Von den Fenstern des Metallarbeiter-Nachweises blickt man auf
das Erwerbsleben, das sich in den Vorderhäusern abspielt. Sir,
die vom Produktions- und Verteilungsprozeß ausgefüllt sind, ver
decken den ganzen Horizont des Arbeitslosen. Er hat keine eigene
Sonne, er hat immer nur den Arbeitgeber vor sich, der ihm höchstens
dann nicht im Licht steht, wenn er Arbeit gibt. „Wir sind in erster
Linie eine Organisation für Arbeitgeber/ erklärt mir ein Abtei
lungsleiter. Daß das Hinterhaus des Arbeitsnachweises im Schatten
des vom Arbeitgeber bewohnten Vorderhauses existiert, prägt sich
Durch alle Poren sickern die mit ihm gefetzten Begriffe in den
Arbeitsnachweis, und w^nn sie irgendwo unbestritten herrschen, so
in diesem Raum der aus ihrem engeren Machtbereich Entlassenen.
Im MetallarbeiternachweiS ist eine Mahnung folgenden Inhalts
angeheftet:
Wie die Arbeitslosenunterstützung zum Arbeitslohn, so verhält!
sich der Arbeitsnachweis zum regelrechten Büro. Er liegt gewöhn-!
lich ungünstiger als die normale Arbeitsstätte, man merkt dem
Raum an, daß er von der Gesellschaft notgedrungen den Freigesetzten -
eingeräumt worden ist. Seine Unterbringung in einem eigenen
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Lll§6rnsirw8 Ligeutuin.
Sie fehlt bei den Textilarbeitern, die im Durchschnitt freilich
weniger kräftig gebaut sind als etwa die Schlosser. Das Mobiliar im
Vexfammlungsraum besteht aus Tischen und Bänken, solider recht'?
Gebäude, das früher eine Schule gewesen sein mag, mutet schon
beinahe wie eine Ausnahme an. Der Leiter einer erst kürzlich ge
schaffenen Vermittlungsstelle für Kraftfahrer, Piloten usw. bedauert
mir gegenüber, daß sein Nachweis so schlecht gelegen sei. Im
Interesse der Vermittlung; denn die Arbeitgeber sprächen nicht
gern in einem Quartier vor, in dem sie Angst haben müßten, ihre
oft kostbaren Wagen ohne Aufsicht auf der Straße stehen zu lassen.
In der Tat ist die nähere Umgebung mit Zillefiguren bevölkert und
nicht der geeignete Aufenthalt für edle Karosserien. Andere Ar
beitsnachweise sind in den rückwärtigen Teilen großer Gebäudekom
plexe angeordnet. Einem, in dem Metallarbeiter vermittelt werden,
ist gerade noch in den dunkelsten Regionen Platz gegönnt. Um zu
ihm vorzudringen, muß man von der Straße aus zwei Höfe durch-
meflen, die von verdrossenen Backsteinmauern eingekeilt werden. Der
Druck, den die Steinmassen ausüben, erhöht sich dadurch, daß in
ihnen immerhin noch gearbeitet wird. Zuletzt spürt man die Straße
nicht mehr. Der Arbeitsnachweis selber befindet sich drei Treppen
hoch am äußersten Ende dieser Winkelwelt und gleicht insofern
einem umgekehrten Schlaraffenland, als man sich auf dem Weg zu
ihm hin erst durch die endlose Geruchszone einer Volksspeiseanstalt
durchzuarbeiten hat. Daß er den Eindruck eines an die Hinter
front verstoßenen Speichers macht, hat durchaus seine Richtigkeit.
Auch die Arbeitslosen harren an der Hinterfront des gegenwärtigen
Produktionsprozesses. Sie scheiden aus ihm" als Abfallsprodukte aus,
sie sind die Reste, die übrig bleiben. Der ihnen angewiesene Raum
kann unter den herrschenden Umstanden kaum ein anderes Aussehen
als das einer Rumpelkammer haben.
Ueöer Arbeitsnachweise.
Von S. Kraeauer.
Konstruktion eines Raumes.
Jede Gesellschaftsschicht hat den ihr zugeordneten Raum. So ge
hört zum Generaldirektor jenes neusachliche Arbeitszimmer, das
mtm aus den Filmen kennt, die ihr Original oft nicht einmal errei
chen. Man täuscht sich über die Kolportage: sie bleibt an Erfin
dungskraft meist hinter der Wirklichkeit zurück. Als charakteristischer
Ort der kleinen, abhängigen Existenzen, die sich noch immer gern
dem verschollenen Mittelstand zurechnen, bildet sich mehr und mehr
die Siedlung heraus. Die paar dort verwohnbaren Kubikmeter, die
auch durchs Radio nicht erweitert werden, entsprechen genau dem
engen Lebensspielraum dieser Schicht. Der für die Erwerbslosen
typische Raum ist reichlicher bemessen, aber dafür das Gegenteil
eines Heims und gewiß kein Lebensraum. Es ist der Arbeitsnach
weis. Eine Passage, durch die der Arbeitslose wieder ins erwerbs
tätige Dasein gelangen soll. Leider ist die Passage heute stark ver
stopft.
