Lr Basel, 3. Septbr.
Der XV. Zionistenkongreß, auch ,^Fubiläumskongreß" ge
nannt, weil vor dreißig Jahren der erste Kongreß zu Baiei
stattfand, tagt in dem Gebäude der Mustermesse, das seiner
großzügigen Anlage wegen für Kongreßzwecke besonders ge
eignet ist. In seinen Vestibülen, Sitzungszimmern und Sälen
treffen zusammen: ostjüdische Gestalten, die mit ihren Bärten
chassidischen Geschichten entstiegen zu sein scheinen; palä
stinensische Juden der verschiedensten Herkunft und Färbung
(unter ihnen ein Vertreter der Yememten, arabisch anzu-
sehen, mit einer Stimme, die an Vogelschreie erinnert); ame
rikanische Juden, die eher Amerikanern als Juden gleichen;
schmalglibdrige Männer, deren Erscheinung die Anpassung an
die lateinische Rasse verrät; Patriarchenhäupter im Schutze
ihres Käppchens und international abgeschliffene Gesichter.
Der Buntheit dieser Physiognomiken Erdkarte
entspricht die der Idiome. Viel wird Hebräisch gesprochen,
das in der Debatte mitunter passioniert und bewegt aufklingt;
ferner Jiddisch, das sich bald ganz fremd anhört, bald wie
verderbtes Deutsch; natürlich auch Deutsch und Englisch, und
auf den Korridoren, noch einige andere Sprachen. Man hat
die Auswahl.
Die Kongreß-Organisation, die bei einem solchen
Welt-Rendezvous nicht eben einfach ist, verdient besondere An
erkennung. Alle äußeren Reibungsmöglichkeiten sind auf ein
Windestmast eingeschränkt. Ein ganzes Aufgebot jugendlicher
Ordner, zu denen Keouts verschiedener Grade zählen,
verteilt den Menschem'Einlauf und auch für die rasche Druck
legung der Reden ist gesorgt.
Das zionistische Parteiwesen ist von einer Kompli
ziertheit, die unsere deutschen Parteiverhältnisse in den Schat
ten stellt. Den an größere Maßstäbe Gewöhnten, mutet es
zunächst wie ein Gekrabbel unter dem Mikroskop an — oft nur
minutiöse Unterschiede zwischen den Fraktionen, die sich zu
dem mit manchen Forderungen überkreuzen. Der Vergleich
mit den Parteiungen in normalen europäischen Ländern wird
dadurch erschwert, daß sämtliche Weltanschauungsgruppen und
Landsmannschaften außer den in der allgemeinen Situation
begründeten Stellungnahmen noch ihre besondere zionistische
Der HaseLer Zionistenkongreß
Die Krisis imZisnismus.
(Von unserem Sonderberichterstatter.)
Das Bild ist glänzend, die Stimmung ernst, ja gedrückt.
Trotz des Optimismus, der stellenweise zur Schau getragen
wird, den Sokolow zumal in seiner großen Rede unter
strich, als er von dem „Siegeszug des Zionismus" sprach —
der achtundsechzißjährige Sokolow, der rund zehn Sprachen
meistert, Diplomat der alten französischen Schule und eine ge
glückte Synthese aus oftjüdischem und romanischem Wesen,
voller gewinnender Komplimente für jedermann, die er aus
einer unerschöpflichen Tüte holt . . .
Zur gedrückten Stimmung besteht Grund genug. Die
zionistische Bewegung befindet sich in einer Krise, wie sie
sich schlimmer kaum denken läßt. Sie ist schlechterdings nicht
wegzuleugnen, die Krise, und alle reden von ihr; je nach der
Parteirichtung beschönigend oder in Worten der Anklage gegen
die Exekutive bzw. die Mandatsverwaltung.
Die Krisis ist im wesentlichen durch die folgenden Tat
sachen bestimmt:
1. Durch die Defizitwirtschaft. Das akkumulierte
Defizit beträgt jetzt 151 000 Pfund (gegenüber 71 000 Pfund
im Vorjahre).
2. Durch die Arbeitslosigkeit. Zur Zeit befinden
sich in Palästina etwa 8000 jüdische Arbeitslose, bei einer
Gesamtbevölkerung von ungefähr 151000 Juden. Die Ar
beitslosigkeit hat im Frühjahr 1926 eingesetzt und ist die Folge
einer Zu starken Einwanderung in den Jahren 192425
(rund 45 600 bis 50 000 Menschen), deren Zrckassung man der
Exekutive vielfach zum Vorwurf macht.
3. Durch die Abwanderung. Sie hängt naturgemäß
mit der Arbeitslosigkeit zusammen und beträgt seit Herbst 1926
durchschnittlich 500 Mann im Monat. Die Zahl der neuen
Einwanderer ist gegenwärtig geringer als die der abströmen
den Menschen.
4. Durch die Handhabung des Steuerwesens und der
Zölle von Seiten der englischen Regierung. Die Art der Ab
schätzung lastet vor allem auf den neugegründeten Kolonien.
Ferner beklagen sich die jungen Industrien über ein zu ge
ringes Entgegenkommen der Mandatarmacht.
Zu der Krise ist noch Zu bemerken, daß die palästinensische
Landwirtschaft am wenigsten von ihr betroffen wird. Die
Krise tritt besonders stark in Tel Aviv auf, das die er
wähnte Einwanderung vor zwei bis drei Jahren aufzuneh-
men hatte, ohne sie absorbieren zu können, da die Hauptmasse
der Einwanderer sich aus dem kleinen polnischen Mittelstand
zusammensetzte, der seinen Beruf nicht wechseln wollte. Kein
Wunder, daß ihm die Existenzmöglichkeit fehlte und das ameri
kanische Gründertempo, mit dem die Stadt aufgebaut wurde,
sich als überhöht erwies.
