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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Von den Fenstern des Metallarbeiter-Nachweises blickt man auf 
das Erwerbsleben, das sich in den Vorderhäusern abspielt. Sir, 
die vom Produktions- und Verteilungsprozeß ausgefüllt sind, ver 
decken den ganzen Horizont des Arbeitslosen. Er hat keine eigene 
Sonne, er hat immer nur den Arbeitgeber vor sich, der ihm höchstens 
dann nicht im Licht steht, wenn er Arbeit gibt. „Wir sind in erster 
Linie eine Organisation für Arbeitgeber/ erklärt mir ein Abtei 
lungsleiter. Daß das Hinterhaus des Arbeitsnachweises im Schatten 
des vom Arbeitgeber bewohnten Vorderhauses existiert, prägt sich 
Durch alle Poren sickern die mit ihm gefetzten Begriffe in den 
Arbeitsnachweis, und w^nn sie irgendwo unbestritten herrschen, so 
in diesem Raum der aus ihrem engeren Machtbereich Entlassenen. 
Im MetallarbeiternachweiS ist eine Mahnung folgenden Inhalts 
angeheftet: 
Wie die Arbeitslosenunterstützung zum Arbeitslohn, so verhält! 
sich der Arbeitsnachweis zum regelrechten Büro. Er liegt gewöhn-! 
lich ungünstiger als die normale Arbeitsstätte, man merkt dem 
Raum an, daß er von der Gesellschaft notgedrungen den Freigesetzten - 
eingeräumt worden ist. Seine Unterbringung in einem eigenen 
Arbmt8l086, kütst unä sokMrt 
Lll§6rnsirw8 Ligeutuin. 
Sie fehlt bei den Textilarbeitern, die im Durchschnitt freilich 
weniger kräftig gebaut sind als etwa die Schlosser. Das Mobiliar im 
Vexfammlungsraum besteht aus Tischen und Bänken, solider recht'? 
Gebäude, das früher eine Schule gewesen sein mag, mutet schon 
beinahe wie eine Ausnahme an. Der Leiter einer erst kürzlich ge 
schaffenen Vermittlungsstelle für Kraftfahrer, Piloten usw. bedauert 
mir gegenüber, daß sein Nachweis so schlecht gelegen sei. Im 
Interesse der Vermittlung; denn die Arbeitgeber sprächen nicht 
gern in einem Quartier vor, in dem sie Angst haben müßten, ihre 
oft kostbaren Wagen ohne Aufsicht auf der Straße stehen zu lassen. 
In der Tat ist die nähere Umgebung mit Zillefiguren bevölkert und 
nicht der geeignete Aufenthalt für edle Karosserien. Andere Ar 
beitsnachweise sind in den rückwärtigen Teilen großer Gebäudekom 
plexe angeordnet. Einem, in dem Metallarbeiter vermittelt werden, 
ist gerade noch in den dunkelsten Regionen Platz gegönnt. Um zu 
ihm vorzudringen, muß man von der Straße aus zwei Höfe durch- 
meflen, die von verdrossenen Backsteinmauern eingekeilt werden. Der 
Druck, den die Steinmassen ausüben, erhöht sich dadurch, daß in 
ihnen immerhin noch gearbeitet wird. Zuletzt spürt man die Straße 
nicht mehr. Der Arbeitsnachweis selber befindet sich drei Treppen 
hoch am äußersten Ende dieser Winkelwelt und gleicht insofern 
einem umgekehrten Schlaraffenland, als man sich auf dem Weg zu 
ihm hin erst durch die endlose Geruchszone einer Volksspeiseanstalt 
durchzuarbeiten hat. Daß er den Eindruck eines an die Hinter 
front verstoßenen Speichers macht, hat durchaus seine Richtigkeit. 
Auch die Arbeitslosen harren an der Hinterfront des gegenwärtigen 
Produktionsprozesses. Sie scheiden aus ihm" als Abfallsprodukte aus, 
sie sind die Reste, die übrig bleiben. Der ihnen angewiesene Raum 
kann unter den herrschenden Umstanden kaum ein anderes Aussehen 
als das einer Rumpelkammer haben. 
