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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.07/Klebemappe 1928 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

lr,UMäs^ Unter der Leitung von Henri Barbusse 
beginnt zu erscheinen, eine Pariser Halbmonatsschrift 
internationalen Charakters, zu deren Stab Manne? wie Einstein, 
Gorki, Upton Sinclair, Umrmuno gehören. Bewußt will „Uonäe" 
ein Kampfblatt sein. Die Ziele der Zeitschrift: die Entschleierung 
der in der Gegenwart herrschenden Ideologien und Haupttrieb 
kräfte; die möglichste Annäherung der Kopfarbeiter an die Hand 
arbeiter, zu der die genaue Kenntnis der heutigen Gesellschafts 
schichtung Paletten soll; die Förderung und Sammlung aller Be 
strebungen, die auf eine auch den Massen zugängliche KunstüLung 
gerichtet sind. Da vielseitige Aufklärung als ein wesentliches Mittel 
zur Erreichung dieser Ziele erachtet wird, hat sich „Uonäe" einen 
auZgebreiteten Informationsdienst geschaffen, den namhafte Mit 
arbeiter der verschiedenen Länder versehen. Die erste Nummer, die 
uns jetzt voEegt, hat äußerlich jenen Zeitungscharakter, den wir 
auch manchen unserer Zeitschriften empfehlen könnten. Durch die 
Einfachheit und das beinahe Improvisierte der Aufmachung wendet 
sie sich nicht nur von vornherein an eine breite Leserschaft, sondern 
vermeidet auch die Geschlossenheit, die sich vor den Inhalten doch 
nicht behaupten kann. Barbusse entwickelt in dem Heft seine Auf 
fassung von der kommenden Kunst; Piscator eröffnet mit einem 
Artikel über das politische Theater eine Diskussion, an der sich 
such hervorragende Regisseure anderer Länder beteiligen werden; 
Manuel Ngarte berichtet über die Auseinandersetzung zwischen den 
Vereinigten Staaten und den Ländern des lateinischen Amerika; 
Raum gegönnt ist nicht zuletzt der Belletristik, den Problemen 
des Rundfunks und des Films. Wichtig die groß? Rubrik: 
„Panorama", in der sich Notizen und kritische Müssen über alle 
möglichen Vorgänge finden. Daß, der Bestimmung von „Noncke" 
entsprechend, stets auf die Zusammenhänge zwischen den sozialen 
und geistigen Ereignissen geachtet wird, versteht sich von selbst. 
Der Herr der Nacht. Dieses Kriminalgesellschaftsstück, das 
die Hansa-Lichtspiele Zeigen, ist nach einem Roman von 
Rosenhayn verfilmt. Lüstspielmotive älteren Stils mischen sich in 
ihm mit den Schauern des Mondänen, das in dem „Herrn der 
Nacht" sich därM Klein-Rogge, der so pathetisch 
Ängeredete, ist ein mächtiger Lheaterdirektor, der sich in Vor 
stadtvarietes seine künftigen Stars aufliest und mit Napoleons 
allüren den Revuebetrieb leitet. Sein Gegner: ein Verein zum 
Schutze der GrößstMjugend. In ihm finden sich außer alten 
Possenschachteln ein sympathischer Banrdirektor (B r e n k e n d o r f), 
der aber heimlich eine Revueschönheit aushält; seine jungfräuliche 
Tochter- deren Ahnungslosigkeit Aud Egede Nissen mit viel 
Ahnung spielt; ihr Verlobter, ein gemeiner Erpresser, dem Erich 
Kaissr-Tietz einen Scheitel und das süßliche Lächeln leiht. 
