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von ihnen Gemeinte jedenfalls aus irgendwelchen „objektiven" 
Kriterien nimmermehr abzuleiten sei. 
* 
Der zweite von Sombart geleitete Verhandlungstag 
galt dem Thema: „Wissenschaft und soziale Struft 
t u r," Sein Hauptereignis, wie das des Kongresses überhaupt, 
war der über zwei Stunden währende Vortrag Max 
Schelers, ein vielverästeltes Ineinander von Betrach 
tungen über die soziologischen Strukturbedingungen der 
abendländischen positiven Wissenschaften, 
das er seiner soeben erschienenen Abhandlung: „Soziologie des 
Wissens" entnahm. Von der These ausgehend, daß es drei 
auf verschiedene nwnschliche Grundtriebe zurückfühvbare 
und darum immer nebeneinander mögliche Formen 
des Wissens gebe: das religiöse, das metaphysische und das 
positiv-wissenschaftliche, das in dem Herrschaftsstreben des 
Menschen über die Natur verankert sei, untersuchte er zunächst 
den Einfluß der Religion auf das Entstehen der moder 
nen Wissenschaft, wobei man Gelegenheit zu bemerken hatte, 
daß Scheler die Kirche heute mit dem ungetrübten Blick des 
kosmopolitisch orientierten Soziologen überschaut. Kosmopoli 
tisch: denn er nennt sie ein« abendländische „Offenbarungs- 
MassenheilSanstalt", die jenen selbständigen metaphysischen 
Geist fast erstickt habe, der in den großen Kulten Asiens sich 
ungehindert in der Herrschaft behaupte. Da nun nach Sche- 
ler die kirchliche Lehre stets nur die mit ihr konkurrieren 
den metaphysischen Schöpfungen unterdrückte, brächte sie mit 
telbar den positiven Wissenschaften die unerhörteste Förderung, 
leitete sie in diese doch alle Denkemrgien hinein, die sich aus 
religiösen Gründen nicht frei metaphysisch betätigen konnten. 
Weder die pragmatistische und die^nMisti,che Theorie, die 
beide die Wissenschaft zur nachträglichen Formulierung prak 
tischer Zwecksetzungen oder ökonomischer Notwendigkeiten 
stempeln, noch die intellektualistische Auffassung, die alles Prak 
tisch-Technische zum Derivat fortschreitender reiner Erkennt 
nis erniedrigt, HM Scheler für hinreichend, um das Aufkom 
men des modernen Wissenschaftsgeistes selber zu erklären. 
Vielmehr, er nimmt an, daß um die Wende des Mittelalters 
durch die Begegnung und Kreuzung zweier Schichten: der 
freien kontemplativen Oberschicht und der arbeitsteiligen, tech 
nisch veranlagten Unterschicht ein neuer Menschen- 
thpus mit einem neuen auf die Natur gerichteten Machttrieb 
erwachsen sei, der von dem Bestreben geleitet war, ein wahres 
wissenschaftliches Weltbild zu finden, aber von vornherein ein 
solches nur, das seinen praktischen Zielen auf das genaueste 
entsprach. In einer Reihe oft feiner psychologischer und geistes- 
geschichtlicher Apercus erläuterte Scheler, in welchen typischen 
Formen diese „Gruppentriebrevolte" sich vollzog und bis zu 
welchem Maße die Reformation ihr entgegenkam. Fhr Ergeb 
nis ist die moderne europäische Naturwissenschaft, deren Kate- 
gMen sich, wie in offenbarer Uebereinstimmung mit Simmel 
nachgewiesen wurde, streng analog zu denen der modernen 
Weltwirtschaft herangebildet haben. 
Zum Schlüsse verkündete Scheler das gnostische Evangelium 
der Zukunft aus dem Geiste der von ihm vorausgeschauten 
„kosmopolitischen Weltphilosophie", deren Konzeption ihn in 
erstaunliche Nähe zu Kahserling rückt. Damit die Menschheit 
das ganze ihr zukommende Maß an Macht gewinne, müsse 
Asien in eine Epoche wissenschaftlich-technischer Leistungen 
treten, und das Abendland, seine bisherige Einseitigkeit er-- 
gänzend, den metaphysisch«» Geist Asiens sich aneignen, der «S 
zumal zur Seelentechnik erziehe. Für die Massenheilsanstalt 
der Kirche blieb in diesem Schelerschen Weltbauprojekt kein 
Raum. 
