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Besuch im Waisenhaus.
Lr Berlin, Ende Juni.
Fm Osten Berlins, hinter Fabriken, Speicherofen, Miets
kasernen und Kleinsiedlungen, die nur noch nicht groß genug sind,
um schon Kasernen zu sein, liegt ein riesiger Park, in dem die
Bäume so wild und regellos wachsen, wie die Natur sie geschaffen
hat. Seine weiten Rasenflächen sind zum Herumspringen aus
gespart, seine schmalen, gewundenen Wege eignen stch für Prome
naden und Versteckspiele. Das grüne Festland geht allmählich in
den Rummelsburger See über, der mit seinen Booten und seiner
Badegelegenheit selber ein Wasserpark ist. Von Zeit zu Zeit Lauchen
zwischen Laub und Gebüsch Backsteinbauten auf, altmodische
Dinger, die an jene pedantischen Entwürfe erinnern, durch deren
Anfertigung beflissene Baugewerksschüler in den Vorkriegsjahren
ihre Kenntnisse auf dem Gebiet der Dachkonstruktion und der
Balkenlagen bewiesen.
Das ist das Städtische Waisenhaus Rummels-
bürg, eine Anlage aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. In
diesem Erziehungsheim findet bestimmt keine Revolte statt.
*
Die Stadt Berlin hat die Presse zu einer Besichtigung einge
laden. Ihr Ergebnis ist eine Summe freundlicher Eindrücke. Im
Lehrlingsheim, der Schule, dem Knaben- und Madchenhaus: über
all begegnet man aufgefrischten Stuben, netten, ansprechenden
Farbtönen, appetitlich zubereiteten Betten und an allen Ecken und
Enden Blumensträußen aus der eigenen Gärtnerei. So zwischen
Rekonvaleszentenheim und schlichtem Paradies. Die kleinen Mäd
chen haben ihr Spielzeug und ihre Püppchen und werden gewiß
das Inventarverzeichnis übersehen, das, ein Ueberbleibsel erwach
sener Amtsgewalt, kund und zu wissen tut, daß sich in dem rosa
Kinderraum 2 Schränke und 0 Nähmaschinen befinden. In den
Schulklaffen sind Sandbehälter angeordnet, aus denen Phantasie
landschaften erblühen, die von Plastellinluftschiffen überflogen wer-!
den. Von altpreußischer Nüchternheit ist eigentlich nur die Anstalts-^
kirche, deren Besuch aber im freien Ermessen der Kinder steht.
Hier läßt sich allem Anschein nach leben, und es bedürfte gar
nicht der Erklärung des Direktors, daß ehemalige Zöglinge gerne
der Anstalt gedenken und sie öfters nach Jahrzehnten noch auf
suchen. Der Direktor sieht sehr kinderlieb und ein wenig mar
tialisch aus. Trotz des endlich eingetroffenen Sommerregens treiben
die Buben in Badehosen irgendeinen Sport auf der Wiese; unter
ihnen der ebenfalls unbekleidete Lehrer, der sich mit seinem mäch
tigen Körper wie ein Gulliver inmitten der Liliputanerscharen aus-
nimmt. Die Kinder müssen nicht paradieren, sondern dürfen tun,
was sie auch sonst täten. Sie sind vergnügt und benehmen sich
ungezwungen. Sie haben Paddelboote, machen, wie man erfährt,
manchmal DampserparLien und hie und da sogar größere Reisen,
' weit hinaus ans Meer, ins Gebirge. Während die Besucher am
Wasser entlang spazieren, produzieren sie sich als kühne Schwim
mer und winken.stolz ihrem Direktor zu, der zurückwinkt.
Nur ein kleiner Prozentsatz von ihnen zählt zu den Voll-^
Waisen. Zum großen Teil sind sie uneheliche Kinder oder auch Halb
waisen, und nicht wenige bedürfen der öffentlichen Hilfe darum,
weil sie aus zerrütteten Ehen stammen oder kranke Eltern haben.
Ihrer sozialen Herkunft nach gehören sie in der Rege! der Arbei-
Lerbevölkerung an. An die Anstalt werden gemeinhin nur die
Kinder überwiesen, die nicht für die Familienpflege taugen, da
sie irgendwelche Schädigungen erlitten haben; sei es durch Verer
bung, sei es durchs Milieu. Zu Tausenden quellen sie aus jenen
Großstadtquartieren hervor, in denen Arbeitslosigkeit und Woh
nungselend herrschen. Sind sie erst einmal im Waisenhaus aus
genommen, so machen sie die Schule bis zum 14. Lebensjahr
durch. Dann kommen die Jungens nach Berlin in die Lehre
oder werden in den Anstaltswerkstätten ausgebildet. Die Mädchen
gehen in die Hauswirtschaft über, ergreifen einen der üblichen
Berufe oder werden wohl auch in eine Aufbauschule geschickt.