Professor Ehaim Weizmann erklärte in dem für die
Exekutive abgelegten Rechenschaftsbericht, der die General
debatte einleitete, daß der Kongreß nicht eher auseinander
gehen dürfe, als bis Mittel und Wege zur Lösung der
Krise gefunden seien. Der jetzt vierundfünfzigjährige Weiz-
mann hat im Aeußeren Aehnlichkeit mit Lenin: slawische
Züge, Kinnbart, die Empfindungen aus der Sichtbarkeit Zurück
gezogen, um die Augen verschlagen. Vielleicht nicht im Aeußern
nur, denn auch er erweckt (zum Unterschied von Sokolow) den
Eindruck des Realpolitikers großen Stils. Man kennt seinen
Anstieg, der ihn von der unbeträchtlichen Stadt Pinsk über
Genf auf den chemischen Lehrstuhl der Universität Manchester
und nach dem Krieg an die verantwortliche Stelle der zionisti
schen Organisation führte.
Das von ihm unterbreitete „Regierungs"-Programm ist
ein Programm der Einschränkung, das sich mit
dem Erreichbaren begnügen möchte. In politischer Hinsicht
bringt es der Mandatarmacht Vertrauen entgegen und
wünscht die weitere friedliche Cooperation mit den Arabern.
Das Defizit soll allmählich abgedeckt werden; nach seiner
Tilgung zu 55 Prozent und anderen notwendigen Abschrei
bungen verbleibe für das kommende Jahr von den voraussicht
lichen Einnahmen des Keren Hajefsod die verhältnismäßig
geringe Summe von 225 000 Pfund zur freien Disposition.
Sie wäre laut Vorschlag der Exekutive mehr zur Konsoli
dierung der bisherigen Wirtschaft als zu ihrer
Erweiterung Zu verwenden; wobei die landwirtschaftliche
Siedlungstütigkeit eine besondere Berücksichtigung in Anspruch
nehmen dürste. Im Interesse der städtischen Wirtschaft wird
an die Ableitung der überschüssigen Kleinhandwerker und
Kleinhandelsleute in den (zum Teil exportfähigen) Fruchtbau
und an die Erwirkung gewisser steuerlicher und finanzieller
Erleichterungen für die Industrie gedacht. Was die Ardens-
losigkeit betrifft, so ist ihre Minderung durch Begrenzung der
Immigration und durch produktive öffentliche Arbeiten ge
plant — Schaffung von festen Gebäuden und Straßen in
den Siedlungen —, zu denen einige bereits begonnene oder
projektierte Unternehrnungen treten (Ruthenberg-Elektrifi-
zierungswerk, Kalisyndikat Novomejsky der Totes-Meer-Kon-
Zession). Auch will man die Regierung bewegen, zu den von
ihr auszuführenden Arbeiten eine größere Zahl jüdischer Ar
beiter hinzuzuziehen. Selbst wenn diese Maßnahmen verwirk
licht sind, wird auf absehbare Zeit ein Ueberschuß an
Arbeitslosen bestehen bleiben; eine nicht eben günstige Aus
sicht, zu deren Eröffnung sich aber Weizmann durch den Ernst
der Situation gezwungen fühlte, so wenig er sonst auf die
offiziell gebotene Beimischung fröhlicherer Farben verzichten
mochte.
Zum Kolonisieren gehört Geld. Daß sich mit den 225 600
Pfund kaum etwas ansangen läßt, ist jedermann klar. (Einer
der Redner erklärte, die Exekutive hätte mit diesem Budger
gar nicht erst kommen sollen.) Woher das Geld nehmen, wenn
und so lange die palästinensische Wirtschaft sich nicht selbst
erhält? Erwogen wird die Aufnahme einer langfristi
gen Anleihe. Die Möglichkeit ihrer Durchführung wieder
um hängt zum großen Teil von der beabsichtigten Erweiterung
der ab. Diese aber ist ein Kapitel für sich.
Laut Artikel 4 des Palästina-Mandats soll die Zionistische
Organisation Schritte unternehmen, um im Einvernehmen mit
der Mandatarmacht die Mitwirkung aller Juden an dem
Aufbau der jüdischen Nationalen Heimstätte" herbeizufüh-
rem Die Exekutive hat sich des Auftrags durch Verhandlun
gen mit prominenten amerikanischen Nichtzionisten zu entledi
gen begonnen, an deren Spitze Herr Louis Marshall
steht. Daß in erster Linie an Amerika gedacht wurde, ist selbst
verständlich durch die Notwendigkeit ausreichender Geld
beschaffung bedingt. Den bisherigen Vereinbarungen zufolge
soll sich die verbreitete zu 50 Prozent aus
Zionisten und zu 50 Prozent aus Nichtzionisten Zusammen
setzen. Sie wird sich auf Grund eines Experten-Gutachtens
über das gesamte palästinensische Aufbauwerk konstituieren.
Zur Herstellung der Expertise ist eine Kommission ernannt
worden, die von den Herren Sir Alfred Mond, Direktor
Oscar Wassermann, Dr. Lee K. Frankel und Mr.
Felix Marburg gebildet wird. Die von dieser Kommission
gewählten Sachverständigen, die bereits ihre Studien in Pa
lästina ausgenommen haben, werden etwa in einem halben
Jahr die Arbeiten zu Ende bringen. Das Gutachten wird auch
der Anleihe als Unterlage dienen müssen.