tue Angst ist
Verkehrsstraße
befand mich
und billigem
es, die ihn so
gelungen war,
auf ihr; ' unter
Hausrat vor
das Fenster dann offen bleiben? Ein Autoreifen explodierte neben
mir, und ich fühlte, daß ich mich zusehends verwirrte. Mitten
im Lärm fiel mir ein, daß vielleicht die ganze Straße als Schlupf-
FL6-FZS
dem ungekämmten Haar beachtet mich so wenig wie seinen Koffer.
Nichts ist für ihn vorhanden, ganz allein sitzt er auf seinem Stühl-
chen im Leeren. Er hat Angst,
Erinnerung an eine Zariser Straße.
Von S. Kracauer»
- Fast drei Jahre ist es her, daß ich in jene Straße im Quartier
Grenelle verschlagen wurde. Der Zufall führte mich dorthin; das
heißt, nicht eigentlich ein Zufall, sondern der Rausch. Der Straßen-
rausch, der mich in Paris immer ergreift Damals, als ich der
Straße begegnete, verbrachte ich vier Wochen ganz allein in Parts
und lief jeden Tag mehrere Stunden durch die Quartiere. Es war
eine Besessenheit, der ich nicht zu widerstehen vermochte. Von ihrer
Macht legt am besten die Tatsache Zeugnis ab, daß ich es als Ver
rat empfand, wenn ich einmal über die Schlafenszeit hinaus in
meinem Hotelzimmer blieb oder einen Abend dem Theaterbesuch
opferte. Sogar die gelegentlichen Zusammenkünfte mit Frauen er
schienen mir wie eine Pflichtvergefsenheit, wie eine törichte Ablen
kung von den Straßen, die mich ungleich stärker beanspruchten
als irgendein einzelnes Mädchen. Ich genoß sie blindlings und
ließ mich von ihnen verbrauchen, und kehrte ich auch stets matt
von den Ausschweifungen heim, so hielt mich doch nichts davon zu
rück, meiner Leidenschaft am andern Tag wieder nachzugeben. Jtn
Gegenteil: hinter dem Nebel, den die zunehmende Müdigkeit um
mich verbreitete, winkten mir die Straßen nur noch verführerischer.
Straßen gibt es in allen Städten. Während sie aber sonstwo aus
Trottoirs, Häuserreihen und leicht gewölbten Asphaltflächen be"
stehen, spotten sie in Paris der Zerlegung in die verschiedenen Ele
mente. Was immer sie seien: enge Schluchten, die in den Himmel
einmünden, ausgetrocknete Flußläufe und blühende Steintäler —
ihre Bestandteile sind ineinandergewachsen wie die Glieder von
Lebewesen. Oft fließen die Seitenwände und Pflasterböden unmerk-
lich zusammen, und ehe er sich's versieht, gerät der Träumende wie
zu ebener Erde über senkrechte Mauern bis zu den Dächern und
weiter, immer weiter ins Dickicht der Schornsteine hinein. Auf
diesen Routen trieb ich mich umher und mußte in jedem Passanten
den Eindruck eines ziellosen Schlenderers erwecken, llnd doch war
ich, streng genommen, nicht ziellos. Ich glaubte ein Ziel zu haben,
aber ich hakte das Ziel zu meinem Unglück vergessen. Es war mir
zumute wie einem Menschen, der in seinem Gedächtnis nach einem
Wort sucht, das ihm auf den Lippen brennt, und er kann es nicht
finden. Von der Begierde erfüllt, endlich an den Ort zu gelangen, an
dem mir das Vergessene wieder einfiele, konnte ich nicht die kleinste
Nebengasse streifen, ohne sie zu betreten und hinter ihr um die Ech
zu biegen. Am liebsten hätte ich sämtliche Höfe ergründet und Zim
mer für Zimmer durchforscht. Wenn ich so nach allen Seiten spähte^
aus der Sonne in die Schatten und wieder zurück nach dem Tag,
hatte ich die deutliche Empfindung, daß ich mich, auf der Suche
nach dem gewünschten Ziel, nicht nur im Raum bewegte, sondern
oft genug seine Grenzen überschritt und in die Zeit eindrang. Ein
geheimer Schmugglerpfad führte ins Gebiet der Stunden und Jahr
zehnte, dessen-Straßensystem ebenso labyrinthisch angelegt war wie
das der SiadL selber.
Jene Straße, von der ich erzählen will, liegt in einem prole
tarischen Viertel. Ich muß hier einschalten, daß ich zwar ohne jede
Auswahl bei meinen Gängen verfuhr, aber doch unwillkürlich die
ärmeren Stadtteile bevorzugte. Nicht so, als ob es den Gegenden,
in denen Glanz, Reichtum und Vergnügen Hausen, an den von mir
begehrten Reizen gebräche. Auch sie sind verwickelt wie alte, unpßr-
ständlich gewordene Gebrauchsdinge, ineinandergeschachtelt und,
fremden Schriftzeichen gleich, kaum zu entziffern. Nur eben dort,
wo die unteren Beamten, die Gewerbetreibenden und die vielen
alten Leute wohnen, scharen sich die Häuser planloser, häßlicher,
dichter, wagen sich Gerüche und Dünste hervor, deren körperliche
Umrisse die sichtbaren Formen überschneiden. Alle diese Straßen
stehen nahe vorm Aufbruch; ungeordnete Rotten, die sich bald zer
streuen oder auch gemeinsam marschieren werden. Und manchmal
ist es, als werde in der Ferne ein Trommelwirbel geschlagen.
