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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.08/Klebemappe 1929 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Schalttafeln laufen die Stunden bis zum Abend davon. Man hat 
frei, aber man ist zu müde, um frei zu sein. Magazine und Gram 
mophone vertreiben die Zeit, statt sie zu halten. Schläfrig wird 
der Wecker gestellt, und morgen geht es so weiter. 
Die Monotonie dieses Lebens ist durch viele treffende Ein 
zelzüge belegt. Zu unterbrechen wermag sie einzig der Kitsch, der 
das Halbdunkel für Augenblicke erhellt. Es gehört zu den besten 
Einfällen des Films, daß dem Schlager eine entscheidende 
Rolle angewiesen worden ist. Bei den Klängen des „I love 
wähnen die Liebenden im Lanzfaal den Himmel zu 
schauen, und eben das „I love bringt sie am Ende 
zusammen. Eine Rutschbahn ist ihre Seligkeit, eine Grammophon 
platte wird ihnen zur Engelstiwme. Das Licht scheinet gebrochen 
in der Finsternis. 
„I^OVSSOVLe." 
Ein guter Film. 
Paris, Anfang April. 
Der Wm: ..I^ouSAonw", der aus Hollywood kommt — er lief 
NZ vor wenigen Lagen unter dem Titel: „8tu8iO 
äeZ und wird jetzt in einem BouleMdkino gezeigt —. 
ist einer der besten WlM, die seit langem hergestM 
Seine Fabel? Er hat keine Fabel. So alltäglich ist die Geschichte, die 
er erzählt, daß die heutigen Großkampfregisseure sich geschämt hätten, 
dergleichen Zu verfilmen. Eine Telephonistin und ein Fabrikarbei 
ter sind die Helden. Kleine Leute, wie man sie in den üblichen 
deutschen Filmen überhaupt nicht sieht. Oder man sieht sie, aber 
Zum Schluß machen sie dann zum höheren Ruhm und Nutzen der 
Gesellschaft eine reiche Partie. Hier bleiben sie von Anfang 
bis zu Ende gewöhnliche Angestellte, die sich in nichts von den 
Millionen anderer Fabrikarbeiter und Telephonistinnen unterschei 
den. Sie arbeiten während der Woche und möchten sich Sonntags 
gern amüsieren. Leider ist er ohne Freundin und auch ihr fehlt 
der Anschluß. Um der Verlassenheit Zu entrinnen, verbringen beide 
das Wochenende am dichtbesetzten Meeresstrand und schließen dort 
im Badekostüm miteinander Bekanntschaft. Längst ist der Strand 
leer geworden, und sie schwatzen immer noch. In der Nähe befin 
det sich -ein Rummelplatz, in dem sie später gemeinsam tanzen, wackeln, - 
und sausen. Durch einen dummen Zufall werden sie auseinander- 
geriffen. Verzweifelt suchen sie sich, aber die Millionen von Angestell 
ten, die gleich ihnen'den Jahrmarkt bevölkern, drangen sich stets da 
zwischen. Er geht nach Hause, sie geht nach Hause. Nun bliebe 
jeder doppelt allein, wäre nicht die Geschichte ein Märchen. Er 
und sie haben nämlich seit Jähr und Tag Zimmer an Zimmer ge 
wohnt, in einer jener Hauskasernen, deren zahllose Mieter einander 
so fremd wie die Antipoden sind. Genau in dem Augenblick, in 
dem sich die zwei Heimgekehrten für immer getrennt glauben, werden 
sie ihrer räumlichen Nachbarschaft inne. Sie sind vereint, die un 
endliche Entfernung der paar Zentimeter ist überwunden. 
Die Bilder sind nicht Illustrationen eines Textes, sondern 
stellen den Gehalt unmittelbar da. So ganz ist er in ihnen ge 
borgen, daß seine sprachliche Wiedergabe eine Uebersetzung aus 
dem Original wäre. Der Uebersetzer müßte ein bedeutender Prosa 
künstler sein, um das Urbild zu treffen. 
Beispiel der Montage: Die Szenen, die von der täglichen 
ArLeitsverrichtung handeln, erscheinen hinter einem schwach hervor- 
Lretenden Zifferblatt; nicht schlagender könnte die Einförmigkeit der 
Hantierungen versinnlicht sein als durch den gleichzeitig wahr 
nehmbaren Umlauf der Zeiger. Ein anderes wundervolles Bild 
ist der feenhaft illuminierte Juxplatz, der, Wirklichkeit und 
Glückstraum in eins, im Abend vor den Liebenden austauchü 
Und mit welcher Peinlichkeit ist ihre Zwiefache Einsamkeit ge 
staltet, die in den öden Zimmerzellen und die im grausamen 
Menschenlabyrinth! Dort Hausen sie, jeder für sich, inmitten eines 
Mobiliars, dessen Unwesen der Film schonungslos ans Licht 
zieht. Hier jagen sie einander Mischen Luftschlangen, wimmeln 
den Gesichtern und im Konfettiregen ununterbrochen nach, ohne 
je zusammenzukommen. Sie stehen ahnungslos Rücken an Rücken, 
sie streifen wiederholt an einem Buden besitz er vorbei, der weiß, 
daß sie sich beaebren. ihnen aber aus Gleichgültigkeit ie Auskunft 
Der Regisseur heißt Paul FLjos. Aus dem banalen Stoff 
hat er, unterstützt von seinen Hauptdarstellern Glenn Lrhon 
und Barbara Kent, eine bis zum Rand gefüllte Handlung ge 
schaffen, der an humaner Gesinnung in der jüngsten Literatur; 
allenfalls einige Schilderungen von Nathan Asch und Sinclair 
Lewis vergleichbar sind. Mit Anstand, Mut und guter Kenner 
schaft wird die Kamera auf den Alltag der Erwerbs 
tätigen gerichtet und nirgends ist seine Leere beschönigt. Er 
beginnt in häßlich möblierten Zimmern und führt wieder in sie 
zurück. Früh Lötet das Raffeln des Weckers den Schlaf. Die Pflicht 
ruft, oder was so heißt. In der Hochbahn kämpfsn die Menschen- 
maffen um einen bescheidenen Stehplatz. Vor Maschinen und 
Edmund Kußerk. 