Ueöer Arbeitsnachweise. 
Von S. Kraeauer. 
Konstruktion eines Raumes. 
Jede Gesellschaftsschicht hat den ihr zugeordneten Raum. So ge 
hört zum Generaldirektor jenes neusachliche Arbeitszimmer, das 
mtm aus den Filmen kennt, die ihr Original oft nicht einmal errei 
chen. Man täuscht sich über die Kolportage: sie bleibt an Erfin 
dungskraft meist hinter der Wirklichkeit zurück. Als charakteristischer 
Ort der kleinen, abhängigen Existenzen, die sich noch immer gern 
dem verschollenen Mittelstand zurechnen, bildet sich mehr und mehr 
die Siedlung heraus. Die paar dort verwohnbaren Kubikmeter, die 
auch durchs Radio nicht erweitert werden, entsprechen genau dem 
engen Lebensspielraum dieser Schicht. Der für die Erwerbslosen 
typische Raum ist reichlicher bemessen, aber dafür das Gegenteil 
eines Heims und gewiß kein Lebensraum. Es ist der Arbeitsnach 
weis. Eine Passage, durch die der Arbeitslose wieder ins erwerbs 
tätige Dasein gelangen soll. Leider ist die Passage heute stark ver 
stopft. 
Ich habe mehrere Berliner Arbeitsnachweise be 
sucht. Nicht um der Lust des Reporters zu frönen, der gemeinhin 
mit durchlöchertem Eimer aus dem Leben schöpft, sondern um zu 
ermessen, welche Stellung die Arbeitslosen faktisch in dem System 
e'rnnchmen. Weder die verschiedenen Kommen 
tare zur Erwerbslosenstatistik noch die einschlägigen Parlaments 
debatten geben darüber Auskunft. Sie sind ideologisch gefärbt und 
rücken die Wirklichkeit in dem einen oder anderen Sinne zurecht; 
während der Raum des Arbeitsnachweises von der Wirklichkeit 
selber gestellt ist. Jeder typische Raum wird durch typische gesell 
schaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne die störende 
Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken. Alles vom 
Bewußtsein Verleugnete, alles, was sonst geflissentlich übersehen 
wird, ist an seinem Aufbau beteiligt. Die Raumbilder sind die 
Träume der Gesellschaft. Wo immer die Hieroglyphe irgendeines 
Raumbildes entziffert ist, dort bietet sich der Grund der sozialen 
Wirklichkeit dar. 
bei der Vermittlung aus. Zu bestimmten Stunden werden jeweils 
bestimmte Berufe vermittelt: Dreher, Rohrleger, Konfektionsschnei 
der usw. Ein Beamter besteigt einen kleinen erhöhten Podest in 
mitten des Saals und gibt die ausgeschriebenen Stellen bekannt. 
In der Regel umdrängen ihn dichte Scharen, die auf Arbeit warten. 
