucht kaum noch ein Wort verloren zu 
werden. Subjektiv bedingte Meinungen verwandeln sich uni«r 
der Hand in objektive Wahrheiten, die im Sein der Gegeben 
heiten selber gründen sollen; gleichviel, ob Scheler hier tiefer, 
dort oberflächlicher als andere sieht, stets muß jedenfalls daS 
Wesen der Dinge daran glauben. Diese -Willkür artet zudem 
nicht selten in leere Scholastik aus, weil Scheler mitunter Sätze, 
die weder unbedingt gelten noch in ihrer Allgemeinheit ein- 
gesehrn werden können (wie z. B. den Satz, daß Erkenntnis 
stets in Liebe fundiert sei, oder den Satz, daß jeder endliche Geist 
entweder an Gott oder an einen Götzen glaube), zu »Wesens 
apiomen" stempelt, und dann ander« Sätze aus ihnen ableitet, 
die man nun, je nach Veranlagung, glauben mag oder nicht. 
Und wie verhält eS sich schließlich mit der Phänomenologie 
der natürlichen Religion? Hat der Relativist Scheler dar 
Wort, so gibt es eine Mannigfaltigkeit natürlicher Religionen. 
Spricht der Katholik Scheler, so ist die natürliche Religion 
nichts weiter als verschämter Katholizismus) beziehungsweise 
Theismus, der jederzeit bequem in den Katholizismus ein 
münden kann. Mit der Schaffung dieses Zwitters von 
natürlicher Religion hat Scheler sich recht eigentlich zwischen 
zwei Stühle gesetzt. Den Katholiken macht er es mit 
ihr nicht recht, weil er durch ste Katholische Anschauungen 
relativiert und die konkreten Heilswahrheiten der KirckM 
in einer Weise phänomenologisch unterbaut, die ihre 
dogmatische Bedeutung äo kuvto aufhebt.') Gewiß, die 
Natürlich« Religion ist kirchliche Lehre, aber eben weil sie 
das ist, können ihre Gehalte nicht vorauSsetzungSloS im 
leeren Raum erkannt werden. Den Nichtkatholiken wiederum 
macht Scheler es nicht recht, weil sie hinter seinen WesenSon- 
schmmnaen sehr bald den verkappten Katholiken herausspüren 
and mißtrauisch werden gegen Erkenntnisse, deren Quelle so 
geflissentlich verborgen gehalten wivd. Es wäre besser ge- 
kvesen, Scheler hätte entweder seinen Standpunkt klar enthüllt. 
oder seine Standpunktlostgkeit wirklich durchgeführt. Wer aber 
wie er Jeden befriedigen will, befriedigt schließlich niemanden. 
, Bleibt di« philosophische Aufgabe ungelöst, so Kann auch die 
pädagogische Absicht nicht erreicht werden. Daß Anhänger 
der verschiedenen Konfessionen sich auf der von Scheler kon 
struierten Brücke einer natürlichen Religion treffen oder gar 
vereinen, ist nach dem Gesagten Kaum zu erwarten. Fraglich 
erscheint auch — und Katholiken selber werden das wohl am! 
^ehesten bestreiten — ob man gerade durch die Pforte oer Phä-' 
nsmenologie zum Katholizismus gelangt, ob gevade Wesens 
schau missionierende Wirkungen auszüüben vermag. Die Phä» 
nsmenologie ist, wie nicht zum wenigsten das Beispiel Sche- 
lers lehrt, gleichsam «in „Mädchen für alles", sie läßt stch vom 
Buddhisten ebenso benutzen wie vom Protestanten oder vom 
Katholiken. Wenn Scheler sie als Vorspann katholischer Welt 
anschauung verwendet und wohl auch mißbraucht, so erweist 
er sich damit als rechter Eklektiker, denn nur der Eklek 
tiker in religiösen Dingen wird derart unter Zuhilfenahme 
phänomenologischer Betrachtung metaphysische Erkenntnisse 
und religiöse Heilswahrheiten zusammenbiegen wollen. 
Das ist ein Verfahren, Lei dem sowohl die naive Gläubig 
keit wie die philosophische Unbefangenheit verloren geht und 
lediglich ein Kunstprodukt übrig bleibt, das bestenfalls dem ge 
bildeten Spätling Genüge leistet. Wer kennt ihn nicht, den 
Intellektuellen von heut«, der, well er eS im Vakuum der 
GlaubenSlostgkeit nicht mehr auShält, aus Grund romantischen 
WiüenSemschiusses irgendwo Unterschlupf sucht? Ihm viel 
leicht wird durch Scheler der Weg hinüber zum Katholizismus 
geebnet. Menschen dieser Art aber, die solchen Schleichweg 
der Schwäche, wenn auch einer sehr begreiflichen Schwäche, 
wandeln sind gewiß nicht die Besten; begehren sie doch vor 
eilig Erfüllung ihrer kurzatmigen Sehnsucht, statt im Vakuum 
tapfer ouszuharren und zu — warten. — Durchaus positiv hat 
man es im übrigen zu werten, daß Scheler auch durch jÄn 
jüngstes Buch wiederum jene dem katholischen Wesen eigene 
kontemplative Geisteshaltung auSzubrriten und zu stärken 
sucht, die ein unerläßliches Gegengewicht gegen leerschwingende 
Betriebsamkeit und gegen einen Aktivismus ist, der in der 
Bewegung an sich schon einen Selbstzweck erblickt. 
Die Unhaltbarkeit der philosophischen Grundpofltion Schelers 
besagt nichts wider die Bedeutung seiner philosophischen Lei-f 
stuvgen innerhalb weiter von ihm durchmessener Drukbereich« 
Dieser mit den -'^uzcndsicn Gaben ausgestattete Geist bewährt 
ÄsPsy ologe ei-en Tiesbltck, wir ihn heule wohl kaum ein 
-Lenker aufweist. Seine in das neue Werk mit ausgenommen« 
Abhandlung über „Reu« und Wiedergeburt" B. ist, von 
ett chen sehr anfechtbaren Stellen abgesehen, «in Meisterwerk
	        
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