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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.03/Klebemappe 1923 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

2.p 
bü-' 
Zudengr u n d s ätzliHLn Schriften MLx WeLtzrs 
und Ernst Troe l t s ch s. 
Von Dr. Siegfried Kraeauer. 
Der nachstehende Aufsatz war bereits geschrieben, als 
die schmerzliche Kunde von Ernst TroelLschs allzu 
frühem Hinscheiden kam. Die deutsche Wissenschaft ver 
liert in Troeltsch einen mit dem ganzen historischen, 
philosophischen und theologischen Wissen seiner Zeit aus 
gerüsteten Gelehrten, der dank einer glücklichen Ver 
einigung von Forscherkraft und Gestaltungsgabe wie vyr 
wenige dGU befähigt war, die großen Zusammenhänge der 
europäischen Geistesgeschichte zu überschauen, ohne in der 
Ueberfülle des Stoffs sich zu verlieren. Es veHeht sich 
von selber, daß die Bedeutung der wissenschaftlichen 
Leistungen dieses umfassenden und bis zuletzt lebendig 
regsamen Geistes durch die folgende Kritik an seiner welt 
anschaulichen Position nicht berührt wird. 
r. 
---le Krisis der Wissenschaften, heute schon* zum Gespräch 
des Marktes geworden, tritt am sichtbarsten bei den empirischen 
Wissenschaften Anlage, die, wie Geschichte und etwa Soziologie, 
her Erforschung geistiger Zusammenhänge, der Erklärung des 
smnhaftsn Handelns der Menschen gewidmet sind. Im Verlauf 
ihrer immer breiteren Entfaltung während des letzten Jahr 
hunderts hat sich erwiesen, daß die Verwirklichung des An 
spruchs auf' Allgemeingültigkeit, den sie als Wissenschaften für 
ihre Aussagen erheben müssen, scheinbar unüberwindliche 
Schwierigkeiten bietet: Suchen sie sich nämlich, um ihre 
Objektivität Au wahren, rein auf die Gewinnung wertfreier 
Erkenntnisse M beschränken, so geraten sie entweder in einen 
inhaltsleeren Begriffsformaltsmus oder in die uferlose Unend 
lichkeit nirgends abschließbarer Tatsachenfeststellungen und ver 
stricken sich am Ende doch in Wertungen; treten sie aber von 
vornherein wertend an den Stoff heran, so verfallen sie gleich 
W AMeginn Mner vom Standpunkt der heutigen Wissen 
schaft aus subjektiv zu nennenden Betrachtungsweise der Dinge,' 
da ja die Werte selber wissenschaftlich-objektiv nicht zu begrün 
den sind. Aus den sehr fühlbar gewordenen Folgen dieses 
Dilemmas: sinnloser Sto ffanh äufung und unaus 
weichlichem Relativismus erklärt sich hinlänglich der 
-Missenschastshüß^ des besten Teils der heutigen akademischen 
Jugend. Sie, die nach Lebensnahe der Begriffe, nach großer 
Zusammenschau der geistigen Gebilde, vor allem aber nach 
einem jeglicher Skepsis entzogenen Wozu verlangt, suhlt Ent 
täuschung darüber, daß gerade die Wissenschaften, die doch vom 
geistigen Sein und Geschehen handeln, ihr Verlangen nicht 
zu befriedigen vermögen und steigert nun' die Empörung wider 
das ihr aufgedrängte Spezialistentum und den Zwang des 
relativistischen Denkens nicht selten bis Zu leidenschaftlichem 
Protest gegen die hier gemeinten Wissenschaften überhaupt. 
Wobei sie nur allzu häufig vergißt, daß ihre Forderungen 
vielleicht von der Wissenschaft gax nicht erfüllt werden können 
und daß überdies die Wissenschaften selber ja lediglich Teilaus 
druck der gesamten geistigen Situation sind, in der wir heute 
stehen. 
M WUsnsHskkskrHZ. 
Buchkunst der Frankfurter Verleger. 