Sie lauschen den Verkündigungen, die aus der Höhe des Arbeit 
geberreicheS auf sie RiederLräuferr ein immer LiederketzrendeK 
! Bild, das sinnfällig die völlige Abhängigkeit der Erwerbslosen von 
! den Vorderhausnrächten belegt. Suchen diese den Arbeitsnachweis 
auf, so steht ihnen ein besonderer Arbeitgeberraum zur Verfügung, 
in dem sie mit den Arbeitskräften verhandeln können. Ein unmittel 
barer Verkehr, den angesichts der heutigen Beschaffenheit 
des Arbeitsmarktes nur wenige erhoffen dürfen. „Auf 2000 Be 
werbungen", so erfahre ich im Nachweis fürs Textilgewerbe, 
„kommen zur Zeit etwa 10 Angebote". Man nennt mir hier und 
dort nicht minder trostlose Zahlen, die wiederzugeben keinen Zweck 
hat, da sie sich allesamt in der Statistik finden. Wesentlicher und für 
die Lokalität bezeichnend ist etwas anderes: der Aspekt nämlich, 
unter dem von ihr aus der Produktionsprozeß erscheint. Wie ein 
dunkles Verhängnis lastet er auf den Gemütern.' Während man in 
besser gelegenen Himmelsstrichen seinen natürlichen Verlauf über- 
steht und ihn zu regulieren, wo nicht abzubrechen tracht, 
-Mrm ^n Äelen Speicherräumen im Flüsterton von ihm und mit 
einem Fatalismus, als sei er das Schicksal. Man sagt mir: „Seit 
drei bis vier Wochen sind zwar die Entlassungen abgeflaut, aber 
neue Aufträge gehen nicht ein." Oder: „Junge, kräftige Leute 
werden stärker berücksichtigt als die alten." Oder: „Bei den Gold 
arbeitern, nach denen nicht gefragt wird, dauert die Arbeitslosig 
keit oft drei Jahre und länger, bei den günstigsten Gruppen sechs 
Wochen bis ein Vierteljahr." Lauter naturwissenschaftliche Konsta- 
tierungen, ohne ein Wort der Kritik, die an diesem Platz allerdings 
auch nicht am Platz wäre. Es ist so, es muß wohl so sein. Die 
dumpfe Ergebenheit in die Wechselfälle der Konjunktur ist gerade 
zu ein Merkmal der Arbeitsnachweise. Hier, wo man im Rücken des 
allgewaltigen Produktionsprozesses sein Dasein fristet, schimmern 
noch die Kategorien, die ihn zu einem unabwendbaren Naturer 
eignis gestempelt haben, in ihrem alten Glanz. Hier ist er noch Ab 
gott, und nichts gibt es über ihm. 
winkliger Ware, die einen derben Puff schon verträgt. Unter die 
Rubrik allgemeines Eigentum fällt sonst nur noch der Wandver 
putz, dem in der Tat die dauernde Berührung mit den Massen der 
Erwerbslosen nicht gut bekommen zu sein scheint. Bei dem gering 
entwickelten Sprachgefühl in Deutschland ist anzunehmen, daß die 
öffentliche Ermahnung harmlos gemeint ist und wohl auch harmlos 
aufgefaßt wird. Aber die Worte entwinden sich leicht dem Be 
nutzer, der sie nicht zu benutzen versteht, und verraten: nicht was er 
sich gedacht hat, sondern was ihm so selbstverständlich ist, daß er es 
gar nicht erst bedenken muß. Und zwar predigt der Aushang die 
Heiligkeit des Eigentums mit einer Ungeniertheit, wie sie nur der 
Nachtwandler besitzt, er, der sich nicht um die aufreizende Wirkung 
bekümmert, die eine solche Predigt an solchem Orte erzielte, wenn 
alle Beteiligten wach wären. Gewiß, es heißt: allgemeines Eigen 
tum; für die Erwerbslosen jedoch, deren viele gegenwärtig als 
Objekt der öffentlichen Wohltätigkeit enden, ist auch das allgemeine 
Eigentum nicht allgemein genug, um den Privatcharakter einzu- 
büßen. Zum Ueberfluß sollen sie dieses Eigentum, von dessen regu 
lärem Mitgenuß sie ohne ihre Schuld ausgeschlossen sind, noch hüten 
und schützen. Wofür der ganze Aufwand an großartigen Vokabeln? 
Für ein paar elende Tische und Bänke, die weder den anspruchs 
vollen Namen Eigentum verdienen, noch des Schutzes oder gar einer 
besonderen Hut bedürfen. So hütet und schützt die Gesellschaft das 
Eigentum; sie umgibt es auch dort, wo seine Verteidigung gar nicht 
nötig wäre, mit sprachlichen Gräben und Wällen. Vermutlich tut sie 
es absichtslos, und vielleicht merkt kaum ein Betroffener, daß sie 
es tut. Aber das eben ist das Genie der Sprache: daß sie Aufträge 
erfüllt, die ihr nicht erteilt worden sind, und Bastionen im Unbe 
wußten errichtet.
	        
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