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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

War in der Zeit vor dem Krieg die Biogra- 
pbie das seltene Werk der Belebrsamkeit, so 
ist sie beute ein verbreitetes literariscbes Br- 
reugnis. Bs sind die Biteraten, die Brosakünsi- 
lsr, denen die Biograpbie Lur Borm der Aussage 
^vircB In Brankreicb, England, Deutscbland be- 
scbreiben sie das Beben der von Bmil Budwig 
nocb übrig gelassenen ökkentlicben Bersonen, 
und bald wird es keinen großen Bolitiker, Beld- 
berrn, Diplomaten mebr geben, dem niebt ein 
mebr oder weniger verganglicbes Denkmal ge 
setzt wäre. Bber sebon einen Diebter; denn 
diese sieben lang niebt so in Bunst wie jene 
Kamen, dureb die das gesebiebtliebe Beben be 
stimmt worden ist. Bin auffälliger Wandel ge 
gen trüber: wäbrend einst die Künstlerbiogra- 
pbien unter den Bebüdeten gedieben, entstam 
men die gegenwärtigen Beiden Zumeist der 
Historie und werden von den belletristiseben 
Verlegern in Nengs kür die Nenge gedruckt. 
Nan bat die Keigung rur biograpbiscben Dar 
stellung, die sieb seit einiger Zeit in Westeuropa 
eingerostet bat, kurserband als eine Node abker- 
tigen wollen. 8Le ist es so wenig, wie die Kriegs 
romane es waren. Vielmebr sind ibre unmodi- 
Zeben Bründs in den weltgescbiebtbeben Ereig 
nissen der leisten andertbalb «labrLebnte ru 
sucben. Icb verwende das Wort Weltgesebicbte 
nur ungern, weil es leiebt einen Bauscb bervor- 
rukt, der ibm böcbstens dann Lukommt, wenn 
die Weltgescbicbte wirklieb 2ur ^llerwsltsge- 
sebicbte wird. Im Bundfunk 2. B., aus dem 68 
oft „Kier Baris" oder „Kier Bondon" tönt, er 
füllt die Kennung der Weltstädte die Nission 
eines ordinären Buseis. ^.ber es läßt siob nicbt 
leugnen, daß der Weltkrieg mitsamt den politi- 
scben und gesellsebaktlioben Veränderungen in 
seinem Befolge, daß niebt LuletLt aueb die 
neuen tecbniseben Erfindungen den Alltag der 
sogenannten Kulturvölker tatsäcblicb erscbüt- 
tert und umgebrooben baben. ^.uk dem Bebiet, 
um das es bier gebt, baben sie das Bleicbe be 
wirkt wie die Belativitätstbeorie in der Bbysik. 
Ist dureb Binstein unser Zeit-Baum-8^stem Lum 
Brensbegriik geworden, so dureb den ^.nsobau- 
ungsunterriebt der Besebiebts das selbstberr- 
iiebe 8ubjekt. ^lKu naebbaltig bat in der jüng 
sten Vergangenbeit jeder Nenseb seine Kiebtig- 
keit und die der andern erkabren müssen, um 
noeb an die VollLugsgewalt des beliebigen Bin- 
Lelnen 2u glauben. 8ie aber bildet die Voraus 
setzung der bürger^oben Biteratur in den Vor- 
kriegsjabren. Die Beseblossenbeit der alten Bo- 
mankorm spiegelt die vermeintliebe der Bersön- 
bebkeit wider, und seine Broblematik ist stets 
eine individuelle. Das Vertrauen in die objek 
tive Bedeutung irgendeines individuellen BeLUgs- 
svstems ist den 8obaffend6n ein kür allemal ver 
loren gegangen. Nit dem 8ebwinden dieses 
festen Koordinatennetzes baben aber aueb alle 
darin eingetragenen Kurven ibre Bildgestalt ein 
gebüßt. 80 wenig sieb der ^briktsteüer nocb 
auf sein lob berufen kann, ebensowenig gewäbrt 
ibm die Welt einen Kalt; denn beider 8truk- 
turen bedingen einander, ^enes ist relativiert, 
diese mit ibren Bebalten und Biguren in einen 
undurobsiobtigen Bmlauk gebraobt. Kiobt um 
sonst spriobt man von der Krisis des Bomans. 
8ie bestebt darin, daß die bisberige Bomankom 
position dureb die ^.ukbebung der Konturen des 
Individuums und seiner Begenspieler außer 
Krakt gesetzt ist. (Darum ist noeb niebt der 
Boman als Kunstgattung bistoriseb geworden. 
Denkbar wäre, daß er in einer der verwirrten 
^Welt angepakten Borm neu erstünde, daß die 
Verwirrung selber episebe Borm gewönne.) 
Inmitten der erweiebten unkaßlieben Welt 
wird der Zug der Besebiebte Lum Blement. 