— In der Ausstellung: Neue deutsche Buchkunst, die 
zur Zeit in den ErdgeschoßMen des Kunstgewerbemuseums Zu sehen 
ist sind auch die Frankfurter Verleger, denen wir schon 
in unserem Eröffnungsbericht (vergl. „Stadt-Blatt" vom 27. Febr) 
kurz gedachten, gut vertreten. Der Verlag Rütten'u. Loe- 
n Ln g, bekannt durch seine mustergültigen Buchausstattungren, 
zeigt eine von E. R. Wsrß mit erlesenem Geschmack besorgte Aus 
gabe der „Wanderjahre" und einige der vielverbreiteten Japan- 
Lücher Lafcadio Hearns, die von Emil Orlik ornamentiert wor 
den sind. Die Frankfurter Verlagsanstalt A.-G. war 
tet mit einer vornehmen Liebhaberausgabe der »Odyssee" (Buch 
schmuck und Illustration von Alois Kolb) m Großformat auf 
und führt außerdem, damit man sehe, daß sie sich auch aufs Zier 
liche versteht, ein schmuckes Biedevmeierbandchen vor, in dem Cle 
mens Brentanos Liebesleben abgehandelt wird. Auf Bibliophilen 
mag die stattliche, von Erich Steinthal verunstaltete Ausgabe 
von Hauptmanns ^Websr" eine umso größere LÜtziehungskrast aus 
üben, als ihr Heliogravüren nach Radierungen von Käthe Koll- 
witz beigegebrn sind. Sehr charaktervoll wirkt d^ von Bossert 
Mlsgestattete Ausgabe des im Verlag Englerl u. Schlosser 
erschienenen Dergschen Buches: ^Schlupps, der Handwerksbursche", 
dessen Aufmachung sich dem Inhalt ebenso eng anschnnegt wie ein 
modern behandeltes, von Emil Hölzl illustriertes Variete 
Buch, das die Frankfurter Werkstätten herausgebracht 
hoben. Joseph Baer u. Cs. ist mit einer stilvollen Festschrift 
lKum 70. Geburtstag Geb.-Rats Ebrard) vertreten, desgleichen legt 
die Hausdruckerei der Schriftgießerei Flinsch mit einem in Ehmke- 
Antiqua MsgeWrten GedGKarch Mtz Probtz HM Könmns ich. 
! binaus, die geradezu ungeheuerlich sei. In "äußerst energischen 
Wendungen griff der Redner den Magistrat an, der sich noch nicht 
bemüßigt gefühlt habe, für Abhilfe dieser MßstLnde zu sorgen. Zum 
Schluß stellte er einen entsprechenden Antrag. Auch Stadtv. 
Merten (Zeuir.) übte an dem phantastischen Mschwellm deZ 
Gaspreises Kritik, der heute das Sechstausendfachs des 
FriedsnZpreiseZ betrage Ws solche Steigerungen sich als 
notwendig erwiesen, da könne etwas nicht stimmen und es fei die 
-Frage, ob die Schuld nicht daran liege, daß die GaZgesellschast 
einen gemischt-wirtschaftlichen Betrieb darstelle (Hört, 
hört!). Der Redner beantragte, das Reviflonsamt möge das 
FinanMbahren der Gasgesellschaft nachprüfen und der Stadt- 
Verordneten-Versammlung hierüber Bericht erstatten- Auch regte er 
die^ Ermäßigung des Gas Preises für Großabnehmer an. Stadtrat 
Schulz wachte Mitteilung von dem bereits der Presse bekannt 
gegebenen MagistEbefchluß. der eine neue, den Wünschen der 
Bürgerschaft entgegenkommende Prsisregelung Vorsicht. Die Er ¬ 
! böhung des Gaspreises begründete der Redner mit der Erhöhung 
! der Ausgabe für Löhne und Materialien (I Tonne englischer Kohle 
koste 2MM0 Mk.). Einen Ausfall könne die GaSgesellschast nicht 
hinnehmen. Indessen wolle man dem Publikum die 
ratenweise A^ahlung der hohen Rechmmße« 
gestatten. Stadtv. Ulrich (Soz.) führte die unverhältnismäßig 
große Erhöhung des GaSpreises auf Vorgänge in der Gasanstalt, 
so z. B. auf kostspielige Versuche usw. zurück- Er forderte u. L, 
daß die Abrechnungen in kürzeren Terminen erfolgten und trug 
noch sonst verschiedene WünAe vor- Nach Ausführungen des 
Stadtv Kirsch (Komm.), der eine Staffelung des GaSpreisrZ 
nach der Höhe des Einkommens forderte, Zog auch Stadtv. 
