Zentrum", die Herrschaft des Zarentums beenden könne.
„Land und Freiheit" spaltet sich. Wem Figner tritt dem Voll-
zugs-Komitee der Gesellschaft „Volkswille" bei, auf dessen
Anordnung hinAlexander II. im März 1881 ernrordet wird.
In den „Dämonen" hält Dostojervski über die Ter
roristen Gericht. Sein Spruch greift über die Welt hinaus,
deren Veränderung die Bombenwerfer erstrebten. Um ihre
Taten zu verstehen (wenn auch nicht zu rechtfertigen), muß
Man wissen, gegen wen die Nornben sich richteten. Rückblickend
berichtet die Figner: „Die Gefängnisse waren üb erfüllt; ein
politischer Prozeß jagte den anderen; Zuchthaus und Ver
bannung wurden Zahlloser Schicksal. Keinerlei organisierte
KulturuntornehnmnM wurden geduldet; Haussuchung
Polizeiaufsicht waren an der Tagesordnung, desgleichen
Deportationen ohne vorheriges Urteil, nicht etwa für Taten,
sondern für die Gesinnung, für sogenannte „politische Unzu-
verläsügkeit", das heißt für ein gemutmaßtes ablehnendes
Verhol-en zur inneren Politik der Regierung." So erschien der
Figner und ihrem Kreis die Lage. Nachdem sie die politische Not
wendigkeit des Terrors glaubte erkannt zu haben — als Selbst
zweck wurde er abgelehnt — gab es für ihre eigene Per
son keine Schonung mehr. Sie sagt in ihrer großen Schluß
rede vor Gericht: „Ich hätte nicht mit ruhigem Gewissen andere
zur Beteiligung an GewalLmaßnahmen hinzuziehen können,
wenn ich selber daran nicht beteiligt gewesen wäre; nur meine
persönliche Beteiligung gab mir das Recht, mit verschiedenen
Vorschlägen an andere Personen hemnzutreten."
Die Terroristin ist von dem Ged . nken des gewaltsamen
Umsturzes dämonisch besessen. Er macht sie gleichgültig gegen
Leben und Sterben, er löscht die Menschlichkeit aus. Sie ist
die Personifikation des revolutionären Prinzips. Nur mit
Grauen wird man ihre Darstellung des mißglückten Attentats
im Winterpakast lesen können. „Als die kaiserliche
Familie den SpeiseMl betrat, erfolgte eine furchtbare Ex
plosion. Im Stockwerk über dem Keller, wo sich die Wache
Finländischen Regiments befand, wurden 50 Soldaten ge
tötet und verstümmelt. Die Dhnamitmenge erwies sich aber als
zu gering, um die höhere Etage mit dem Speisesaal zum Ein
sturz zu bringen. Von der Erschütterung Lebte und Log sich
der Fußboden, das Tafelgeschirr fiel klirrend zu Boden — die
Aarenfamilie blieb unversehrt." Kein Wort über die Opfer.
Die zwanzig Jahre Schlüsselburg sind die Gegenwehr der Ge
sellschaft und eine Antwort. Nicht ungestraft überschreitet irgend
einer den menschlichen Bereich; am allerwenigsten "m der
guten Sache willen.
.. b / i Are Schlüsselburg: die Antwort
O entsetzlich. Em Tag der Gefangenschaft schon maa ein-
Ewrgkeit wahren; zwanzig Jahre sind ein Menschenleben.
