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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.08/Klebemappe 1929 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

des Blauen 
der Intensität mitunter Abbruch. Aber auch das Theater Hat sich 
in ähnlicher Richtung entwickelt. ' 
Pompös wie der Beginn sind die einzelnen Attraktionen 
Tscherkessen und Kosaken umwirbeln im Flug ihre Pferde. Chinesen 
schleudern Papierschnörkel durch die Lust, schaukeln an den Zöpfen 
und schlucken Feuer. Japaner laufen auf Bambusslangen gen 
Himmel. RifleuLe setzen sich zu lebenden Mauern zusammen, bilden 
ungeheure Trauben und schlagen vielfach den Saltomortale. Die 
Lrapeztruppe leistet in Wolkenkvatzerhöhe Präzisionsarbeit, Mann 
fliegt Zu Mann, kaum scheint die Verbindung zwischen Händen 
und,Stangen noch möglich. Die Technik ist in nahezu allen Num 
mern Zur höchsten Vollkommenheit gebracht, die alten Kunstfertig 
keiten werden dekorativ präsentiert. 
Eine MerWe von Dressuren. Der Trakchner - Vollblüter ist 
ein Meistertänzer, und sogar das Kamel absolviert die hohe Schule. 
Unter den Seelowen findet sich ein Rastelli, der Bälle und bren- 
dende Lampen schlürfend jongliert. Zebras treten mit dem Nil 
pferd Oedipus auf, das an einen entsetzlichen Erdkrater gemahnt, 
wenn es das Maul aufreißt. Ein Muster von Engelsgeduld, so 
Hocken die Zehn oder zwölf Königstrger auf ihren Schemeln. Einer 
von ihnen springt über drei Kollegen hinweg, ein anderer durch 
einen Reif. Sie lassen sich alles gefallen, als seien sie ein Volk, 
dessen Diktator der Dompteur ist. Manchmal freilich brüllen sie und 
sind ungebärdig, aber ihr Meister bringt sie mit ein paar Schreck 
schüssen Zur Ruhe. Herr SLosch-Sarrasani in eigener Person 
traktiert indische Elefantenkolosse als Babys. Vielleicht folgen sie 
ihm um so freudiger, weil er sie in seinem Maharadschagewand an 
die Heimat erinnert. Wenn sie sich aufrichten oder setzen, scheinen 
sich Gebirge auf wunderbare Weise selbsttätig zu bewegen. Das 
gesamte Tierreich ist in geometrische Formen gezwungen, und nur 
der Doktor Dslittle wäre wahrscheinlich mit diesen Triumphen 
über die Elementargewalt nicht Zufrieden. Aber einstweilen ver 
steht sich noch niemand auf die Sprache der Tiere, und ohne 
Peitschenknall geht es auch selten bei den Menschen ab. 
Den Massen wird Massenkunst geboten. Wenn es noch eines 
Beweises dafür bedürfte. Laß es auf die Massen ankommt — hier 
ist er geliefert. Von einzelnen individuellen Nummern abgesehen, 
produziert sich stets ein Kollektiv. „Der brodelnde ferne Osten", 
„Hoftheater des Mikado" und „Wildwest", so lauten die Titel um 
fänglicher Sammelattraktionen. M die einen Messer werfen, 
entfachen die andern rote Brände. Das Auge kann sich kaum noch 
in die Details versenken, sondern muß sich am Schaugepränge er 
götzen. Der Hang zur extensiven Entfaltung, der sich auch in den 
bunten Balletts äußert, ist wohl amerikanischen Ursprungs. Er tut 
Zirkus Sarrasani. 
' Frmckfurt, den 13. November. 
, Das Me Bild: vor den Bretterzäunen auf der Straße um. 
lauert die Masse das Wunschzelt. Es hat freilich nichts mehr zu 
tun mit den früheren Zirkuszelten, die flüchtige Herbergen waren, 
sondern ist ein Riesenpalast aus Segeltuch, der ganz und gar elek 
trisch glänzt. Glühbirnenreihen rieseln die Fassaden kerunter 
strahlen sternartig auf dem gewaltigen Dachrund. Eine handfeste 
Fata Morgana. 