Eben der Fülle aufhellender Durchblicke wegen mußte die 
Grundhaltung des Vo-trags doppelt bedrücken. Die rein sozio- 
wa sche das heißt aber bier äußerliche Erfassung (richtiger:' 
N:ch^ersassung) des religiösen Phänomens der Kirche, die unbe 
denkliche, an di« Attitüde Spenglers gemahnende Gegenüber 
stellung .es christlich-jüdische- Schöpfermonotheismus und 
der angeblich metaphysischen Geistesgebilde Asiens: diese Kon 
struktionen bekundeten eine Haftlosigkeit, für die das Gerank 
der psychologischen Intuitionen wahrlich nicht zu entschädigen 
vermochte. Ihre spielerisch-unverbundene Aussaat drängte 
vielmehr zu der Frage, ob sie dem existenziellen Ernst ihr Da 
sein verdankten, zu dem gerade jenes stets umschweisende und 
stets Ueberschau haltende Nomadentum verpflichtet wäre, das 
Scheler neuerdings nach Asien zu treiben scheint. 
Der Korreferent Max Adler konnte seinen Vortrag nicht 
in der beabsichtigten Weise zu Ende bringen, da er sich zu 
nächst mit den Ausführungen Schelers befaßte, die er am 
gleichen Tag erst kennen gelernt hatte. Abgesehen von 
manchen Uebereinstimmungen, deren eine er etwa darin er 
blickte, daß auch Scheler die Wissenschaft in Abhängigkeit von 
den technischen Arbeitsbedingungen setze, kennzeichnete er 
kritisch (und mißverstehend) die Trieblehre Schelers als Posi 
tivistische Entgleisung und wandle sich unter Zustimmung 
eines großen Teiles der Versammlung gegen seine Auffassung 
der asiatischen Bekenntnisse wie gegen ihre Uebertragung nach 
Europa. Zu seinem eigentlichen Thema: „Soziologie 
der Erkenntnis" überleitend, deute er aus Zeitmangel 
Der deutsche Soziokognrtag. 
^MW- 28.-30. September, 
likr Heidelberg. 
Der vierte Deutsche Soziologentag wurde mit 
einer Ansprache seines Präsidenten Geh. Ratz TSnnies er 
öffnet, der die Toten des Jahres: Paul Barth, Jerusalem, 
Gothein, Troeltsch, Natorp durch Worte des Gedenkens ehrte. 
Um den weiteren offiziellen Teil gleich vorwegzunehmen, so 
überbrachts Pros. Cosentini (Rom) die Grüße des Inter 
nationalen Instituts für Soziologie zu Rom, das als erstes 
nach dem Krieg die Deutschen zu einer internationalen Tagung, 
dem Turiner Soziologen-Kngreß 1920, eingeladen hatte; er 
teilte mit, daß Geh.-Rat Tönnies vor wenigen Wochen von 
dem Rat des Internationalen Soziologen-Kongreffes zu Genf 
neben Bourgeois zum Vize-Präsidenten ernannt worden sei. 
Der erst am zweiten Verhandlungstag erschienene Staats- 
minifter Hellpach, der die Versammlung namens des badi 
schen Kultusministeriums willkommen hieß, sprach vorwiegend 
als Kollege zu den Kollegen. Er unterstrich die Bedeutung der 
Soziologie, die an der Lösung der soziaren Frage im M.Jahr- 
hundert entscheidend mitzuwirken habe, und beschwor den wäh 
rend der Tagung viel zitierten Namen Max Webers herauf, 
dessen Wirken an dieser Stätte unvergessen sei. 
