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fullscreen: H:Kracauer, Siegfried/01.08/Klebemappe 1929 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Der erste amerikanische Honfikm 
Berlin, Anfang Juni. 
Wird er nun endlich aufgeführt werden? Oder wird wieder 
nichts daraus? Seit Wochen ging der Streit hin und her. Mehrere 
Male bereits waren Vorstellungen angesetzt worden, die wieder ab 
gesagt werden mußten, weil die deutsche Gruppe (Tonöildsyndikat 
und Klangfilm G. m. b. H.) einstweilige Verfügungen erwirkt 
hatte, die eine Vorführung verhinderten. Die amerikanische Western 
Electric, so hieß es, habe deutsche Patente verletzt. Um einem 
nochmaligen Verbot zu entgehen, hat man jetzt dem Vernehmen 
nach einfach statt der amerikanischen Röhren Telefunken-Röhren 
eingebaut. Daraufhin ist denn auch in letzter Stunde die einst 
weilige Verfügung aufgehoben worden. 
Am Montag abend also ist er im Gloria-Palast angelaufen. 
Große Premierenstimmung; die uerfreulichen Schwierigkeiten haben 
auch als Reklame gedient. Der Film heißt: „Der singende 
Narr" (bin§in§ iool) und ist, was man nicht unterschlagen hat, 
eines der größten New Docker Ereignisse gewesen. Schmalzig genug 
ist er dafür. Sein Held Al Iolson —- man kennt ihn bei uns 
aus dem famosen Filmreißer: „Der Jazzsänger", in dem er seine 
eigene Lebensgeschichte erzählt hat — begeht Orgien an Sentimen 
talität, wie man sie hierzulande noch kaum kennt. Eine so gewaltige 
Sentimentalität kann nur das Korrelat einer besonderen Geschäfts 
tüchtigkeit sein. Je mehr sich das Geschäft ausdehnt, um so mehr laufen 
die Herzen über. Kabarettinhaber, Theaterdirektoren — alle Men 
schen sind gut. Nur eine Frau nicht, aber sie wird für ihre Härte 
gestraft. Zu höheren Rührungszwecken muß sogar ein unschuldiges 
Kind sterben. Kein Auge darf trocken bleiben, sonst verdient die 
Filmindustrie nicht genug. 
Der Riesenschmarren ist durchgehends vertont. Musik begleitet 
die Handlung. Sie illustriert stumme Szenen und untermalt leise 
das gesprochene Wort, das an wichtigen Stellen die Instrumente 
ablöst. (Aehr geschickt angebracht sind die kleinen deutschen Textbei- 
ßaben auf dem laufenden Streifen, die den englischen Dialog er 
läutern.) Auch Geräusche, wie Händeklatschen und der Lärm der 
Menge, sind wirkungsvoll einbezogen. Eine ganze Fülle akustischer 
Möglichkeiten ist ausgeschöpft. 
Technisch nicht immer gleich vollkommen. So plastisch die 
Orchesterklänge hervortreten, so undeutlich bleibt das gesprochene 
Wort. Auf längere Strecken hin geht das Gespräch fast verloren, 
und nur die Helle Stimme des rührenden Kindes kann sich be 
haupten. Woran der Fehler liegt, mag der Fachmann ergründen. 
Jedenfalls ist in einigen vor kurzem hier gezeigten deutschen Ton 
filmfragmenten die Rede besser Zu verstehen gewesen. 
Doch die paar technischen Mängel, denen sich gewiß über kurz 
oder lang abhelsen läßt, spielen bei der Beurteilung nicht eigentlich 
die Hauptrolle. Entscheidend ist vielmehr allein, ob der Zusammen 
hang von Ton und Bild bereits zu einer neuen Gestalt geführt hat, 
die weder stummer Film noch Kopie des Theaters ist. 
Ihrer Verwirklichung stellt sich vor allem der Einbau des ge -! 
sprochenen Worts entgegen. Es erfüllt den Raum, ohne sich 
unmittelbar auf die sichtbar Sprechenden beziehen Zu lassen. Das 
Wort ertönt, und außerdem bewegen sich die Lippen, von denen es 
aber nicht ausgeht. Damit nun überhaupt Gespräche reproduziert 
werden können, setzt die Bewegung der Kamera oft aus, und die 
Partner erscheinen während geraumer Zeit in annähernd denselben 
Stellungen auf der Leinwand. Um der vertonten Rede willen wird 
also die vom stummen Film mühsam eroberte Kunst der Montage 
teilweise wieder preisgegeben. Das ist eine Selbstverstümmelung, 
die noch nicht einmal zur anständigen Reproduktion des Theaters 
führt. Schon heute darf mit Sicherheit ausgesagt werden, daß die 
fortdauernde Verwendung des Dialogs ein Irrweg ist. Der durch 
das Wort vermittelte Sinn verlangt die körperliche Gegenwart deS 
Sprechenden oder gar keine Gegenwart. Seine Verkoppelung mir 
der Filmmontage, die ja bereits für sich selbst einen Sinn darstellt, 
tut ihm nur Abbruch. 
Das heißt natürlich nicht, daß nicht an passenden Stellen 
Worte in das Tonbildgefüge einbrechen könnten. Einmal sagt das 
ergreifende Kind: „huh", um seinen Papa zu erschrecken, und 
dieses „huh" ist sehr nett. Taucht das Wort als Ton neben der 
Musik und unartikulierten Geräuschen auf, so mag es richtig am 
Platz sein. Im allgemeinen jedoch — Las ging aus dem amerika 
nischen Film unzweideutig hervor — wird der Tonfilm nur dann 
zu seiner eigenen Form gelangen, wenn er darauf verzichte^ einen 
in sich geschlossenen Wortsinn mit Gewalt an einen in sich ge 
schlossenen Bildsinn zu binden. 