Innen der gleiche Glanz. Scheinwerferlicht in allen Farben, 
die Dienerreihen in Prunklivreen. Das Sinnbild der Großartig 
keit ist die Eröffnungsparade. Sie ist eine Parade in wörtlichem 
Sinn: voran das schmetternde argentinische Orchester, das so 
stramm wie exotisch ist. Ihm folgen die an den Zirkusspielen be 
teiligten Nationen, siebenunddreißig an der Zahl, in Trachten, mit 
Fahnen. Sie marschieren auf, sie machen Evolutionen, sie füllen 
die ganze Manege. Die Musik dröhnt Militärmärsche, Herr Sarra- 
sani erscheint selber inmitten der Heerscharen. Jubel im Kreis: 
strahlender könnte der Auftakt nicht sein. Er gleicht der Schluß 
apotheose einer Revue. 
Wird in einer Fabrik mehr rationalisiert oder im Zirkus? Au 
OrganisationsZunst ist jedenfalls Sarrasani nicht leicht zu über 
treffen. Die Handreichungen greifen ineinander wie am laufenden 
Band, der große Manegenteppich wird in einem Zeitraum auf 
gerollt und zusammengelegt, der sich nach, Sekunden beziffert. Es 
ist, als seien die Szenen nach der Stoppuhr geregelt. So werden 
einige Munden Zu Jahren; so bleibt aber auch nicht die geringste 
Lücke frei. Bezeichnend für die kontrollierte Dichte ist der Ausfall 
der Clowns. Gewiß, ein paar bemalte Zwerge kollern im Sand 
und bemühen sich komisch zu sein. Ihre Spaßmachern jedoch ist 
von der Art, die Chaplin in seinem Zirkusfilm zum Lachen ge 
bracht hat. Wo sind die echten Clowns hingeraten? (Vor einem 
Jahr erzählte mir Grock, daß er nicht mehr aufzutreten gedenke. 
Zum Glück haben Wichen im Pariser Empiretheater schon im 
September fein Wiedererscheinen angekündigt.) Es fehlt an Zeit 
j für die Clowns, wir müssen zu viel rationalisieren. Der Impro 
visation wird bald keine Stätte mehr gegönnt sein. Laos.. 
Die Lady von der Straße. 
Ein weiblicher Racheakt in diplomatischen Sphären, Ort: 
Paris vor dem siebziger Krieg. Der Militärattache der preußischen 
Gesandtschaft ist mit einer französischen Gräfin verlobt, die, wie er 
eines Abends erfährt. Zu ihrem Kaiser eine zärtliche Beziehung 
unterhält. Er schilt sie Mätresse und erklärt, dah er lieber ein Mäd 
chen von der Straße ehelichen werde. Sie läßt sich ein hübsches 
Mädchen von derSLraße besorgen, steckt es in gute Kleider und Manie 
ren uns bestellt zuletzt den Liebenden das HochZeitsmahl. Bei dieser 
Gelegenheit muß der Ahnungslose die wabre Herkunft seiner Frau 
erfahren, die ihm als aristokratische Sennorita vorgestellt worden 
war. Großer Skandal. Der gute Aüsgang ist notdürftig angeklebtst 
D. W. Griffith, der bekannte Regisseur, scheint alt geworden 
zu sein. Er stützt sich auf Kostümwirkungem auf ParkeLLglanz und 
Milieuschilderungen in verjährtem Geschmack. Die Kneipe: 
düen hui kurns" erinnert an eine TheaterZantine während der 
Pause. Automatischer Einsatz der Großaufnahmen; geringe Beweg 
lichkeit der Kamera. Auch die Charaktere sind schematisiert. Kurz: 
ein unfilmisches Sujet ist mit überholten Mitteln bewältigt. 
Unter dem Einfluß von GrisfiLH verfällt die reizende Lupe V e 
lez bei dem Uebergang vom Straßenmädchen zur Dame in die 
Karikatur. Sie ist im übrigen eine starke Spielbegabung und 
in der Animiexstube so Zu Hause wie in der großen Welt. Die 
gräfliche Intrigantin Jetta Gsndal fasziniert durch chren Wuchs, 
begnügt sich damit, die Augen klein zu machen, um Falschheit Zu 
markiern. Der preußische Gesandte ist eine rustikale Imitation von 
Msmarck, und William Boydals die betrogene Hauptperson rührt 
durch seine angestrengt dumme Physiognomie. (Der Film läuft in 
den Pieberbau - Lichtspielen und in der Ca m er a.) 
KKas. 
-- Ballett, Jazz, Harold Myd Auf H t 
suMmng -n bn der 1 des Blauen 
H K arald W N°Yd, das Ä W-e M r und su W sM MLB 
Kkkund",^ ansgez-ichn^nM- 
nahMN d^s New Norker Straßenlebens.
	        
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