Bergpredigt und moderne Kultur.
--- Dr. Johannes Müller gab in seiner Ansprache am
Dienstag Abend eine Deutung der B e r g p r e d i g t in esckaw-
logischem Sinne. Den Gegensatz zwischen ihr uvd unserer Kultur,
ja soear dem geliebten Christentum hervorhebend, betonte er sehr
entschieden, daß sie weder Sittengebote in sich begreife, die für alle
Menschen verbindlich seien, noch irgendwie idealistisch aufgefaßt
werden düxfe. Sie ist, wie er in immer neuen Wendungen zu
klären suchte, nicht Moral, sondern das Ende der Moral, die Er
lösung von ihr; auch gilt sie nicht ollen Menschen schlechthin,
sondern nur den AuserwählLen, die durch die eure Pforte ein
gegangen sind. Als Botschaft vom Reiche Gottes kündet sie ein
neues Sein, das im Gegensatz steht zur Gerechtigkeit der
Schriftgelehrten, zu den starren Moralgesehen der noch im Dies
seits verhafteten Menschen Zu diesem neuen, verwandelten Sein
gelangt man nur durch das Sterben an sich selber, und nimmer
mehr kann es der Mensch von sich allein aus erraffen. Erst wenn
er auf dem schmalen Weg zum Reiche völlig scheitert und fein Selbst
ganz preisgibt, mag göttliche Barmherzigkeit ihm reue Pforte
öffnen, die Einlaß gewährt.
Nur kurz verweilte Dr. Müller bei der Betrachtung der
modernen Kultur. Sie ist zertrümmert wie der Turmbau'von
Babel und auch der moralische Ruin scheint unaufhaltsam. Was
hat in solcher Zeit die Bergpredigt zu bedeuten? Gerade s i e soll
heute Evangelium sein. Sie lehrt vernehmlich, daß die Neuwr-
mung des Chaos nicht rein Menschenwerk ist, sie heißt die Ver
zweifelten sich umstellen auf das Reich Gottes, Nicht um Religion
gebt es hierbei, sondern um mehr: um das Sterben und die
Wiedergeburt des ganzen Menschen — Die Worte Dr. Müllers
hatten Gewicht, weil sie Erfahrung und Widerfahrenes bezeugten.
Zu wünschen wäre vielleicht gewesen, daß er, das paradoxe Ver*
hältnis zwischen Moral und Üebermoralischem neuem Sein voll
aufrollend, der Moral mehr gegeben hätte, auch durfte man wohl
ein ausführlicheres Verweilen bei der aktuellen Gegenwart er
warten, ober das allein Wesentliche: der Hinweis auf das „Sterben
an sich selber" trat doch bestimmt und unmißverständlich hervor. Lk
Die erste Groß-Ailmbühne.
Das Schumann-Varietö ist tot — es lebe dasSchumann-
Großktno! Zur Eröffnungsvorstellung fahren b.ruos in langer
Reihe r-or, und viele Hunderte, die keinen Platz mehr erhallen,
kehren voller Enttäuschung um. Junen Guirinndenschmuck, Suche
nach einem leeren Plätzchen, festlich erregtes Haus. Wie bemerkt
I doch Schieber Neuruann in Kaders „Nebeneinander" sehr richtig 9
> kx Kmo tux!
Der Vorhang zieht sich zurück und enthüllt die weiß gähnende
Fläche. Ehe sie sich belebt, taucht Robert vom Scheid; vbr ihr
auf und gibt mit seinem mächtigen Bariton, der een ungeheuren
Raum mühelos bezwingt, den „Bajazzo"-Prolog Zum besten. Nach
dem oielbeklatjchten Präludium hat der Film — wenn man so
sagen darf — das Wort. In Deutschlands nunmehr größtem
Kmotheater produziert sich Jackie Coogan, Amerikas kleinste
Kinogröße. „Das Zirkuskind', so heißt die Filmschöpfung,
in der dieser „liebe kleine Junge" seinem Vaterlands auf der
ganzen Linie zum Sieg verhilft. Eine rührende, gar sehr rührende
Geschichte, die das gute amerikanische Herz bezeugt. Die Mutter
des winzigen Jungen leb; bei ihren Verwandten, wo siemicht wohl
gelitten ist. Jackie wendet die Not. Er verdingt sich im Zirkus
als Eiscreme-Boy und schickt seinen sauer verdienten Dollar
wöchentlich nach Hause. Durch seinen Augenaufschlag und seine
schelmische Grandezza bestrickt er die Welt aus und vor der
Leinwand — nicht zuletzt die kleine Schulreiterin Baöette
und den gewaltigen Zirkusdirektor, der ihn auf einen impro
visierten Erfolg hin mir 7Z Dollar die Woche engagrert.
