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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.05/Klebemappe 1926 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Zentrum", die Herrschaft des Zarentums beenden könne. 
„Land und Freiheit" spaltet sich. Wem Figner tritt dem Voll- 
zugs-Komitee der Gesellschaft „Volkswille" bei, auf dessen 
Anordnung hinAlexander II. im März 1881 ernrordet wird. 
In den „Dämonen" hält Dostojervski über die Ter 
roristen Gericht. Sein Spruch greift über die Welt hinaus, 
deren Veränderung die Bombenwerfer erstrebten. Um ihre 
Taten zu verstehen (wenn auch nicht zu rechtfertigen), muß 
Man wissen, gegen wen die Nornben sich richteten. Rückblickend 
berichtet die Figner: „Die Gefängnisse waren üb erfüllt; ein 
politischer Prozeß jagte den anderen; Zuchthaus und Ver 
bannung wurden Zahlloser Schicksal. Keinerlei organisierte 
KulturuntornehnmnM wurden geduldet; Haussuchung 
Polizeiaufsicht waren an der Tagesordnung, desgleichen 
Deportationen ohne vorheriges Urteil, nicht etwa für Taten, 
sondern für die Gesinnung, für sogenannte „politische Unzu- 
verläsügkeit", das heißt für ein gemutmaßtes ablehnendes 
Verhol-en zur inneren Politik der Regierung." So erschien der 
Figner und ihrem Kreis die Lage. Nachdem sie die politische Not 
wendigkeit des Terrors glaubte erkannt zu haben — als Selbst 
zweck wurde er abgelehnt — gab es für ihre eigene Per 
son keine Schonung mehr. Sie sagt in ihrer großen Schluß 
rede vor Gericht: „Ich hätte nicht mit ruhigem Gewissen andere 
zur Beteiligung an GewalLmaßnahmen hinzuziehen können, 
wenn ich selber daran nicht beteiligt gewesen wäre; nur meine 
persönliche Beteiligung gab mir das Recht, mit verschiedenen 
Vorschlägen an andere Personen hemnzutreten." 
Die Terroristin ist von dem Ged . nken des gewaltsamen 
Umsturzes dämonisch besessen. Er macht sie gleichgültig gegen 
Leben und Sterben, er löscht die Menschlichkeit aus. Sie ist 
die Personifikation des revolutionären Prinzips. Nur mit 
Grauen wird man ihre Darstellung des mißglückten Attentats 
im Winterpakast lesen können. „Als die kaiserliche 
Familie den SpeiseMl betrat, erfolgte eine furchtbare Ex 
plosion. Im Stockwerk über dem Keller, wo sich die Wache 
Finländischen Regiments befand, wurden 50 Soldaten ge 
tötet und verstümmelt. Die Dhnamitmenge erwies sich aber als 
zu gering, um die höhere Etage mit dem Speisesaal zum Ein 
sturz zu bringen. Von der Erschütterung Lebte und Log sich 
der Fußboden, das Tafelgeschirr fiel klirrend zu Boden — die 
Aarenfamilie blieb unversehrt." Kein Wort über die Opfer. 
Die zwanzig Jahre Schlüsselburg sind die Gegenwehr der Ge 
sellschaft und eine Antwort. Nicht ungestraft überschreitet irgend 
einer den menschlichen Bereich; am allerwenigsten "m der 
guten Sache willen. 
.. b / i Are Schlüsselburg: die Antwort 
O entsetzlich. Em Tag der Gefangenschaft schon maa ein- 
Ewrgkeit wahren; zwanzig Jahre sind ein Menschenleben. 