Die Besobiebte, die siob uns. eingebrookt bat, 
tauobr als Bestland aus dem Neer des Bestalt- 
Von Dr. K. Mr>s«s«H^. 
losen, KiobtrugestaltendLN auf. 8is verdicbtet 
siob dem beutigen 8obrift8teller, der sie niebt 
wie der Historiker unmittelbar anpaoken kann 
und mag, im Beben ibrer weitbin siobtbaren 
Kelden. Kiobt um des Keroenkults willen wer 
den diese rum Begenstand von Biograpbien; son 
dern aus dem Bedürfnis naob einer reobtmäki- 
gen literarisoben Borm. In der lat sobeint der 
Ablauf eines bistoriseb wirksamen Bebens sämt- 
liobe Bestandteile 2u bergen, die unter den berr- 
sobenden Umständen ein Brosagebilde ermög- 
lioben. Das in ibm eingefangene Dasein ist eine 
Kristalbsation des gesoniobtboben Waltens, 
dessen Bnantastbarkeit außer Zweifel stebt. Bnd 
wird niobt die Objektivität der Darstellung dureb 
die bistorisobe Bedeutung des Urbildes verbürgt? 
^kn ibm glauben die literarisoben Biograpben 
endliob die 8tütL6 gefunden xu baben, die sie 
anderswo vergebbob suobten, das gültige LeLugs- 
s^stem, das sie der subjektiven Willkür entbebt. 
8eine Verbindlichkeit ist ganr offenbar eine 
Bolge seiner BaktiLität. Die Kauptperson der 
jeweiligen Biograpbie bat wirklieb gelebt und 
alle Züge dieses Bebens sind dokumentarisch 
belegt. Der Kern, den einst die erfundene Kand- 
lung bot, wird in einem 8obioksal wiedererlangt, 
das beglaubigt ist. Bs ist rugleiob aueb die 
Barantie der Komposition. Zede geschichtliche 
Bestatt bat bereits in siob selber Bestalt. 8ie 
bebt Z:u einer bestimmten Zeit an, entwickelt 
sieb im Widerstreit mit der Welt, gewinnt Bm- 
riß und Bütte, tritt ins ^tter rurüok und erbsobt. 
Der ^.utor ist also niebt auk ein individuelles 
8obema angewiesen, er erbält eines, das ibn wie 
jeden verpflichtet, fertig ins Haus. Des freut 
sieb niebt so sebr seine Bequemlichkeit als sein 
Bewissen; vorausgesetzt, daß es sieb niebt um 
die serienweise Babrikation von Biograpbien aus 
Konjunkturgründen bandslt. Denn die Biogra- 
pbie maobt dem Boman beute nur darum Kon- 
kurrenL, weil sie rum Bntersebied von diesem, 
der frei schwebt, 8tokke verarbeitet, die ibre 
Borm bedingen. Die Noral der Biograpbie ist: 
daß sie im Obaos der gegenwärtigen Kunstübun- 
gtzn die einzige scheinbar notwendige Brosakorm 
darsteltt. 
Bins des stabilisierten Bürgertums. 
Dieses ist kreiliob daru gezwungen, sieb allen 
Brkenntnisssn und Bormproblemen ru verwei 
gern, die seinen Bestand gekäkrden. Ls spürt 
die Naebt der Desebiebte in den Knooben und 
merkt sebr wobl. dak das Individuum anonym 
geworden ist, riebt aber aus seinen Binsiebten, 
die sieb ibm mit der Bewalt pb.vsiognomiseber 
Brkabrungen aukdrängen, keinen wie immer ge^ 
arteten 8ebluk, der die aktuelle Situation ru er 
beben vermöebte. Vor der Konfrontation mit 
ibr sebeut es im Interesse der ^lbsterbabung 
rurüek. Weder läkt sieb die literarisebe Blite 
der neuen Bourgeoisie ernstbakt darauf Gin, die 
materiabstisebe Dialektik ru durebdringen, noeb 
stellt sie sieb offen dem Anprall der unteren 
Nassen, noeb wagt sie sieb irgendwo aueb nur 
einen 8ebritt über die von ibr erreiebte Brenre 
Ninaus ins jenseits der Klasse. Bnd doeb könnte 
sie erst dann auf Orund stoken, wenn sie sieb 
obne jede ideologisebe 8ebutLbübe an die 
Bruebstebe unserer Oessbsebaktskonstruktion 
begäbe und sieb auf diesem vorgesebobenien 
Bosten mit den sorialen Näebten auseinander- 
setrte, in denon sieb beute die Wirkliebkeit ver 
körpert. Hier und sonst nirgends sind die Br- 
kenntnisss rü bolen, die, vielleiobt, eine eebte 
Kunstkorm gewLbrleisten. Denn die Gültigkeit, 
deren diese bedarf, kommt allein den Aussagen 
des korigesebrittensten Bewußtseins ru, das siob 
bier, nur bier entwickeln kann, ^.us ibm, das 
Kalt scbenkt, mag die literarisebe Bestall er- 
waebsen; oder sie erwäcbst niebt aus ibm, dann 