Es gibt eine winzige Szene, die vielleicht der Ansatz zu etwas 
Neuem ist. Ein Neger liegt auf dem Divan und schnarcht. Das 
GeräHch des Schnarchens wird in die Musik hereingeholt und 
bildet mit ihr eine reizende Tonarabeske. Sie findet sich in Freiheit 
mit )em Bild zusammen, das ihretwegen nicht zu verkümmern 
brauht. In dieser Szene handelt es sich nicht um eine überflüssige 
jVerdoppelung wie überall bei den Dialogen, in ihr werden viel-' 
'mehr zu gleicher Zeit mit verschiedenen Mitteln verschiedene Ge 
halte ausgedrückt, die sich ergänzen, ohne sich zu ersetzen. 
Der Beifall war laut und galt vor allem der hie und da 
glänzenden Reproduktion. Nicht selten schlug er mit dem Beifall 
zusammen, den das auf der Leinwand abgebildete PuMum spen 
dete; ein höchst merkwürdiges Ineinander realer und imaginärer 
Größen. S. Krakauer. 
^Wertvff irr Frankfurts Der bekannte russische Film- 
reMeur Dsiga WerLoff, der Vorkämpfer des ungestellten Films, 
über dessen bedeutenden Film „Der Mann mit dem Kino-Apparat" 
wir vor kurzem ausführlich berichtet haben, wird am Sonntag 
früh in Frankfurt einen öffentlichen Vortrag halten und 
daran anschließend Fragmente aus dem obengenannLen Film, 
ferner aus seinen Filmen „Lenins Wahrheit", „Der sechste Teil der 
Welt", „Dss elfte Jahr" und „Kino-Auge" zeigen. Bei dieser 
Gelegenheit sei LemeE, daß vor einiger Zeit durch mehrere deutsche 
Städte ein von V. Bbsn Montierter Film „Im Schatten der 
Maschinen" glaufen ist, der ganze Teile aus Wertoffs Lei uns noch 
unausgeführtem „Elften Jahr" ohne dessen Wissen und Willen 
übernommen hatte. Das hat die ununterrichtete Öffentlichkeit leider 
hie und da Zu der irrigen Meinung geführt, als ob Blum ein Vor 
läufer Wertoffs sei; eine Meinung, die um so gegenstandsloser ist, 
als dieser bereits vor über zehn Fahren seine eigene Filmsprache 
ausgebildet hat. Wen Freunden des neuen russischen Films sei die 
Veranstaltung Wertoffs «empfohlen. 
/o i 
- /0.F S 
! sSubmarme.^ Man schreibt uns aus Berlin: Dieser 
^amerikanische Tonfilm der Messtro, der seit ein paar Lagen 
im Ufa-Palast am Zoo läuft, st nach iool" eine Ent ¬ 
täuschung. Das leibhafte UfaorHester hätte besser gewirkt als die 
einverleibte Begleitmusik, die roch dazu mangelhaft reproduziert 
ist. Die menschliche Stimme wird kaum verwandt; es sei denn, 
daß manchmal die Leute schreien oder ein Lied ertönt, das offen 
bar hinter der Szene steigt. Außerdem mischen sich verschiedene 
j Geräusche ein: das Rauschen des Meeres, das Knirschen von 
Ketten. Das heißt, sie versuchen sich einzumischen, in Wirklichkeit 
gelingt es ihnen nicht recht. Die akustischen Anstrengungen muten 
um so hilfloser an, als der Film ohne jeden Bezug auf sie mon 
tiert ist. Er ist mejr als seine Töne. Mit technischer Virtuosität 
verkitscht er furchtbare Ereignisse zu Sensationen. Man erinnert 
sich des Unterseeboots der amerikanischen Marine, das vor einiger 
Zeit versank,-ohne daß es gelang, die Mannschaft zu retten. Im 
Film wird der Todeskampf dieser Mannschaft gezeigt, ein Todes 
kampf, der mit unverkennbarer Wonne zu vielen langen Metern 
gestreckt ist. Zur Belohnung für die Qual folgt am Schluß, dem 
tatsächlichen Verlauf entgegen, der Glanz des enck. Wo die 
Not am größten, ist der Filmproduzent am nächsten. Er versteht 
sich auf sein Handwerk, denn er hat ein übriges getan und die 
Rettung mit einem Liebesabenteuer verknüpft, um dem Publikum 
auch noch die Erotik zu bieten, die es nach seiner Meinung wie 
das liebe Brot benötigt. Zwei befreundete junge Matrosen, deren 
gemeinsames Auftreten an den bezaubernden Film: sirl in 
everA- port" gemahnt, lieben ein und dasselbe Weibchen, das eine 
Lulu der Südsee ist. Der eine, der sich als Tieftaucher eines 
großen Renommees erfreut, glaubt sich vom andern betrogen. 
Erst als er im letzten Augenblick erfährt, daß allein das Weib die 
Schuld trägt, entschließt er sich dazu, in die Tiefe zu tauchen und 
mit dem Freund auch die Mannschaft Zu befreien. Die Verlogen 
heit, mit der hier die Wirklichkeft geschändet ist, kennt nicht ihres 
gleichen. Ihr entsprechen die deutschen Titel von Willy Haas, 
deren Schnuckis und Bubis durchaus der literarischen Halbwelt 
angehören. Genießbar sind nur die Panzerkreuzer und Flugzeug- 
Mytterschisie, die zum höheren Ruhme der amerikanischen Kriegs 
marine die Leinwand erfüllen.
	        
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