Aus der Aufstellung deZ Personeninventars geht schon zur Ge 
nüge hervor,- daß hie Bankierstochter den Herrn der Nacht 
heiratet. Damit das möglich wird, muß übrigens Theodor Loos 
in all seiner Blondheit als eifersüchtiger Chemiker einen Theater 
brand entfachen. Einige gute Nachtaufnahmen und Ueberblendun- 
gen schmücken den Film. Was ihm nichts schadet. KucL. 
aus der Jacke,, während er gestikuliert - ein höchst bedeutender 
Anblick. Erschütternd und sonderbar auch, daß gerade dieses spiri 
tuelle und hergewehte Gesicht sich im Umkreis der Volksgestalten 
findet, mit denen es sich wundervoll eint. 
ch 
Besonders großartig sind die wenigen Szenen, in denen die 
Improvisation verherrlicht wird. In den Augenblicken der 
entscheidenden Kampfhandlung zeigt sich die Tür Zum Zimmer 
des Exekutivkomitees. Mein ihr unterer Teil tritt ins Bild. 
Ununterbrochen geht der Türflügel auf und Zu, Beinpaare eilen 
heraus und herein. Werden in »den übrigen Teilen des Films ab 
gelebte Raumerscheinungen gekennzeichnet, so ist mit dieser Tür 
auf das Element eines neuen Lebens hingewiesen. Sie ist der 
Bestandteil einer Gesellschaftswelt, in der die Improvisation 
mehr besagt als die Institution. Ihr Bild hält den der Erstarrung 
anhermgesallenen Szenen des Films die Wage. 
* 
Der Film — die scheußlichen Musik-geräusche Weisels beglei 
ten ihn °— wurde von der Frankfurter Ortsgruppe des 
Volks Verbandes für Filmkunst im Gloria 
Palast vorgeführt. Alfons Paquet sprach die schonen ein 
leitenden Worte. Kack. 
Natur und Liebe. 
Dieser von der Kulturabteilung der Ufa hergchellte Wm 
— er wird in den Ufa-Lichtspielen gezeigt — ist eine 
Art von populärer Leitfaden durch die Schöpfungsgeschichte. Bei 
dem Unternehmen haben eins Reihe von Professoren Pate gestan 
den, so daß man wenigstens die Gewißheit haben darf, die Welt 
sei so entstanden, wie sie hier vorgeführt wird. Zwar, bei dem 
Urnebsl wird auch kein Professor zugegen gewesen sein, er sieht 
überhaupt mehr nach einem Filmatelier aus — aber die meisten 
naturwissenschaftlichen Bilder sind doch geeicht und authentisch. 
Von den Einzellern an über die Affen zum Menschen steht man 
eine Reihe von Aufnahmen, die das Leben der Geschöpfe, chre 
Nahrungsbefriedigung und ihre Fortpflanzung vergegenwärtigen. 
Das wird viele interessieren. Häufig wird mit riesigen Ver 
größerungen gearbeitet und auch geschickte Trickbilder sind oft 
herangezogen; lehrreich zum Beispiel die Darstellung der Ent 
wicklung des menschlichen Embryos. Die Titel, die diesen Längs 
schnitt durch das Erdenleben erläutern, sind leider nicht frei von 
Schwulst. Außerdem werden dem großen Publikum Konzessionen 
gemacht, für die es sich bedanken sollte. So muß es prähistorische 
Stzenen über sich ergehen lassen, die entsetzlich gestellt sind, und 
muß am Schluß einen kunstvoll aufgebauten Anstieg halbnackter 
Statisten Zu neuen Menschheitsgipfeln genießen, dessen Anblick 
den Wunsch nach einem sofortigen HSllensturz aufleimen läßt. 
Von solchen und anderen groben Geschmacklosigkeiten abgesehen, 
enthält aber der Film immerhin für die breiteren Schichten man 
ches Instruktive. K.LLL. 