Auch diese schickt der brave Boy postwendend seiner Mutti und
eines Tages erscheint er schließlich selber im Riesenauw mit
Babette und dem ihm befreundeten Clown, packt stolz die Mama
auf und fährt mit ihr in eine unbeschwertere Zukunft davon.
Der Film findet jubelnden Beifall und in der Tor: manche Szenen
sind von erschütternder Komik, die Nachtaufnahmen der im Ge
witter dahinstürmenden Zirkuswagen mit ihren Wouvermann-
Schimmeln suchen ihresgleichen und welcher Hartherzige wollte am
Ende dem süßen Knirps und seinen kindlich-bravourösen Taten
widerstehen? Zumal bei einer musikalischen Begleitung, die mit
Unterstützung von Haydn, Mozart, Beethoven, Reger dem ameri
kanischen Ereignis gewissenhaft sekundiert? Kurzum: der Erfolg
des neuen Frankfurter Großkinos im Zeichen dieses deutsch-ameri
kanischen Bündnisses ist unbestreitbar und erweckt gute Hoff
nungen auf künftige volle Häuser, die dem wagelustiaen Unter-
i nehmer Wohl Zu gönnen sind.
Die Mkm als LarMister
— Im Erdgesckoßsaal des V ö l k erm u s eu m s, der seine
AuLsiellunq türkischer Architekmramnahmen beherbergt, sprach
Dr. Katl Klinghardt auf Einladung des Frankfurter Archi
tekten- und Jngenieurvereins über die bauschöpferischen
Fähigkeiten derTürken. Er legte die Einsiciit zugrunde, daß für
die Baukunst eines Landes nicht ohne weiteres der einheimische
Techniker und Künstler an erster Stelle maßgebend sei, sondern oft
aenuq der starke Wille des Bauherrn, der die große Leistung er
zwing». Als Bauherren nun haben die Türken mächtige Impulse
gegeben. Kaum den Nomadenzelten entronnen, drangen sie nach
dem Bosporus und den Dardanellen vor und fließen hier auf die
byzantinische Kultur, die seit Jahrhunderten keine bedeutenden
Bauwerke mehr hervorgebracht hakte. Unter dem Einflüsse der
osmamscken Eroberer erst entwuchs dem brachliegenden Lande
neue Frucht. Sie siedelten in ihren Residenzen griechische, persische,
seldschuUiche Künstler an, die ihrem Willen Gestalt verleihen und
durch die Errichtung gewaltiger Bauten der Verherrlichung ihres
Ruhmes dienen mußten. Eines brachten sie freilich selber mit: die
Begabung auf dekorativem Gebiet, die ihnen wie allen
Orientalen ursprünglich eignet. Ihr Sinn für das ornamcmale
Gebilde ist so ausaeprägt, daß sie durch den Anblick einer lchönen
^eppichverschlinaung in eine ähnliche Stimmung versetzt werden
mögen wie Euroväer durch das Anhören guter Musik. Von solcher
Neigung zeugt ihr Kunstgewerbe nicht minder wie die Aus
schmückung ihrer Bauten, bei Henen das Dekorative entschieden
überwiegt. , - . ...,
Nachdem der Redner im Zusammenhang unt diesen allge
meineren Bemerkungen kurz die einzelnen Bauthpen!gekennzeichnet
halte, deren wir bereits in dem Bericht über seine Ausstellung ge
dachten (vergl. die Notiz „Türkische Architektur" im Abendblatt
vom 3. Dezember), ging er zur Beirachtung der gegenwär
tigen Verhältnisse in der Türkei über. Als technisch wenig be-
qabtes Volk haben die Türken vor dem Krieg sich ihre Ingenieure
aus Europa verschrieben. Diese Einspannung fremder Kräfte ist
aber in dem Zeitalter des modernen Verkehrs nicht so ungefähr
lich für sie geblieben wie in der Vergangenheit. Denn einmal
haben die europäischen Kapitalisten bald eine Vormachtstellung in
dem Land errungen, dem sie scheinbar dienten, und zum andern
bedroht die schnelle Industrialisierung die türkische Rasse physisch
und psychisch geradezu mit dem Untergang. Aus dem Wissen um
diese Gefahren heraus setzen jetzt die Türken nach ihren neuerlichen
gewaltigen Erfolgen der Fremdherrschaft und der weiteren Techm-
sirrung einen Widerstand entgegen, der als ihr gutes Selbst,
ephaltungsrecht zu begreifen ist und keinem Europäer Anlaß geben
sollte, sich über sie zu erheben. Wir Deutschen, die wir nicht Aus
beuter sind, können nur damit einverstanden sein, wenn etwa die
l Bauten, die in der neuen Hauptstadt A n g o r a über kurz oder
lang erstehen müssen, von türkischen Architekten in türkischem
I Sinne errichtet werden. '
- lPaul Fechter: „Die Tragödie der Architektur".!