Tusch dle Klopfsprache unterhält die Figner eine notdürftige,
in den anderen
Zellen, ^-er .<znfp^ktor ist em Vreh, die Gendarmen sind Skla
ven. Die Jahre verwirren sich in der Schilderung, eine
strenge Zeitfolge kann nicht eingehalten. werden. Um sie
Herum sterben die Kameraden, werden hingerichtet, verfallen
in Irrsinn. Sie wird für kurze Zeit in den Karzer gesperrt,
die Ausgeburt aller Schrecken. Sie hält bis zuletzt einen
Hungerstreik durch, von dem ste nur auf den inoralischen
Druck der andern hin abläßt. Nach Jahren darf sie mit
Ludmila Wolken st ein, der einzigen weiblichen Ge
fangenen, spazieren gehen. Der ganze Organismus verän
dert sich in der aufgezwungenen Stille. „Manche fangen an,
an krankhaften Erscheinungen zu leiden, und bei jedem G e-
räusch entringt sich der Brust reflexartig ein Schrei; wie
sonderbar es auch u : je unbedeutender der Laut, desto stär
ker ist die Reaktion. Das leiseste Geräusch löst Schluchzen
aus, und wenn die Töne sich periodisch wiederholen, so wird
die Qual unerträglich." Hangart, ein anständiger Kom
mandant, verschafft den Gefangenen in späteren Jahren
einige Erleichterungen: sie kommen Zu Büchern und dürfen in
den Werkstätten bezahlte Aufträge annehmcn. Im dreizehnten
Jahr wird ein beschrankter Briefwechsel mit den Verwandten
gestattet; aber man ist dem Leben so entfremdet, daß die
Gunst nur die Qualen vermehrt. „Wir hatten Angst vor Er
innerungen, die sich von außen an uns herandrängten und
unser so schwer errungenes seelisches Gleichgewicht zu stören
drohten . . Zäsuren bilden die peinlichen Besuche
Würdenträger und die Entlassung von Gefangenen, deren
Strafzeit abgelaufen ist. Die Schlüsselburg ist zu ihrer Welt
geworden. Auch Ludmila Wolkenstein geht. „Die ganze Zeit
über -- weinte sie, und ich tröstete sie. Ihre letzten, rührenoen
Worte beim Abschied waren, daß sie in Schlüsselburg die
besten Menschen, die sie je im Leben getroffen habe, Zurück
lassen müsse." Erst im Jahre 1903 erfährt die zu lebens
länglicher Haft verurteilte Figner, daß ste auf das Flehen
ihrer Mutte hin Zu zwanzig Jahren begnadigt worden ist.
Ihr erstes Gefühl ist das der Erniedrigung. „Ich war empört,
verletzt, meine erste Regung war, jede Beziehung zur Mutter
abzubrechen." Noch zwanzig Monate, und sie verläßt auf dem
- Dampfschiff: „Hüte Dicht" die Schlüsselburg.
s
Die Darstellung der Marthrerjahre ist ein Dokument ohne-
, gleichen. Weiter konnte dre menschliche Entwürdigung nicht
getrieben werden. Aber erstaunlich genug: von der Ohn
macht der Verdammten strahlt eine Kraft aus, die der blin
den Gemalt hie und da Abbruch tut. Die Figner spricht nicht
ausdrücklich von dieser leisen Kraft, deren Bohren und Nagen
dio Erzählung bezeugt. Proteste der Gefangenen haben einen
unerwarteten Erfolg, ein junger Gendarm vergeht sich mit
kleinen Hilfeleistungen wider die Vorschrift. Die Gewohnheit
übt zu Gunsten der Unterdrückten ihre abstumpfende Wirkung
auf die Machthaber aus. Nach und nach schlafen beengende
Instruktionen «ein — freilich, sie erwachen auch wieder bei Ge
legenheit —- unnötige Grausamkeiten unterbleiben. Auf ge
heimnisvolle Weise wird die Gewalt von der Schwäche Zur
Veranwortung gezogen.
Mit der Entlassung aus der Schlüsselburg schließt das
Buch. Weva Figner reist, wie sie in der Einleitung erzählt,
1906 zur Herstellung ihrer Gesundheit ins Ausland, wo sie
acht.Jahre bleibt. Sie will sich dann der sozialrevolutionären
Partei anschließen, doch — die Kräfte versagen. „Die 22jälu
rige, Abwesenheit aus dem Leben machte es mir unmöglich,
mit einem Schritt die Evolution politischer Parteien, revo
lutionärer Sitten und Verhältnisse einzuholen. Ich fühlte
mich fremd, abgesondert und nutzlos in ganz neuen Verhält
nissen." Sie verzichtet auf die Politik; auf den Kampf ver
zichtet sie nicht. In Paris begründet ste ein Hilfskomitee
für die zu Zwangsarbeit Verurteilten, und agitiert gegen die
Grausamkeiten in russischen Gefängnissen. Bei Kriegs
ausbruch kehrt die Veteranin der Revolution nach Ruß
land zurück. Nach der Revolution wird sie zur Vorsitzenoeu
des Amncstier 1 enkomitees gewählt. Die Arbeit geht
ihr nicht aus. Heute unterstützt sie die Bildungs- und Er-
ziehunasanM auf dem Lande. Dr. S. Kracauer.