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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.08/Klebemappe 1929 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Salon 1SZÜ 
Von Ginster. 
Eine Stille war plötzlich eingetreten, und in der 
Stille tönten die Worte: 
„Wir müssen unsere Jugend zum Abscheu vor 
Kriegen erziehen." 
Endlich. Der Bann war gelöst. Herr Berg hatte ge 
sprochen. Hatte er wirklich gesprochen? Sein Profil 
blieb weiter so unbeweglich, als seien die der Kontur 
wegen zusammengepreßten Lippen niemals geöffnet 
worden, und nur durch ein Wunder konnte die 
Behauptung ihnen entsprungen sein. Gerade weil 
Georg sie keineswegs außergewöhnlich fand, begriff 
er umso weniger, daß sie wie eine monumentale 
Verkündigung wirkte, die unmittelbar aus dem 
Himmel gefallen war. Das Monument war schon 
aus der Ferne zu sehen. Ich will an die Öffentlich 
keit, dachte Georg von neuem, und malte sich aus, 
wie schweigsam er sein werde, wenn er es einmal 
zu der Berühmtheit von Herrn Berg gebracht hätte. 
Um seine glanzvolle Laustahn sofort zu beginnen, 
suchte er sich einen Platz in dem Tumult Zu er 
obern, den der Ausspruch entfesselt hatte, aber Frau 
Heinisch kam ihm zuvor. Er hätte ihr nie die Wild 
heit zugetraut, milder sie sich gegen die Bleisoldaten 
ereiferte, in denen sieden wahren Grund des Kriegs 
übels erblickte. „Ich habe meinem Jungen immer 
verwehrt, mit Bleisoldaten zu spielen." Sie richtete 
diese Erklärung an Frau Bonnet, die ihr denn auch 
das ersehnte Lob spendete. Als sie die Abschaffung 
sämtlicher Bleisoldaten forderte, nickte das Profil 
zum Zeichen des Beifalls. Von so viel Anerkennung 
überschüttet, wölbte sich Frau Heinisch zur sanften 
Mulde zurück und schickte wider Frau Heydenreich 
ein Lächeln aus, dem die Gewalt einer kriegsstarken 
Kompanie der soeben ausgerotteten Bleisoldaten 
innewohnte. Die Strafexpedition war von sichtbarem 
Erfolg gekrönt. Georg hätte in der Mulde nicht 
liegen mögen. Bei seinem mangelhaften Personen 
gedächtnis fürchtete er sich, Frau Heinisch oder Frau 
Heydenreich in Zukunft auf der Straße zu be 
gegnen, denn er wußte bereits im voraus, daß er 
sie nicht auseinanderzuhalten vermochte. Während 
die Gesellschaft noch erbarmungslos über die Blei 
soldaten Herzog — auch Frau Heydenreich mußte 
sich wohl oder übel zu ihrer Vernichtung bekennen 
empfand er selbst eher Mitleid mit den winzigen 
Truppen. Seine Großmutter hatte sie manchmal auf 
einer Glasplatte aufgestellt und dann von unten 
mit dem Finger gegen' die Fläche geklopft, um die 
Reihen in Verwirrung zu bringen. Schließlich war 
er ein Kind gewesen wie die andern und hatte doch 
die Lust an den frühen gläsernen Ereignissen zu 
keiner Zeit auf den richtigen Krieg übertragen. Er 
wollte die Soldaten verteidigen, gelangte aber 
wieder nicht an die Front, sondern wurde bis zu 
dem bleichen Mädchen abgedrängt, in dem nach 
gerade eine Glut aufgespeichert war, die völlig hin 
gereicht hätte, um alle Bleiheere der Welt einzu- 
schmelzen. Wie ein Hochofen bewahrte das Mädchen 
die gewaltige Hitze in sich. Statt sich noch in Frau 
Bonnet zu versenken, richtete es jetzt seine Augen 
ohne Unterlaß auf Herrn Berg, dessen Profil den 
sengenden Strahlen unversehrt standhielt. Düster 
hing das Profil vor einem goldenen Rahmen und 
spornte rein durch seine Gegenwart die nach der 
Unterdrückung der Spielschachtelkriege etwas er 
mattete Gesellschaft zu neuen Taten an. In den 
Tassen der Lee war kalt geworden, es lag ihnen 
nichts an dem Tee. Sie jagten die kapitalistischen 
Unternehmer davon, sozialisierten die Bergwerke und 
vereinigten sich international. Herr Bonnet gähnte 
gegen den Patriotismus. Frau Heydenreich lief mit 
Frau Heinisch um die Wette, konnte ihr jedoch den 
vorhin erzielten Vorsprung nicht abgewinnen. Zur 
Entschädigung warf sie dem Profil einen Privatblick 
zu, der sich auf die gemeinsamen Plauderstunden 
bezog. Sie trug ein bescheidenes dunkles Kleid, das 
ihre Schönheit gerade soweit abblendete, als es das 
Bekenntnis zur sozialen Umwälzung erforderlich 
machte. „Die Klassiker," rief Fräulein Samuel und 
flog krumm W die Höhe. Was der Ausdruck 
Friedenstaube sollte, begriff Georg nicht mehr. Das 
SchLachtbeil der Liebe war ausgegraben. Fräulein 
Samuel schwang es durch die Lüfte und versetzte mit 
ihm den Klassikern funkelnde Streiche. In ihren 
Dramen fänden sich Stellen, die das Völkermorden 
verherrlichten. Unsere Jugend wird durch die 
Klassiker schon im Keim verdorben. Die Schulaus 
gaben müssen in Zukunft von Kriegen gründlich 
gereinigt werden. Ihr Organ gellte nicht eigentlich, 
sondern pfiff. Tausende von Menschen faßte das 
Lokal, zu dem sie die Salonwände auseinander 
gepfiffen hatte, eine Massenversammlung, so war es 
ihr recht. Das Profil nickte überlebensgroß. 
„Ginster, von ihm selbst geschrieben", nennt 
sich ein viel gelesener Roman, der 1928 durch 
den Verlag Fischer publiziert wurde. Wir 
brachten damals Bruchstücke aus dem Werk, 
heute sind wir in der Lage, von demselben 
Autor das Fragment eines neuen Romans zu 
bringen, dessen Hintergrund die jähen Wand 
lungen der Nachkriegszeit bilden.
	        
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