Schalttafeln laufen die Stunden bis zum Abend davon. Man hat
frei, aber man ist zu müde, um frei zu sein. Magazine und Gram
mophone vertreiben die Zeit, statt sie zu halten. Schläfrig wird
der Wecker gestellt, und morgen geht es so weiter.
Die Monotonie dieses Lebens ist durch viele treffende Ein
zelzüge belegt. Zu unterbrechen wermag sie einzig der Kitsch, der
das Halbdunkel für Augenblicke erhellt. Es gehört zu den besten
Einfällen des Films, daß dem Schlager eine entscheidende
Rolle angewiesen worden ist. Bei den Klängen des „I love
wähnen die Liebenden im Lanzfaal den Himmel zu
schauen, und eben das „I love bringt sie am Ende
zusammen. Eine Rutschbahn ist ihre Seligkeit, eine Grammophon
platte wird ihnen zur Engelstiwme. Das Licht scheinet gebrochen
in der Finsternis.
„I^OVSSOVLe."
Ein guter Film.
Paris, Anfang April.
Der Wm: ..I^ouSAonw", der aus Hollywood kommt — er lief
NZ vor wenigen Lagen unter dem Titel: „8tu8iO
äeZ und wird jetzt in einem BouleMdkino gezeigt —.
ist einer der besten WlM, die seit langem hergestM
Seine Fabel? Er hat keine Fabel. So alltäglich ist die Geschichte, die
er erzählt, daß die heutigen Großkampfregisseure sich geschämt hätten,
dergleichen Zu verfilmen. Eine Telephonistin und ein Fabrikarbei
ter sind die Helden. Kleine Leute, wie man sie in den üblichen
deutschen Filmen überhaupt nicht sieht. Oder man sieht sie, aber
Zum Schluß machen sie dann zum höheren Ruhm und Nutzen der
Gesellschaft eine reiche Partie. Hier bleiben sie von Anfang
bis zu Ende gewöhnliche Angestellte, die sich in nichts von den
Millionen anderer Fabrikarbeiter und Telephonistinnen unterschei
den. Sie arbeiten während der Woche und möchten sich Sonntags
gern amüsieren. Leider ist er ohne Freundin und auch ihr fehlt
der Anschluß. Um der Verlassenheit Zu entrinnen, verbringen beide
das Wochenende am dichtbesetzten Meeresstrand und schließen dort
im Badekostüm miteinander Bekanntschaft. Längst ist der Strand
leer geworden, und sie schwatzen immer noch. In der Nähe befin
det sich -ein Rummelplatz, in dem sie später gemeinsam tanzen, wackeln, -
und sausen. Durch einen dummen Zufall werden sie auseinander-
geriffen. Verzweifelt suchen sie sich, aber die Millionen von Angestell
ten, die gleich ihnen'den Jahrmarkt bevölkern, drangen sich stets da
zwischen. Er geht nach Hause, sie geht nach Hause. Nun bliebe
jeder doppelt allein, wäre nicht die Geschichte ein Märchen. Er
und sie haben nämlich seit Jähr und Tag Zimmer an Zimmer ge
wohnt, in einer jener Hauskasernen, deren zahllose Mieter einander
so fremd wie die Antipoden sind. Genau in dem Augenblick, in
dem sich die zwei Heimgekehrten für immer getrennt glauben, werden
sie ihrer räumlichen Nachbarschaft inne. Sie sind vereint, die un
endliche Entfernung der paar Zentimeter ist überwunden.
Die Bilder sind nicht Illustrationen eines Textes, sondern
stellen den Gehalt unmittelbar da. So ganz ist er in ihnen ge
borgen, daß seine sprachliche Wiedergabe eine Uebersetzung aus
dem Original wäre. Der Uebersetzer müßte ein bedeutender Prosa
künstler sein, um das Urbild zu treffen.
Beispiel der Montage: Die Szenen, die von der täglichen
ArLeitsverrichtung handeln, erscheinen hinter einem schwach hervor-
Lretenden Zifferblatt; nicht schlagender könnte die Einförmigkeit der
Hantierungen versinnlicht sein als durch den gleichzeitig wahr
nehmbaren Umlauf der Zeiger. Ein anderes wundervolles Bild
ist der feenhaft illuminierte Juxplatz, der, Wirklichkeit und
Glückstraum in eins, im Abend vor den Liebenden austauchü
Und mit welcher Peinlichkeit ist ihre Zwiefache Einsamkeit ge
staltet, die in den öden Zimmerzellen und die im grausamen
Menschenlabyrinth! Dort Hausen sie, jeder für sich, inmitten eines
Mobiliars, dessen Unwesen der Film schonungslos ans Licht
zieht. Hier jagen sie einander Mischen Luftschlangen, wimmeln
den Gesichtern und im Konfettiregen ununterbrochen nach, ohne
je zusammenzukommen. Sie stehen ahnungslos Rücken an Rücken,
sie streifen wiederholt an einem Buden besitz er vorbei, der weiß,
daß sie sich beaebren. ihnen aber aus Gleichgültigkeit ie Auskunft
Der Regisseur heißt Paul FLjos. Aus dem banalen Stoff
hat er, unterstützt von seinen Hauptdarstellern Glenn Lrhon
und Barbara Kent, eine bis zum Rand gefüllte Handlung ge
schaffen, der an humaner Gesinnung in der jüngsten Literatur;
allenfalls einige Schilderungen von Nathan Asch und Sinclair
Lewis vergleichbar sind. Mit Anstand, Mut und guter Kenner
schaft wird die Kamera auf den Alltag der Erwerbs
tätigen gerichtet und nirgends ist seine Leere beschönigt. Er
beginnt in häßlich möblierten Zimmern und führt wieder in sie
zurück. Früh Lötet das Raffeln des Weckers den Schlaf. Die Pflicht
ruft, oder was so heißt. In der Hochbahn kämpfsn die Menschen-
maffen um einen bescheidenen Stehplatz. Vor Maschinen und
Edmund Kußerk.