«- Das Spielzeug von Paris. Der Film ist vor über Zwei 
Jähren zum ersten Male gezeigt worden. Es ist.ganz interessant, 
ihm in den Al em an n i a- L i ch t sp ie l e n wieder zu be 
gegnen. Er spielt in der Lebewelt, Niggerjazzbands und glänzende 
Revuedekors sind sein Hintergrund. Damals herrschte in Paris 
noch die Inflation, und ein Kabarett strahlte auf der Rue Pigalle 
zu immer teureren Preisen neben dem andern. Man merkt an dem 
Film: die Kabarett- und Tanzindustrie hat bereits einen leichten 
Hautgout, die Jazzwut beginnt historisch zu werden, der Lebe- 
taumel ergreift nicht mehr wie früher die Massen. Stabilisierung 
auch hier. Die schöne Lily Damita als großer Revuestar hat 
einige gute Momente. K.LcL. 
Casanovas Erbe. Dieser Film mit dem schlecht gewählten 
Titel — die Bieberhau-Lichtspiele führen ihn vor — 
ist ein sehr guter Hochstaplersilm. Sein Held ist, genauer gesagt, 
ein Heiratsschwindler. Harry Hardt spielt ihn doof und schön, 
mit einem symmetrischen Schnurrbärtchen und angestrengt aristo^ 
kratischen Allüren. Das Glück kommt Zu ihm in eine Hafenkneipe, 
wo er als Geiger amtiert. Durch einen handlungsmätzig geschickt 
arrangierten Zufall gewinnt er Geld und einen Paß, mit dessen 
Hilfe er sich fortan als Freiherrn ausgeben kann. Sein nächstes 
Ziel ist das große Hotel. Dort wird er von einer Gräfin, die sich 
als HoLelratte entpuppt, über seine eigentlichen Fähigkeiten auf- 
gcklän. Nacheinander nimmt er dann, ach, durch seine Gestalt für 
sich ein; seine plötzlich zu Reichtum gelangte Wirtin (die von 
Maly Delschaft blond und innig verkörpert wird), eine Zofe 
und eine echt- Gräfin, der er wie der Wirtin alles abnehmen 
möchte. Andröe la FayetLe leiht ihr die reife GesellschsstZ- 
erscheinung. Gerade in dem Augenblick, in dem sie ihren Gästen die 
Verlobung mit dem Schwindle? verkünden will, wird der ver 
haftet. Kum Glück hat sie einen wirklich aristokratischen Freund 
kJohn Lob er), der sie vor dem Skandal bewahrt. Manfred Nss 
bat dieses unterhaltende Sujet, von einigen Längen abgesehen, 
ihnen heben sich die Gesichter dex gestürzten Oberklasse als von 
einer reinen Folie ab. Niemals zuvor sind verschiedene gesell 
schaftliche Zustände durch die bloße Konfrontation der von ihnen 
abhängigen Typen so drastisch veranschaulicht worden. Noch ein 
dritter Typus kommt in diesem Film hinzu: der des intel 
lektuellen Revolutionärs. Antaroff, ein dünner, 
schwarzer, bärtiger Mann, entwirft den Aufmarschplan, führt die 
Truppen zum Sturm aufs Winterpalais. Sein Röllchen fliegt 
sauber, schlagkräftig und hie und da witzig gedreht. DaS klein- j 
bürgerliche Milieu und das des gräflichen Schlosses sind exakt 
getroffen, und die Art, in der sich der Held den verschiedenen 
Umwelten anpaßt, bezeichnet diese nicht minder wie ibn. Auch 
sind die Uebergange gemeistert (ein Blumenstrauß, den der Held 
mehreren Damen anbietet, bindet die betreffenden Szenen (zusam-^ 
men. Schließlich sei der originellen Aufnahmen deZ KabarettädsndZ 
im Hotel gedacht, bei welcher Gelegenheit übrigens ausgezeich 
nete Artisten ihre Künste zeigen. Es wirken noch mit: ein be 
gabter Junge., Kurt Gerron mit einem ausgeschlagenen Auge 
als Hafenwirt und der immer gute Louis Ralph als vertuschte 
Mstenz. RucL
	        
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