Der berühmte Philosoph Edmund Husserl beqing 
rüM »8. Apnl seinen 70. Geburtstag. Seine Werke sind von 
Srovem Einfluß auf die zeitgenössische Philosophie gewesen, 
^ron Bolzano und Franz Brentano bestimmt, hat er in An 
. chnung an das scholastische Denken eine Wendung gegen den 
P.vhmog-smus seiner Zeit und gegen den idealistischen For 
malismus vollzogen. In seinen „Logischen Untersuchungen", 
in deren klassischem ersten Band er den Begriff einer 
reinen Logik herausschält, die es nur mit Sätzen an sich und 
nicht mrt seelischen Urteilsakten zu tun hat, sind bereits die 
Konturen der PHSnomenologie sichtbar, jener neuen 
philosophischen Betrachtungsweise, als deren Begründer 
Husserl anzuiprechen 'st- Ihrer systematischen Ausarbeitung 
hat er das Werr „Ideen zu einer reinen Phänomenvlogie und 
Pbcmomenologiichen Philosophie" gewidmet. Es ist nicht möm 
den Gehalt dieses Grundbuchs überschlägig zu kenn 
zeichnen. Immerhin mag angedeutet werden, daß Husserl 
selosi die Phänomenologte als „Wesenswissenschast" vom 
reinen Bewußtsein definiert, als eine Disziplin, die das-Feld 
des reinen Bewußtseins deskriptiv zu erforschen habe. Unter- 
mmologisch gesprochen: Husserl nimmt an, daß es außer der 
Wissenschaft von den Tatsachen noch eine von den Wesenheiten 
geoe, die einer an die Realität ungebundenen „reinen" An- 
IMauung zugänglich seien. So untersucht er etwa das „Wesen" 
Ton oder das „Wesen" Farbe. Was bedeutet diese Methode? 
^hr historisches Verdienst ist, daß sie wider das idealistische 
System eine Lehre setzt, die nicht wie das System bei for- 
Oberbegriffen anhebt und in sie einnmndet, sondern der 
v-ulle der Phänomene durch die unsystematische Anschau 
ung gerecht werden will. Ist die idealistische Konstruktion not 
wendigerweise wirklichkeitsblind, so möchte die Phänomeno- 
grundsätzlich die Wirklichkeit der Wesenheiten einlassen 
^«r Tatlache gegenüber, daß Husserl einen Ausweg aus dem 
Kerker des Idealismus gesucht hat, verschlägt es wenig, daß 
- »Abst niemals zu eigentlich inaterialen Wesensbestimmungen 
vorgeorungen ist und gegen das Ende seiner „Ideen" hin 
immer mehr denselben konstruktiven Idealismus wieder 
ausgenommen hat, dem er an Anfang des Werks zu begegnen 
M muhte. Ja, gerade dieses Schwanken, diese Zweideutia 
A'. --nn man will, ist seine Tiefe. Husserls größter An-! 
Hanger und Genosse ist Max Sche er gewesen. Ueber Husserl 
hlnausgehend, hat er in unzähligen Beschreibungen die Welt 
der matenalen Wesen zu durchmefsen und ordnen gesucht. In 
serner katholischen Periode ist er von dem Bestreben erfüllt 
gewesen, die Hierarchie aller Werte zu entschleiern; späterhin 
hat er von der Grundlage der Anthropologie, also von „unten" 
aus, den Kosmos erstellen wollen, den er von „oben" aus 
nicht mehr gewinnen zu können meinte. Seine Eroberungen 
aber sind nur durch Husserl möglich gewesen, der den Blick 
auf die konkreten Phänomene zuerst eröffnet hat. Von der 
Phänomenologte kommt auch Heidegger her, der frühere 
- Assistent Husserls an der Freiburger Universität, der durch die 
! Einführung des Zeitbegriffs eine wichtige Korrektur an dem 
Lehrgebäude vorgenommen hat. Die Frage ist, ob es der 
I Phänsmenologie gelingen wird, zu echten Konkretionen zu ge 
langen. Was bei Scheler zu erhoffen war, ist nach seinem 
Tode zweifelhaft geworden. Es könnte heute beinahe so 
j scheinen, als begnüge sich die Phänomenolsgie damit, den 
! ontologischen Gegenpol des idealistischen Systems in der 
- gleichen formalen, wirklichkeitsabgewandten Sphäre zu bilden, 
in der dieses System verkümmert ist. Husserl hat eine Tür auf 
gestoßen ; sie dürste nicht wieder zufallen. 
(Wr werden die hier angedeuteten Probleme bei Ge 
legenheit in einem größeren Zusammenhang zu behandeln 
versuchen. D. Red.)
	        
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