Der berühmte Philosoph Edmund Husserl beqing
rüM »8. Apnl seinen 70. Geburtstag. Seine Werke sind von
Srovem Einfluß auf die zeitgenössische Philosophie gewesen,
^ron Bolzano und Franz Brentano bestimmt, hat er in An
. chnung an das scholastische Denken eine Wendung gegen den
P.vhmog-smus seiner Zeit und gegen den idealistischen For
malismus vollzogen. In seinen „Logischen Untersuchungen",
in deren klassischem ersten Band er den Begriff einer
reinen Logik herausschält, die es nur mit Sätzen an sich und
nicht mrt seelischen Urteilsakten zu tun hat, sind bereits die
Konturen der PHSnomenologie sichtbar, jener neuen
philosophischen Betrachtungsweise, als deren Begründer
Husserl anzuiprechen 'st- Ihrer systematischen Ausarbeitung
hat er das Werr „Ideen zu einer reinen Phänomenvlogie und
Pbcmomenologiichen Philosophie" gewidmet. Es ist nicht möm
den Gehalt dieses Grundbuchs überschlägig zu kenn
zeichnen. Immerhin mag angedeutet werden, daß Husserl
selosi die Phänomenologte als „Wesenswissenschast" vom
reinen Bewußtsein definiert, als eine Disziplin, die das-Feld
des reinen Bewußtseins deskriptiv zu erforschen habe. Unter-
mmologisch gesprochen: Husserl nimmt an, daß es außer der
Wissenschaft von den Tatsachen noch eine von den Wesenheiten
geoe, die einer an die Realität ungebundenen „reinen" An-
IMauung zugänglich seien. So untersucht er etwa das „Wesen"
Ton oder das „Wesen" Farbe. Was bedeutet diese Methode?
^hr historisches Verdienst ist, daß sie wider das idealistische
System eine Lehre setzt, die nicht wie das System bei for-
Oberbegriffen anhebt und in sie einnmndet, sondern der
v-ulle der Phänomene durch die unsystematische Anschau
ung gerecht werden will. Ist die idealistische Konstruktion not
wendigerweise wirklichkeitsblind, so möchte die Phänomeno-
grundsätzlich die Wirklichkeit der Wesenheiten einlassen
^«r Tatlache gegenüber, daß Husserl einen Ausweg aus dem
Kerker des Idealismus gesucht hat, verschlägt es wenig, daß
- »Abst niemals zu eigentlich inaterialen Wesensbestimmungen
vorgeorungen ist und gegen das Ende seiner „Ideen" hin
immer mehr denselben konstruktiven Idealismus wieder
ausgenommen hat, dem er an Anfang des Werks zu begegnen
M muhte. Ja, gerade dieses Schwanken, diese Zweideutia
A'. --nn man will, ist seine Tiefe. Husserls größter An-!
Hanger und Genosse ist Max Sche er gewesen. Ueber Husserl
hlnausgehend, hat er in unzähligen Beschreibungen die Welt
der matenalen Wesen zu durchmefsen und ordnen gesucht. In
serner katholischen Periode ist er von dem Bestreben erfüllt
gewesen, die Hierarchie aller Werte zu entschleiern; späterhin
hat er von der Grundlage der Anthropologie, also von „unten"
aus, den Kosmos erstellen wollen, den er von „oben" aus
nicht mehr gewinnen zu können meinte. Seine Eroberungen
aber sind nur durch Husserl möglich gewesen, der den Blick
auf die konkreten Phänomene zuerst eröffnet hat. Von der
Phänomenologte kommt auch Heidegger her, der frühere
- Assistent Husserls an der Freiburger Universität, der durch die
! Einführung des Zeitbegriffs eine wichtige Korrektur an dem
Lehrgebäude vorgenommen hat. Die Frage ist, ob es der
I Phänsmenologie gelingen wird, zu echten Konkretionen zu ge
langen. Was bei Scheler zu erhoffen war, ist nach seinem
Tode zweifelhaft geworden. Es könnte heute beinahe so
j scheinen, als begnüge sich die Phänomenolsgie damit, den
! ontologischen Gegenpol des idealistischen Systems in der
- gleichen formalen, wirklichkeitsabgewandten Sphäre zu bilden,
in der dieses System verkümmert ist. Husserl hat eine Tür auf
gestoßen ; sie dürste nicht wieder zufallen.
(Wr werden die hier angedeuteten Probleme bei Ge
legenheit in einem größeren Zusammenhang zu behandeln
versuchen. D. Red.)