bliebe uns eben in der Begenwart die Bestallung 
verwebrt. (Wenn oben gesagt wurde, daß die 
Verwirrung selber epische Borm gewinnen könne, 
so ist jetLt binLULukügen: nur auk dem Funda 
ment des kortgesebrittensten Bewußtseins, das die 
Verwirrung durchschaut.) Die Biograpbie als 
Borm der neubürgerboben Literatur ist ein bel 
eben der B1 uebt; genauer: der Ausflucht. Um 
sieb niebt dureb Erkenntnisse bloßLustellen, die 
das Dasein der Bourgeoisie in Brage Lieben, bar 
ren die Viograpben unter den 8obrift8teUern wie 
vor einer Wand an der 8ebwebe, bis Lu der sie 
von den Weltereignissen Vorgetrieben worden 
sind. Daß sie von ibr aus wieder ins bürgerliebe 
Hinterland Hieben, statt sie vu übertreten, be 
weist die ^.nal^se des Durobschnitts der Biogra- 
pbien. Diese betraebten rwar das gesobiobtliebe 
Walten, verlieren sieb aber so in seiner Betraob- 
tung, daß sie sieb niebt mebr Lur Gegenwart 
Lurüekkinden. 8ie trekken unter den bistoriseben 
Kroßen eine wenig wäblerisobe ^uswabl, die 
jedenfalls niebt dureb die Anerkennung der 
aktuellen 8ituation bedingt ist. 8ie . möobten der 
Bs^obologie ledig werden, von der die Vorkriegs- 
prosa bestimmt war, und arbeiten tret? der 
tzobeinobjektivität ibres 8tokkgebiets teilweise 
mit den alten psychologischen Kategorien. 8ie 
baben den suspekten Individualismus Lur Hinter 
tür binausgeworken und geleiten offiziell abge 
stempelte Individuen dureb den Kaupteingang 
von neuem ins bürgerliebe Blaus. Womit Lu- 
gleieb ein Zweites erreiebt wäre: die unausge- 
^»roebene Absage an ein. Begiment, üas aus den 
rieten der Nasse aulsteigt. Die literarisebe Bio- 
grapbie ist eine OrenLersebeinung, die binter der 
(IrenLe bleibt. 
8ie ist noeb etwas anderes als blöke Bluebt. 
80 gewik sieb das Bürgertum beute im Beber 
gang befindet, so gewik wdbnt jed^r seiner Bei 
stungen eine doppelte Bedeutung inne. Bs be- 
absiebtigt, mit der Beistung- seine BxistenL 2U 
verteidigen, und bewabrbeitet unäbsiebtlieb mit 
ibr den Vollzug des Bebergangs. Wie Auswan 
derer ibre Babseligkeiten Lusammenraklen, so 
sammelt, die bürgerliebe Biteratur den Hausrat, 
der bald niebt mebr die alte 8tätte baben wird. 
Das Notiv der Bluebt, dem die Bn^abl der Bio- 
grapbien ibre Bntstebung sebuldet, wird von dem 
der Bettung überblendet. Wenn es eine Be 
stätigung kür das Bnde des Individualismus gibt, 
ist sie in dem Nuseum der groken Individuen 
Lu erblicken, das die Biteratur der (Gegenwart 
boobtübrt. Bnd die ^.uswabüosigkeit, mit der 
sie sieb aller ^taatspersonen-bemaebtigt, bezeugt 
niebt nur das Unvermögen nur riebtigen Leit- 
gebundenen Wabl, sondern ebensosebr die Bild 
des Betters. Bs gilt einen Bildersaal einLÜrieb- 
ten, in dem sieb die Brinnerung ergeben kann, 
der jedes Bild gleieb wert ist. Wie fragwürdig 
immer die eine oder andere döiograpbie sei: der 
OlanL des ^.bsebieds rubt. auk ibrer Oemein- 
sebakt. 
8oweit ich sebe, gibt 68 nur- ein einLiges 
biograpbisebes Werk, das Von der 8umme der 
übrigen grundsätLliok gesobieden ist. Da 8 
^BroLkis. In ibm sind die Bedingungen durob- 
brooben, denen die literarisebe Biograpbie unter- 
stebt. Die Bebensbesobreibung des bistorisoben 
Individuums ist bier niebt ein Nittel, um der 
Brkenntnis unserer 8ituation ausLuweieben, son 
dern dient nur da^u, sie Lu entbüllen. Darum 
formt sieb in dieser ^lbstdarstellung aueb ein 
anderes Individuum aus als 63,8 in der bürger- 
lioben Literatur gemeinte. Bines, das insofern 
bereits übergegangen i8t, als 68 nur dureb 8eine 
Bransparenr gegen die Wirkliebkeit wirklieb 
wird, niebt Leer die eigens Wirkliebkeit be- 
bauptet. Bin neu68 Individuum, außerhalb ds8 
Dunstkreises der Ideologien: 68 defekt genau 
bis rm dem Brade, in dem 68 sieb im Interesse 
der erkannten aktuellen Notwendigkeiten auk- 
geboben trat.
	        
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