Tusch dle Klopfsprache unterhält die Figner eine notdürftige, 
in den anderen 
Zellen, ^-er .<znfp^ktor ist em Vreh, die Gendarmen sind Skla 
ven. Die Jahre verwirren sich in der Schilderung, eine 
strenge Zeitfolge kann nicht eingehalten. werden. Um sie 
Herum sterben die Kameraden, werden hingerichtet, verfallen 
in Irrsinn. Sie wird für kurze Zeit in den Karzer gesperrt, 
die Ausgeburt aller Schrecken. Sie hält bis zuletzt einen 
Hungerstreik durch, von dem ste nur auf den inoralischen 
Druck der andern hin abläßt. Nach Jahren darf sie mit 
Ludmila Wolken st ein, der einzigen weiblichen Ge 
fangenen, spazieren gehen. Der ganze Organismus verän 
dert sich in der aufgezwungenen Stille. „Manche fangen an, 
an krankhaften Erscheinungen zu leiden, und bei jedem G e- 
räusch entringt sich der Brust reflexartig ein Schrei; wie 
sonderbar es auch u : je unbedeutender der Laut, desto stär 
ker ist die Reaktion. Das leiseste Geräusch löst Schluchzen 
aus, und wenn die Töne sich periodisch wiederholen, so wird 
die Qual unerträglich." Hangart, ein anständiger Kom 
mandant, verschafft den Gefangenen in späteren Jahren 
einige Erleichterungen: sie kommen Zu Büchern und dürfen in 
den Werkstätten bezahlte Aufträge annehmcn. Im dreizehnten 
Jahr wird ein beschrankter Briefwechsel mit den Verwandten 
gestattet; aber man ist dem Leben so entfremdet, daß die 
Gunst nur die Qualen vermehrt. „Wir hatten Angst vor Er 
innerungen, die sich von außen an uns herandrängten und 
unser so schwer errungenes seelisches Gleichgewicht zu stören 
drohten . . Zäsuren bilden die peinlichen Besuche 
Würdenträger und die Entlassung von Gefangenen, deren 
Strafzeit abgelaufen ist. Die Schlüsselburg ist zu ihrer Welt 
geworden. Auch Ludmila Wolkenstein geht. „Die ganze Zeit 
über -- weinte sie, und ich tröstete sie. Ihre letzten, rührenoen 
Worte beim Abschied waren, daß sie in Schlüsselburg die 
besten Menschen, die sie je im Leben getroffen habe, Zurück 
lassen müsse." Erst im Jahre 1903 erfährt die zu lebens 
länglicher Haft verurteilte Figner, daß ste auf das Flehen 
ihrer Mutte hin Zu zwanzig Jahren begnadigt worden ist. 
Ihr erstes Gefühl ist das der Erniedrigung. „Ich war empört, 
verletzt, meine erste Regung war, jede Beziehung zur Mutter 
abzubrechen." Noch zwanzig Monate, und sie verläßt auf dem 
- Dampfschiff: „Hüte Dicht" die Schlüsselburg. 
s 
Die Darstellung der Marthrerjahre ist ein Dokument ohne- 
, gleichen. Weiter konnte dre menschliche Entwürdigung nicht 
getrieben werden. Aber erstaunlich genug: von der Ohn 
macht der Verdammten strahlt eine Kraft aus, die der blin 
den Gemalt hie und da Abbruch tut. Die Figner spricht nicht 
ausdrücklich von dieser leisen Kraft, deren Bohren und Nagen 
dio Erzählung bezeugt. Proteste der Gefangenen haben einen 
unerwarteten Erfolg, ein junger Gendarm vergeht sich mit 
kleinen Hilfeleistungen wider die Vorschrift. Die Gewohnheit 
übt zu Gunsten der Unterdrückten ihre abstumpfende Wirkung 
auf die Machthaber aus. Nach und nach schlafen beengende 
Instruktionen «ein — freilich, sie erwachen auch wieder bei Ge 
legenheit —- unnötige Grausamkeiten unterbleiben. Auf ge 
heimnisvolle Weise wird die Gewalt von der Schwäche Zur 
Veranwortung gezogen. 
Mit der Entlassung aus der Schlüsselburg schließt das 
Buch. Weva Figner reist, wie sie in der Einleitung erzählt, 
1906 zur Herstellung ihrer Gesundheit ins Ausland, wo sie 
acht.Jahre bleibt. Sie will sich dann der sozialrevolutionären 
Partei anschließen, doch — die Kräfte versagen. „Die 22jälu 
rige, Abwesenheit aus dem Leben machte es mir unmöglich, 
mit einem Schritt die Evolution politischer Parteien, revo 
lutionärer Sitten und Verhältnisse einzuholen. Ich fühlte 
mich fremd, abgesondert und nutzlos in ganz neuen Verhält 
nissen." Sie verzichtet auf die Politik; auf den Kampf ver 
zichtet sie nicht. In Paris begründet ste ein Hilfskomitee 
für die zu Zwangsarbeit Verurteilten, und agitiert gegen die 
Grausamkeiten in russischen Gefängnissen. Bei Kriegs 
ausbruch kehrt die Veteranin der Revolution nach Ruß 
land zurück. Nach der Revolution wird sie zur Vorsitzenoeu 
des Amncstier 1 enkomitees gewählt. Die Arbeit geht 
ihr nicht aus. Heute unterstützt sie die Bildungs- und Er- 
ziehunasanM auf dem Lande. Dr. S. Kracauer.
	        
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