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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Besuch im Waisenhaus. 
Lr Berlin, Ende Juni. 
Fm Osten Berlins, hinter Fabriken, Speicherofen, Miets 
kasernen und Kleinsiedlungen, die nur noch nicht groß genug sind, 
um schon Kasernen zu sein, liegt ein riesiger Park, in dem die 
Bäume so wild und regellos wachsen, wie die Natur sie geschaffen 
hat. Seine weiten Rasenflächen sind zum Herumspringen aus 
gespart, seine schmalen, gewundenen Wege eignen stch für Prome 
naden und Versteckspiele. Das grüne Festland geht allmählich in 
den Rummelsburger See über, der mit seinen Booten und seiner 
Badegelegenheit selber ein Wasserpark ist. Von Zeit zu Zeit Lauchen 
zwischen Laub und Gebüsch Backsteinbauten auf, altmodische 
Dinger, die an jene pedantischen Entwürfe erinnern, durch deren 
Anfertigung beflissene Baugewerksschüler in den Vorkriegsjahren 
ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der Dachkonstruktion und der 
Balkenlagen bewiesen. 
Das ist das Städtische Waisenhaus Rummels- 
bürg, eine Anlage aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. In 
diesem Erziehungsheim findet bestimmt keine Revolte statt. 
* 
Die Stadt Berlin hat die Presse zu einer Besichtigung einge 
laden. Ihr Ergebnis ist eine Summe freundlicher Eindrücke. Im 
Lehrlingsheim, der Schule, dem Knaben- und Madchenhaus: über 
all begegnet man aufgefrischten Stuben, netten, ansprechenden 
Farbtönen, appetitlich zubereiteten Betten und an allen Ecken und 
Enden Blumensträußen aus der eigenen Gärtnerei. So zwischen 
Rekonvaleszentenheim und schlichtem Paradies. Die kleinen Mäd 
chen haben ihr Spielzeug und ihre Püppchen und werden gewiß 
das Inventarverzeichnis übersehen, das, ein Ueberbleibsel erwach 
sener Amtsgewalt, kund und zu wissen tut, daß sich in dem rosa 
Kinderraum 2 Schränke und 0 Nähmaschinen befinden. In den 
Schulklaffen sind Sandbehälter angeordnet, aus denen Phantasie 
landschaften erblühen, die von Plastellinluftschiffen überflogen wer-! 
den. Von altpreußischer Nüchternheit ist eigentlich nur die Anstalts-^ 
kirche, deren Besuch aber im freien Ermessen der Kinder steht. 
Hier läßt sich allem Anschein nach leben, und es bedürfte gar 
nicht der Erklärung des Direktors, daß ehemalige Zöglinge gerne 
der Anstalt gedenken und sie öfters nach Jahrzehnten noch auf 
suchen. Der Direktor sieht sehr kinderlieb und ein wenig mar 
tialisch aus. Trotz des endlich eingetroffenen Sommerregens treiben 
die Buben in Badehosen irgendeinen Sport auf der Wiese; unter 
ihnen der ebenfalls unbekleidete Lehrer, der sich mit seinem mäch 
tigen Körper wie ein Gulliver inmitten der Liliputanerscharen aus- 
nimmt. Die Kinder müssen nicht paradieren, sondern dürfen tun, 
was sie auch sonst täten. Sie sind vergnügt und benehmen sich 
ungezwungen. Sie haben Paddelboote, machen, wie man erfährt, 
manchmal DampserparLien und hie und da sogar größere Reisen, 
' weit hinaus ans Meer, ins Gebirge. Während die Besucher am 
Wasser entlang spazieren, produzieren sie sich als kühne Schwim 
mer und winken.stolz ihrem Direktor zu, der zurückwinkt. 
Nur ein kleiner Prozentsatz von ihnen zählt zu den Voll-^ 
Waisen. Zum großen Teil sind sie uneheliche Kinder oder auch Halb 
waisen, und nicht wenige bedürfen der öffentlichen Hilfe darum, 
weil sie aus zerrütteten Ehen stammen oder kranke Eltern haben. 
Ihrer sozialen Herkunft nach gehören sie in der Rege! der Arbei- 
Lerbevölkerung an. An die Anstalt werden gemeinhin nur die 
Kinder überwiesen, die nicht für die Familienpflege taugen, da 
sie irgendwelche Schädigungen erlitten haben; sei es durch Verer 
bung, sei es durchs Milieu. Zu Tausenden quellen sie aus jenen 
Großstadtquartieren hervor, in denen Arbeitslosigkeit und Woh 
nungselend herrschen. Sind sie erst einmal im Waisenhaus aus 
genommen, so machen sie die Schule bis zum 14. Lebensjahr 
durch. Dann kommen die Jungens nach Berlin in die Lehre 
oder werden in den Anstaltswerkstätten ausgebildet. Die Mädchen 
gehen in die Hauswirtschaft über, ergreifen einen der üblichen 
Berufe oder werden wohl auch in eine Aufbauschule geschickt. 