Man wacht über den Entlassenen solange, bis sie sich selbständig
in der Welt regen können, aus der sie einst vertrieben worden
sind. . *
Die Erziehung sucht nach Möglichkeit das Familienleben zu
ersetzen. Eine kuriose Sache: während infolge der sozialen Ver
hältnisse draußen vor den Anstaltstoren die Familie problematisch
geworden ist, wird innerhalb der Zelle ihr Schein künstlich ge
nährt. Man wird ein leises Unbehagen nicht los, wenn der Direktor
von der Sonne im Herzen spricht oder das Walten des mütter
lichen Einflusses preist. Wer der abgenutzte Schimmer solcher
Worte verklär: eine Praxis, die sich, wie es heißt, seit acht Jahren
bewährt hat. Knaben und Mädchen sind, von einander getrennt,
in Familrengruppen vereinigt, denen jeweils ein Erzieher und
eine Erzieherin vorstehen; diese, eine ausgebildete Hortnerin, hat
die Kinder hausmütterlich Zu betreuen. Dadurch, daß sich die
Jungens einer Frau, die Mädchen einem - Manne anvertrauen
können, werden nach der glaubwürdigen Versicherung des Direk
tors manche frühen sexuellen Spannungen gelöst. Wohnen die
Geschlechter auch in verschiedenen Häusern, so spielen und lernen
ste doch gemeinsam. Der Unterricht wird nach den Methoden der
Arbeitsschule erteilt. Man macht nicht den Dock zum Gärtner,
sondern den Gärtner zum Lehrer. Er weiht die Kinder in die
Naturkunde ein und zeigt ihnen, wie man mit Pflanzen verkehrt.
Um den Zusammenhalt zu fördern, hat jedes Kind (wie bei der
Montcsson) sein klemes Amt; deckt eines den Tisch, so holt ein
andres die Löffel herbei. Körperliche Strafen sind sowohl in
dreser Anstalt wie überhaupt in allen städtischen Erziehungsheimen
streng untersagt. Mehr noch als das allgemeine Verbot bürgt für
den Geist des Waisenhauses die Aeußerung des Direktors, daß
er die Kinder so behandle, aA ob sie seine eigenen wären.
Es ist nicht unwichtig, die neuen Erziehungsgrundsätze kennen
zu lernen, die Obermagistratsrat Knaut, der Leiter des Landes
Wohlfahrt?- und Jugendamtes der Stadt Berlin, in sämtlichen ihm
unterstellten Anstalten angewandt wissen will Sie zeugen ersicht
lich von dem Einfluß der Schulreformer. Die erste Maxime ist, daß
die Erziehung nicht vom Erzieher, sondern von den Kindern aus
zu erfolgen habe. Ihre Eigenart muß den Erzieher bestimmen, ihm
das Gesetz seines Handelns vorschreiben. Ferner erscheint es im
Interesse der Heranbildung „freier Persönlichkeiten" als wün
schenswert, die Aktivität des Kindes zu fordern, seine tätige Mit
arbeit beim Aufbau des eigenen Wesens in Anspruch Zu nehmen.
Schließlich ist unter „Führerkameraden", die den inneren Kontakt
mit der Jugend haben, eine Erziehung zur Gemeinschaft anzu-
streben. Die Gemeinschaftserziehung allein mache stark für daS
spätere Leben im Staat.
Soweit Herr Knaut. Seine Grundsätze beweisen, daß der
deutsche Vorkriegsidealismus noch fortlebt. Ich begnüge mich damit
anzumerken, daß die herrschenden sozialen Zustande das Ideal der
freien Persönlichkeit längst aä adsuräam geführt haben und die
Gemeinschaft, Zu der erzogen werden soll, ein formales Unding
bleibt, wenn unter ihr nicht ein Kollektiv verstanden wird, das sich
auf inhaltlich bestimmte Erkenntnisse gründet. Das Zeigt die Praxis
des öffentlichen Lebens tausendfach. Parteien und Bünde erhalten
stch in der rauhen Lust lange Zeit, während Gruppen, die sich
dialektisch nicht bewähren können, leer und unkräftig bleiben oder
bei dem leisesten Anhauch verwehen. Aber die Kritik an den ideo
logischen Voraussetzungen der Anstaltserziehung soll diese selbst ge
wiß nicht treffen. Richtige Leistungen entspringen oft fragwürdigen
Gedanken, und die im Waisenhaus empfangenen Eindrücke von
Menschen und Dingen bestätigen nahezu unwiderleglich, daß
das Landeswohlfahrtsamt unter guter Obhut steht.
So gehört die Anstalt zu den wenigen Oasen in dieser wüsten
Welt, in der von freien Persönlichkeiten oder gar von Gemein
schaft nicht viel zu spüren ist. Ein Glück nur, daß die Anstalts
leitung darauf bedacht ist, die Erziehung lebensähnlich zu gestalten;
sonst wären die aus dem Paradies Verstoßenen später verloren.
Denn das Dasein, in das sie treten, wird von keinem Waisenhaus-
direktyr verwaltet, und wer sich in ihm behaupten will, ist ein
armer Waisenknabe im Vergleich mit den behüteten Waisenkindern.