Das Thema des ersten Verhandlungstages: „Sozio- 
ksOß 8SL sszialtzglitik" Mr insofern nicht ganz 
glücklich gewählt, Äs es zu schwierigen «rkenntnistheoretischen 
Erörterungen nötigte, die in dem Rahmen einer Vortrags- 
stunde kaum zur Entfaltung gelangen konnten. Soziologie (die 
etwa als die Lehre von den Regelhastigkeiten des Lebens 
der vorgesellschafteten Menschen anzusprechen wäre) ist 
eine junge Wissenschaft, über deren Methode und Gegenstand 
Einigkeit noch nicht besteht — worauf auch Alfred Webers 
saloppe Eingangsworte hinzielten, in denen er die Soziologen 
mit einer Horde gegeneinander schreiender Babys verglich. 
Sozialpolitik ihrerseits ist eine historisch gewordene Disziplin, 
die, da ste tief hinein in das praktische Leben sich erstreckt, ein 
vielfältig schillerndes Wesen zeigt, das sich eindeutig nicht um- 
reißen läßt. So durste man vornherein nicht erwarten, daß 
das Verhältnis beider in verschiedenen Ebene» einlagernden 
und ihrer Bestimmung nach nicht fixierten oder gar theoretisch 
überhaupt nicht fixierbaren Wissenszweige eine befriedigende 
Klärung erführe. 
Das Referat Pros. Adolf Günthers (Innsbruck) ent 
täuschte noch die geringen Hoffnungen, die man auf die Bear 
beitung des Problemes setzte. Es erging und verirrt fich in 
methodologischen Distinktionen von äußerster Formalität, die 
weder dem Gesamtbereich der Srtziologie noch dem der Sr^ial- 
politik gerecht zu werden vermochten, sondern sich in weitestem 
Mstond von den Sachzusammenhängen damit begnügten, ^So- 
zialpolitik als Kunstlehre mit Hilfe definitorischer Uebergänge 
aus der formalen Soziologie zu entwickln. — Der Korreferent 
Pros. Ludwig Heyde (Kiel), Herausgeber der »Sozialen 
Praxis", fand ungleich konkretere Formulierungen, weil er sich 
rein als Sozialpolitiker um das Thema bemühte. Seine Er 
örterungen mündeten in die Thesen ein, daß Sozialpolitik und 
Soziologie ihrer verschiedenen ErkenntniSgegenstände wegen 
zu wesentlichen Dellen auSeinanderwiesen und jene die Sozio- 
looie dort allein voraussetze, wo ste etwa die Bestrebungen der 
Selbsthilfe behandle, die zu ihrem Verständnis soziologischer 
Voruntersuchungen bedürften. Die durch wertvolle Beispiele 
aus der Profis belegten Ausführungen arbeiteten leider mit 
allzu weit gespannten theoretischen Definitionen, die in sehr 
merkwürdiger Werfe die Tendenz zu einer sachlich-empirischen 
Abgrenzung der beiden Disziplinen durchkreuzten; auch das 
alte Problem der W-rtfreiheit der Wissenschaft, das sich gerade 
bei Betrachtungen dieser Art aufdrängen mußte, ward ober 
flächlich nur angeschnitten. 
In der wenig ertragreichen Diskussion erinnerte Borkie- 
vich gegenüber den vorwiegend methodologisch gehaltenen 
Darlegungen der Referenten mit Recht daran, daß die be ¬ 
sondere Struktur der Sozialpolitik aus ihrer geschichtlichen 
Genesis begriffen werden müsse, eine Auffassung, der Przy - 
bram sich mit einigen Ergänzungen anschloß. Gold- 
scheid erklärte sodann, daß die Materials Soziologie die 
typischen Zusammenhänge in der Geschichte aufzudecken und der 
Sozialpolitik darzubieten habe, während Max Adler von 
seinem marxistischen Standpunkt aus eine (nach seiner Ueber 
zeugung wertfreie) dynamische Soziologie postulierte, die dazu 
berufen sei, dem soziapolitischen Handeln die letzten Ziele zu 
weisen. Die Debatte bestätigte im ganzen, was man zum vor 
aus schon wissen konnte: daß faktisch die auf ihre wechsel 
seitigen Beziehungen hin geprüften Wissenschaften je nach der 
personhaften Einstellung ihrer Vertreter den ihnen eigenen 
Sinn und ihre Bedeutung Nr einander verändern und das
	        
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