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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.05/Klebemappe 1926 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

gefärbte Flüssigkeit in der Röhre echte Tinte ist. Es genügt ihnen 
festzustellen, daß diese abenteuerlichen Existenzen das seßhafte Leben 
fliehen und die Federn , der entlegensten Länder zum Abfall von der 
heimischen Art erregen. Sie halten sich in der Regel in dunklen 
Rocktaschen auf oder schmarotzen gar in den Westen. Am liebsten 
produzieren sie sich in der Eisenbahn und auf tintenfreien Feldern, 
um aller Welt ihre Unabhängigkeit von den TinLengefäßen Zu be 
weisen. Dem Vernehmen nach sollen sie bei solchen Gelegenheiten 
durch frei erfundene Schnörkel nach dem Beifall der Menge haschen. 
Häufig ziehen ste an Schreibpulten, deren Einrichtung nichts zu 
wün-chen übrig läßt, mit betonter Gleichgültigkeit vorüber, ohne 
auch nur aus ihrer Rohre Herauszusehen; ein Verhalten, das die 
ortsansässigen Kelche besonders verstimmen muß. Immerhin, man 
würde ein Auge Zudrücken, handelte es sich lediglich um Unarten, 
wie sie in der jungen Generation heute verbreitet sind. Wer leider 
verstößt das Betragen der Füllfedern auch wider jede öffentliche 
Moral. Statt in die gewiß gerne zur Verfügung stehenden Behälter 
einzutauchsn, lassen ste sich die in ihrer eigenen Röhre enthaltene 
Flüssigkeit einführen; nicht nur von Fall zu Fall, sondern in steti- 
! gem Fluß. Das Peinliche des Hergangs wird noch durch die Win 
dungen erhöbt, die ste vor und m dieser Manipulation vollführen. 
Ueberträfen sie wenigstens die der Scholle treu gebliebenen Federn 
durch die Qualität ihrer Leistungen! Gerade die Mitnahme des 
Proviants jedoch, von der man sich anfänglich viele Vorteile ver 
sprochen hat, übt eine erschlaffende Wirkung auf die Füller aus. Sie 
werden bequem und versäumen die Amtsstunden. Unparteiische 
Berichterstatter haben schon wiederholt beobachtet, daß die Ehrlich 
keit ihrer Arbeit sich verringert hat. 
Wie dem auch sei, die Tintenfässer jedenfalls haben unter der 
Entwicklung zu leiden. Sie, die in dem höchsten Mittelstand Fuß 
ermangeln. In der Zeit der Romantik wurden sie um ihres inne 
ren Wertes willen geschätzt. Damals quollen sie von Liebes 
briefen über, die in die LiteraturgeschiHte eingegangen sind, und 
erfreuten sich reichlicher Erträgnisse aus ihrer Schriftstellerei. 
Kummer bereitete ihnen einzig ihr Name. Konnte ihre Oeffnung 
mit einem Spundloch verwechselt werden? Pflegten sie achtlos 
auf dem Boden zu rollen? Der Ausdruck Tintenkelch, so meinten 
sie in aller Bescheidenheit, wäre ihrer Bedeutung angemessener ge 
wesen, er gemahnte an Lilien. Nur das Beispiel der Geusen be 
wog ste dazu, die Benennung Fässer als Ehrennamen M tragen. 
Es ist der Allgemeinheit bekannt, wie sehr sich die Lage der 
Tintenfässer mittlerweile verschlechtert hat. Umfassende Unter 
suchungen sind angestellt worden, um die Ursachen dieser sozialen 
Veränderung zu erforschen; teils der Vollständigkeit unserer Er 
kenntnisse wegen, teils aus, soziologischen Gründen. Die Enqueten 
erlauben den Schluß, daß die Unterdrückung der Tintenfässer mit 
dem Vordringen der Schreibmaschinen zusammenhängt. Diese 
bieten rmleugbar einen komischen Anblick: sie gleichen Polypen, die 
ans Land geschleudert worden sind und nun hilflos um sich schla 
gen. Indessen verhehlen sich die Kelche nicht die Gefahr, die ihnen 
von den lächerlichen Ungetümen her droht. Sie wissen, daß der 
SLegeszug der mechanisHkn KunsLkästen eine Folge der National 
ökonomie ist, ja, ste gestehen sich freimütig ein, daß der von den 
Tasten erzeugte Lärm die Verrichtung untergeordneter Arbeiten 
erleichtern mag. Wer es ist ein anderes, eine schlichte kaufmännische 
Berechnung hervor zu Tappern, und ein anderes, auf den Gebieten 
des höheren Innenlebens schöpferisch tätig zu sein. Tinte muß 
fliehen, wenn die Seele es tut; denn es kommt dann nicht mehr 
allein auf den Inhalt des Geschriebenen an, sondern auf die Be 
sonnenheit, mit der die Feder sich in das Feuchte vertieft und den 
Luftweg zwischen Kelchrand und Papier durchmißt. Zur Auf 
klärung der von den Polypen verhetzten Massen haben die Tinten 
fässer einen Preis für das beste lyrische Gedicht ausgesetzt, das 
nachweislich unter Benutzung mindestens eines der ihren vergossen 
worden ist. Auch haben ste an etlichen kleinen Universitäten Lehr- 
slühle gestiftet. Leren Inhaber verpflichtet sind, in der Jugend die 
Ueberzeugung von dem vaterländischen Sinn der Stahlseder- 
fl schwänge zu wecken. Durch diese, und andere vylW 
Maßnahmen Hoffen sie eine neue Blüte des HandschrifLenwesens zu 
erzielen. 