Ich habe mehrere Berliner Arbeitsnachweise be
sucht. Nicht um der Lust des Reporters zu frönen, der gemeinhin
mit durchlöchertem Eimer aus dem Leben schöpft, sondern um zu
ermessen, welche Stellung die Arbeitslosen faktisch in dem System
e'rnnchmen. Weder die verschiedenen Kommen
tare zur Erwerbslosenstatistik noch die einschlägigen Parlaments
debatten geben darüber Auskunft. Sie sind ideologisch gefärbt und
rücken die Wirklichkeit in dem einen oder anderen Sinne zurecht;
während der Raum des Arbeitsnachweises von der Wirklichkeit
selber gestellt ist. Jeder typische Raum wird durch typische gesell
schaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende
Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken. Alles vom
Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen
wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die
Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines
Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen
Wirklichkeit dar.
bei der Vermittlung aus. Zu bestimmten Stunden werden jeweils
bestimmte Berufe vermittelt: Dreher, Rohrleger, Konfektionsschnei
der usw. Ein Beamter besteigt einen kleinen erhöhten Podest in
mitten des Saals und gibt die ausgeschriebenen Stellen bekannt.
In der Regel umdrängen ihn dichte Scharen, die auf Arbeit warten.
Sie lauschen den Verkündigungen, die aus der Höhe des Arbeit
geberreicheS auf sie RiederLräuferr ein immer LiederketzrendeK
! Bild, das sinnfällig die völlige Abhängigkeit der Erwerbslosen von
! den Vorderhausnrächten belegt. Suchen diese den Arbeitsnachweis
auf, so steht ihnen ein besonderer Arbeitgeberraum zur Verfügung,
in dem sie mit den Arbeitskräften verhandeln können. Ein unmittel
barer Verkehr, den angesichts der heutigen Beschaffenheit
des Arbeitsmarktes nur wenige erhoffen dürfen. „Auf 2000 Be
werbungen", so erfahre ich im Nachweis fürs Textilgewerbe,
„kommen zur Zeit etwa 10 Angebote". Man nennt mir hier und
dort nicht minder trostlose Zahlen, die wiederzugeben keinen Zweck
hat, da sie sich allesamt in der Statistik finden. Wesentlicher und für
die Lokalität bezeichnend ist etwas anderes: der Aspekt nämlich,
unter dem von ihr aus der Produktionsprozeß erscheint. Wie ein
dunkles Verhängnis lastet er auf den Gemütern.' Während man in
besser gelegenen Himmelsstrichen seinen natürlichen Verlauf über-
steht und ihn zu regulieren, wo nicht abzubrechen tracht,
-Mrm ^n Äelen Speicherräumen im Flüsterton von ihm und mit
einem Fatalismus, als sei er das Schicksal. Man sagt mir: „Seit
drei bis vier Wochen sind zwar die Entlassungen abgeflaut, aber
neue Aufträge gehen nicht ein." Oder: „Junge, kräftige Leute
werden stärker berücksichtigt als die alten." Oder: „Bei den Gold
arbeitern, nach denen nicht gefragt wird, dauert die Arbeitslosig
keit oft drei Jahre und länger, bei den günstigsten Gruppen sechs
Wochen bis ein Vierteljahr." Lauter naturwissenschaftliche Konsta-
tierungen, ohne ein Wort der Kritik, die an diesem Platz allerdings
auch nicht am Platz wäre. Es ist so, es muß wohl so sein. Die
dumpfe Ergebenheit in die Wechselfälle der Konjunktur ist gerade
zu ein Merkmal der Arbeitsnachweise. Hier, wo man im Rücken des
allgewaltigen Produktionsprozesses sein Dasein fristet, schimmern
noch die Kategorien, die ihn zu einem unabwendbaren Naturer
eignis gestempelt haben, in ihrem alten Glanz. Hier ist er noch Ab
gott, und nichts gibt es über ihm.
winkliger Ware, die einen derben Puff schon verträgt. Unter die
Rubrik allgemeines Eigentum fällt sonst nur noch der Wandver
putz, dem in der Tat die dauernde Berührung mit den Massen der
Erwerbslosen nicht gut bekommen zu sein scheint. Bei dem gering
entwickelten Sprachgefühl in Deutschland ist anzunehmen, daß die
öffentliche Ermahnung harmlos gemeint ist und wohl auch harmlos
aufgefaßt wird. Aber die Worte entwinden sich leicht dem Be
nutzer, der sie nicht zu benutzen versteht, und verraten: nicht was er
sich gedacht hat, sondern was ihm so selbstverständlich ist, daß er es
gar nicht erst bedenken muß. Und zwar predigt der Aushang die
Heiligkeit des Eigentums mit einer Ungeniertheit, wie sie nur der
Nachtwandler besitzt, er, der sich nicht um die aufreizende Wirkung
bekümmert, die eine solche Predigt an solchem Orte erzielte, wenn
alle Beteiligten wach wären. Gewiß, es heißt: allgemeines Eigen
tum; für die Erwerbslosen jedoch, deren viele gegenwärtig als
Objekt der öffentlichen Wohltätigkeit enden, ist auch das allgemeine
Eigentum nicht allgemein genug, um den Privatcharakter einzu-
büßen. Zum Ueberfluß sollen sie dieses Eigentum, von dessen regu
lärem Mitgenuß sie ohne ihre Schuld ausgeschlossen sind, noch hüten
und schützen. Wofür der ganze Aufwand an großartigen Vokabeln?
Für ein paar elende Tische und Bänke, die weder den anspruchs
vollen Namen Eigentum verdienen, noch des Schutzes oder gar einer
besonderen Hut bedürfen. So hütet und schützt die Gesellschaft das
Eigentum; sie umgibt es auch dort, wo seine Verteidigung gar nicht
nötig wäre, mit sprachlichen Gräben und Wällen. Vermutlich tut sie
es absichtslos, und vielleicht merkt kaum ein Betroffener, daß sie
es tut. Aber das eben ist das Genie der Sprache: daß sie Aufträge
erfüllt, die ihr nicht erteilt worden sind, und Bastionen im Unbe
wußten errichtet.