Das mit neun vorzüglichen Tafeln aus gestattete Buch Fechters
(erschienen bei Erich Lichtenstein in WeiMr) begreift den archi
tektonisch gestalteten Raum als Ausdruck und Sinnbild des ihn
gestaltenden Geists und liest demgemäß an der Geschichte der
Architektur die Geschichte menschlichen Geistes ab, zahlreiche Be
ziehungen zwischen ihnen erb?üend Es ist insofern ein echtes
Dokument unserer Zeit, als es von UntergangSstinmmnq getragen
wird und das Gewesene in einer Weise zusan-nnenschaut und
psychologisch deutet, wie nur der von ihm Abg-elöste. der schaudernd
am Ende Stehle es vermaß. N'mmt man diese Halftmq der
Neroanaenste-'t gegenüber in Kauf ist man v?n vdcherck
daß die ihr entwachsende« geschichtsphilofophisch
Einsichten nicht allzusehr belastet. werden dürfen, so wird man
die geistreichen RaummMysen gerne guthechen, zumal sie nebenbei
noch die Wssion erfüllen, deutsche Augen zum Verständnis archi-
Manischer Gebilde zu erziehen. Die bei der ägyptischen Kunst an
hebenden Betrachtungen suchen gleichsam Wesensformeln für den
geistigen Sinn der jeüer großen Kultur-Epoche zugeordneten typi
schen Raumausfassung Zu gewinnen, um dann von diesen Formeln
aus den Gehalt der einzelnen exemplarischen Architekturwerke zu
erschließen Während etwa von dem ägyptischen Raume ausgesagt
wird, daß er als anorganische, abstrakte Gestaltung die organische
Natur verneine,.'gilt der griechische als Symbol des Gleichgewichts
zwischen Mensch und Welt, der römische als Raum der Leere und
profanen Zwecken Untertan Es reiht sich an die Deutung der
zuerst in romanischer Baukunst sich verkörpernden germanischen
RaumkonZeption, die in den Schöpfungen der Gotik dem Verfasser
zufolge das Gleichgewicht der. Nauw.koordmaten aufheöt und eine
durchaus antiräumliche Gesinnung bekundet. Mit der Gotik be
ginnt der Abstieg, der Bezug aufs Transcendente, der ihr den
Austrieb erteilte, bedarf keines räumlichen Ausdrucks mehr, da der
frei geworden- Geist sich ganz irs Innere Zurückzieht. Daran ändert
die Gegenbewegung der italienischen Renaissance ebensowenig wie
der Barock, dessen prunkvolle irdische Räume nur das „rauschende
Sterbelied" der Architektur sind. Ob das Erlöschen der Symbol-
fLH'.gkeit der Architektur, das Fechter sehr ungenau ihre „Tragödie"
nennt, endgültig sei. oder moderne Zweckbautm und Städtebau
kunst einen neuen Anfang bezeichnen, bleibt offene Frage. Dir
den Ausweis dieser großen Zusammenhänge begleitenden Sinn
erläuterungen bedeutender Bauwerke machen den besonderen Wett
s des Buches aus» Tr.