Verheerender als der Einbruch der Schreibmaschinen, denen es 
zuletzt doch an der geistigen Überlegenheit gebricht, ist das Umsich 
greifen der F ü l e d e rh al t er, die von innen her die alte Ord 
nung zerstören. Sie sind nichts weiter als gemeine Federn, die sich mit 
einer Art von Röhre versehen haben, in der sie sich die meiste Zeit 
über wie die Schnecken verkriechen. Die Tintenfässer wollen weder 
nachprüfen, ob sie wirklich aus Gold bestehen, noch ob die blau- 
Von Naes. 
Vor Zeiten führten die Tintenfässer ein weithin geachte-es 
Dasein. Sie wohnten auf besseren Schreibspinden, dwen manche 
W verschließen waren, und betrieben mit Wohlanstanö ihre Ge 
schäfte. Die Meisten von ihnen neigten zu rundlicher Fülle; wenn . 
ste älter wurden, entwickelten sie einen Hang für üppge Schnitze-! 
rcien. Anmut und Würde strömten von ihnen aus. Abends vor 
dem Schlafengehen setzten ste sich ein Käppchen auf und erbauten 
sich an dem Gedanken, daß die Strebsamen niemals der Tinte! 
der die Körperkraft und Körperschönheit unversehens Zum Kult ge 
rat. Daß er dem der Antike gleiche, behaupten die Vildtitel oft 
genug. Aber sie ir-en: in der Antike war der schöne Körper nicht 
Selbstzweck sondern erwuchs aus der Verehrung der Helden und 
Götter als das lebendige Sinnbild der verehrten Gestalten. Nicht 
auf die griechischen Kampfspiele — auf ein seiner bildhaften Ge 
halte entleertes Heidentum greifen die Anhänger der abstrakt 
mythologischen „Körperkultur" unserer Tage zurück. In 
einer Filmszene verwandeln sich die Tänzerinnen eines antiken 
Vasenbilds in griechisch kostümierte §irl8, die den Reigen auf der 
Vase kopieren. Ihre Schönheit ist nicht zu bezweifeln; doch den 
"GM, dem die schöne Gebärde der Vasenfiguren galt, sucht man 
bei ihnen vergeblich. Er erblüht auch nicht aus der rhythmischen 
Gymnastik, wie feierlich immer die Mary Wigman-Schule schreite 
oder Amtsgerichtsrätinnen das von Mensendieck vorgeschriebene 
Ritual verrichten. Der Gott ist wirklich unbekannt, dem diese und 
andere edel verbrämten Gesten derer zugedacht sind, die in Schön 
heit nicht nur sterben, sondern auch leben wollen. Oder vielmehr: 
er ist der vergötzte Körper selber, aus dessen Training sich die Seele 
gewiß nicht heraus schlagen läßt. ^Seinem Dienst sind nicht zuletzt 
die übertriebenen sportlichen Begehungen geweiht, die das Phantasie 
leben der Massen heute mehr beschlagnahmen, als es für das Ziel 
der körperlichen Ertüchtigung erforderlich wäre. Ob zu „ethischem" 
oder „religiösem" Nutzen? Die Frage beantwortet sich selbst. 
Man hat dem Film von katholischer Seite vorgeworfen, daß er 
das sittliche Empfinden verletze. Er ist von Anstößigkeiten frei. 
Seine -optischen Anleitungen zum vernunftgemäßen leiblichen Dasein 
sind der Beherzigung wert. Seine Setzung des Körpers als der 
alleinigen Grundlage alles Höheren entspringt der Konfusion. Der 
Geist sprießt nicht aus dem Körper wie ein Gewächs hervor. 
Bei Gelegenheit der Vorführung des Films in den 
Frankfurter Ufa-Lichtspielen. 
„Wege zu Kraft und Schönheit". 
Die neue Auflage des bekannten Ufa-Films hat sich mehr 
als die erste den gesundheitlichen Bedürfnissen und materiellen 
Möglichkeiten des kleinen Mannes angepatzt — ein Wendung, dre 
gutoeheißen werden kann. Außerdem find die Sportberichte auf 
den letzten Stand gebracht: Nurmi, Rademacher und Susanne 
Lenglen bewegen sich unter der Zeitlupe zu Wasser und zu Lande. 
Seine Vollständigkeit macht den Film zu einem Kompendmm der 
Körperkultur; seine Wahllofigkeit zum Magazin. 
Zwei Richtungen — vielleicht auch mehrere — mengen sich fort 
gesetzt in ihm. Die eive erblickt in der Körperpflege und 
dem richtig betriebenen Sport ein Mittel, um die Menschen ber 
guter Gesundheit zu halten und gewisse leibliche Tugenden ihnen 
einzMötzen. Diese Entwicklung ist vernünftig durchaus; sie orga 
nisiert auf dem Gebiet des Körperlichen, was zu organisieren ist. 
Gymnastische Uebungen am frühen Morgen, die rationelle Ausbil 
dung kranker Schulkinder auf dem Land, Erholungsspiele und der 
eine oder andere Lioblingssport: niemand wird wider Hygiene und 
Körperlust etwas einzuwenden haben. Der Film Zeigt eine Reihe 
von Beispielen, die zu solchem löblichen Tun ermuntern und er 
zieherisch wirken mögen. , . . 
Die andere Richtung, die sich leider stark hervordrängt, wnd 
durch einen Satz des Filmprosvekts gekennzeichnet, der „die 
ethische, man mochte fast sagen religiöse Bedeutung der > 
Körperkultur" rüAnt. Eine Überschätzung des Bloß-Natürlichen,
	        
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