Man wacht über den Entlassenen solange, bis sie sich selbständig 
in der Welt regen können, aus der sie einst vertrieben worden 
sind. . * 
Die Erziehung sucht nach Möglichkeit das Familienleben zu 
ersetzen. Eine kuriose Sache: während infolge der sozialen Ver 
hältnisse draußen vor den Anstaltstoren die Familie problematisch 
geworden ist, wird innerhalb der Zelle ihr Schein künstlich ge 
nährt. Man wird ein leises Unbehagen nicht los, wenn der Direktor 
von der Sonne im Herzen spricht oder das Walten des mütter 
lichen Einflusses preist. Wer der abgenutzte Schimmer solcher 
Worte verklär: eine Praxis, die sich, wie es heißt, seit acht Jahren 
bewährt hat. Knaben und Mädchen sind, von einander getrennt, 
in Familrengruppen vereinigt, denen jeweils ein Erzieher und 
eine Erzieherin vorstehen; diese, eine ausgebildete Hortnerin, hat 
die Kinder hausmütterlich Zu betreuen. Dadurch, daß sich die 
Jungens einer Frau, die Mädchen einem - Manne anvertrauen 
können, werden nach der glaubwürdigen Versicherung des Direk 
tors manche frühen sexuellen Spannungen gelöst. Wohnen die 
Geschlechter auch in verschiedenen Häusern, so spielen und lernen 
ste doch gemeinsam. Der Unterricht wird nach den Methoden der 
Arbeitsschule erteilt. Man macht nicht den Dock zum Gärtner, 
sondern den Gärtner zum Lehrer. Er weiht die Kinder in die 
Naturkunde ein und zeigt ihnen, wie man mit Pflanzen verkehrt. 
Um den Zusammenhalt zu fördern, hat jedes Kind (wie bei der 
Montcsson) sein klemes Amt; deckt eines den Tisch, so holt ein 
andres die Löffel herbei. Körperliche Strafen sind sowohl in 
dreser Anstalt wie überhaupt in allen städtischen Erziehungsheimen 
streng untersagt. Mehr noch als das allgemeine Verbot bürgt für 
den Geist des Waisenhauses die Aeußerung des Direktors, daß 
er die Kinder so behandle, aA ob sie seine eigenen wären. 
Es ist nicht unwichtig, die neuen Erziehungsgrundsätze kennen 
zu lernen, die Obermagistratsrat Knaut, der Leiter des Landes 
Wohlfahrt?- und Jugendamtes der Stadt Berlin, in sämtlichen ihm 
unterstellten Anstalten angewandt wissen will Sie zeugen ersicht 
lich von dem Einfluß der Schulreformer. Die erste Maxime ist, daß 
die Erziehung nicht vom Erzieher, sondern von den Kindern aus 
zu erfolgen habe. Ihre Eigenart muß den Erzieher bestimmen, ihm 
das Gesetz seines Handelns vorschreiben. Ferner erscheint es im 
Interesse der Heranbildung „freier Persönlichkeiten" als wün 
schenswert, die Aktivität des Kindes zu fordern, seine tätige Mit 
arbeit beim Aufbau des eigenen Wesens in Anspruch Zu nehmen. 
Schließlich ist unter „Führerkameraden", die den inneren Kontakt 
mit der Jugend haben, eine Erziehung zur Gemeinschaft anzu- 
streben. Die Gemeinschaftserziehung allein mache stark für daS 
spätere Leben im Staat. 
Soweit Herr Knaut. Seine Grundsätze beweisen, daß der 
deutsche Vorkriegsidealismus noch fortlebt. Ich begnüge mich damit 
anzumerken, daß die herrschenden sozialen Zustande das Ideal der 
freien Persönlichkeit längst aä adsuräam geführt haben und die 
Gemeinschaft, Zu der erzogen werden soll, ein formales Unding 
bleibt, wenn unter ihr nicht ein Kollektiv verstanden wird, das sich 
auf inhaltlich bestimmte Erkenntnisse gründet. Das Zeigt die Praxis 
des öffentlichen Lebens tausendfach. Parteien und Bünde erhalten 
stch in der rauhen Lust lange Zeit, während Gruppen, die sich 
dialektisch nicht bewähren können, leer und unkräftig bleiben oder 
bei dem leisesten Anhauch verwehen. Aber die Kritik an den ideo 
logischen Voraussetzungen der Anstaltserziehung soll diese selbst ge 
wiß nicht treffen. Richtige Leistungen entspringen oft fragwürdigen 
Gedanken, und die im Waisenhaus empfangenen Eindrücke von 
Menschen und Dingen bestätigen nahezu unwiderleglich, daß 
das Landeswohlfahrtsamt unter guter Obhut steht. 
So gehört die Anstalt zu den wenigen Oasen in dieser wüsten 
Welt, in der von freien Persönlichkeiten oder gar von Gemein 
schaft nicht viel zu spüren ist. Ein Glück nur, daß die Anstalts 
leitung darauf bedacht ist, die Erziehung lebensähnlich zu gestalten; 
sonst wären die aus dem Paradies Verstoßenen später verloren. 
Denn das Dasein, in das sie treten, wird von keinem Waisenhaus- 
direktyr verwaltet, und wer sich in ihm behaupten will, ist ein 
armer Waisenknabe im Vergleich mit den behüteten Waisenkindern.
	        
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