Wagner (Mittelstand) gegen die Gaspreisvolink des Magistrats 
zu Feld. Er verurteilte es, daß die Gasgesellschast dem Handwerk 
und dem Gewerbe so scharfe Konkurrenz mache. Nach Emämnoen 
deZ Stadtv. Rudolf (Deutschnat.) stellte Stadtv. Dr. Gold 
schmidt (Dem.) fest, daß ihn die Argumente des Magistrats 
Vertreters nicht befriedigt hätten Offenbach und Frankfurt hatten, 
was den Bezug der Kohle anbetveffs, die gleichen PrsdukLionZ- 
bedingungew In Offenbach habe man aber nur einen GaspreiS 
von 550 Mk. dem ein GaspreiZ von 900 M. in Frankfurt gegen- 
überstehs- Woher rühre diese Divergenz? Tatsache sei jedenfalls, 
daß daZ städtische Gaswerk in Offenbach im vorigen Jahre 
einen Ueberschuß von 17 Milb an die Stadt abgeliefert 
babe; an dem geringeren Gewinnüberschuß dort könne also diese 
Divergenz nicht liegen. Man müsse die grundsätzlich wichtige 
Frage stellen, ob das Frankfurter Gaswerk technisch auf der Höhe 
stehe und ob nicht bereits heute Rücklagen zur technischen 
Vollendung des Werks angesammelt werden, die natürlich auch 
im Gaspreis Zum Ausdruck kommen. Hierüber müsse der Bürger 
schaft endlich einmal reiner Wein eingeschenkt werden. Der-Red- 
neT richtete an den AuffichtZmt. insoweit er in der Stadtverwal 
tung vertrstsn ist, die dringende Aufforderung, dem FinanMbahren 
der GeseNchast endlich einmal auf dsn Grund Zu gehen, und bs- 
fürwortets schließlich die Annahme deZ Antrags Merten Z. 
Auch Stadtv. Pfeiffer (Soz.) sprach üch in diesem Sinn aus. 
Barmt Tillmetz, der Direktor der GasgesellschaK verteidigte 
die rückwirkende Gestaltung der GaZ preise und begründete, die Er 
höhung der Gaspreise mit dem Ruhrernfall» Schuld an der, Er 
höhung trage Luchbie sechswöchmLIiche RblesspZriode. deren Länge 
eins Bezahlung der GaSgosellschaft in viel schlechterem Gelde 
L^wsrrufe. Die Verkürzung der Wlrseperiods scheitere an der 
Schwierigkeit, daH hierfür erforderliche VWrpersonal emzustellen» 
Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen betonte Direktor Till 
metz gegen Dr. Goldschmidt ausdrücklich, daß das Ost wer? 
der GaZ gefeilschtft technisch durchaus auf der 
Höhe sei. Der Antrag Merten wurde angenommen. 
Schluß der Sitzung nach halb zehn Uhr. 
Max Weber und Ernst Troeltsch, beide von der 
Gewissensnot der jungen Generation mitergriffen, haben sich 
Mit dies« bedrohlichen Krisis auseinandergesetzt und die Frage 
nach den Aufgaben und der Daseinsberechtigung ihrer in den 
Anklagezuftand gerückten Wissenschaft neu gestellt. Troeltsch, 
um bei ihm zu beginnen, unternimmt in dem jetzt erschienenen 
ersten Buch seines neuen Werks: „D e rHistorismusund 
s^eine Probleme" (Dritter Band der „Gesammelten 
Schriften", I. L B. Mohr, Tübingen 19W) eine Art von 
Ehrenrettung des historischen Denkens und der Geschichts- 
philosophie; d. h. es ist ihm darum zu tun, die Weltanschauung 
des Historismus, dergemäß alle Institutionen und Werte aus 
eifern wie immer begriffenen, geschichtlichen Werden abzuleiten 
sind, ihrer Fragwüvdigkeit zu entheben und sie davor zu schützen, 
von einer «historisch gewordenen Jrrgeud verdächtigt zu 
werden. Er enÜviMt in solcher Absicht eine eigens Theorie 
vom Sinn und' Wesen der Geschichtsphilosophie, die ihm keine 
Angriffsmöglichkeiten mehr zu bieten scheint, und knüpft hieran 
eine der Verdeutlichung seiner Position dienende umfassende 
Darstellung der geschichtsphilosophischen Systeme von Hegel und 
Ranks bis Croce und Bergson. Dieser erste kritische Ueber- 
blick x über die Geschichte des Historismus. selber wird von 
einem großen Zug durchweht, er zeugt von AroeltschS oft be 
währter Meisterschaft der Organisation gewaltiger Stoffmassen 
und bestätigt überall — erwähnt sei nur die Abhandlung über' 
die Marxistische Dialektik — seine Kunst der Herausarbeitung 
des Wesentlichen. Das ganze weiträumig angelegte Buch ist 
als Vorstufe und Sockel einer materialen Geschichtsphilosophie 
gedacht, die Troeltsch in wenigen Jahren vvrzulegsn hoffte. 
So wichtig die Würdigung des Gesamtwerts, insbesondere 
der nicht leicht zu überschätzenden historischen Analysen, auch 
wäre, in diesem Zusammenhang kann nur Troeltschs Lösungs-
	        
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