Ich entdeckte die Straße, als ich mich an einem frühen Nach
mittag dem Abschluß einer Sackgasse zu nähern glaubte, die auf der
einen Seite von einem hohen, unförmigen Vorstadttheater begrenzt
wurde. Das Theater war geschlossen und sah so verlassen aus, als
ob in ihm nie mehr gespielt würde. Noch bevor ich mich bis zum
Grund der Sackgasse durchgezwängt hatte, merkte ich, daß sie gar
keine Sackgasse war, sondern an ein anderes Gäßchen stieß, das
hinter dem Theater vorbeisührte. Mitten auf die weißgekalkte,
fensterlose Rückwand des Theaters lief die Straße zu. Sie war
schnurgerade, nur wenige Minuten lang und verhältnismäßig breit.
Wie ich jetzt erst gewahr wurde, hatte ich sie gewissermaßen hinter
rücks Überfällen; denn sie öffnete sich ohne jede Versteckspielerei an
ibrem dem Theater gegenüberliegenden Ende nach einer belebten
Verkehrsstraße.
Rasch wollte ich tue kleine Strecke durchmessen, die mich von der
Verkehrsstraße trennte. Aber nun geschah es: kaum hatte ich mich
von der weißen, übertrieben hohen Lheaterwand abgelöst, so fiel
.mir das Weitergehen schwer, und ich spürte, daß unsichtbare Netze
mich aufhielten. Die Straße, in der ich mich befand, gab mich nicht"
-frei. In geringer Entfernung ratterten Autobusse und Lastwagen
vorbei, glashell tauchten sie auf und verschwanden wie an einem
jenseitigen Ufer, das ich nicht zu erreichen vermochte. Ich versuchte,
mir über meine Lage klar Zu werden. Es war noch vor drei Uhr,
und nur vereinzelte Passanten kreuzten die Straße. An den nichts
sagenden Mietshäusern rechts und links waren zu meiner Ver
wunderung ein paar Hotelschilder angebracht, schwarze, ge
schwungene Aushängeschilder von der in Paris üblichen Art, die
nichts sonst als die Aufschrift „Hotel" tragen. Ihre schwache Krüm
mung wirkte in dieser Umgebung durchaus zweideutig. Ich trat,!
obwohl in meiner Bewegungsfreiheit gelähmt, an ein solches Hotel
heran. Seine Tür, eine gewöhnliche Privattür, war verrammelt,
seine Fenster, hinter denen zum großen Teil die Gardinen fehlten,
glichen zahnlosen Mündern. Neben dem Klingelzug hing eine Tafel,
auf der in verwischten Buchstaben Zu lesen stand, daß das Hotel
nicht von hier, sondern um die Ecke herum von der Verkehrsstraße
aus zugänglich sei. Offenbar nahm schon lange niemand mehr von
-dem Hinweis Notiz, denn das ganze Haus machte einen unbe
wohnten, ja verwahrlosten Eindruck. Während meine Blicke von
seiner Fassade zu > n andern F. ssaden glitte r, ward ich mir plötz^
lich bewußt, daß ich beobachtet worden war. Aus den Obergeschoß
fenstern mehrerer Häuser sahen Burschen in ^^dsärmeln und
schludrig gekleidete Weiber auf mich nieder. Sie sprachen kein
Wort, sie schauten mich immer nur an. Eine schreckliche Gewalt
ging von ihrer bloßen Gegenwart aus, und ich hielt es beinahe
für eine Gewißheit, daß sie es waren, die mir die Fesseln angelegt
hatten. Wie sie stumn^ und reglos dastanden, schienen sie mir von
den Häusern selber ausgebrütet worden zu sein. Sie hätten jeden
Augenblick ihre Fangarme nach mir ausstrecken und mich in die
Stuben hereinziehen können.
Wie ein Schwimmer, der gegen den Strom ankämpft, strebte
ich mit einer verzweifelten Anstrengung der Straßenmündung zu.
Die Weiber werden Dirnen sein, tröstete ich mich, und redete mir
ein, daß eine von ihnen mir zugenickt hätte. Ein wenig beruhigt,
wollte ich ausschreiten — da wurde mir Halt geboten. Nicht etwa
unmittelbar durch die Burschen und überhaupt nicht in Worten,
j sondern durch ein lebendes Bild. Wie zur Strafe für meinen Leicht
sinn stellte es. sich mir in den Weg. Ich sah: ein junger Mann sitzt
auf einem Stuhl mitten in einem Zimmer. Das Zimmer ist ein
Hotelzimmer dessen Fenster geöffnet sind. Es enthält ein Bett, da^
benutzt worden ist, einen WaMstch und einen Schränk. Die Gegen-;
'stände harren wie angewurzelt und starren mich so aufdringlich
an, als seien sie überdeutlich gemalt. Das schmutzige Waschwasser
ist ein Teich ohne Abfluß, der Schränk trägt seine Kratzer und
Riffe schamlos zur Schau. Zu Füßen des jungen Mannes kauert ein
offener halbgepackter Koffer, in den eilig Wäsche hineingestop'st
worden sein muß. Umringt vom Mobiliar, hat der Sitzende seinen
Kopf in die Hände gestützt. Der Fußboden des Zimmers kann
nicht höher als das Straßenpflaster liegen. Ich stehe vor dem
Fenster, das sich längst verflüchtigt hat, aber der junge Mann mit
lähmt...
Wie mir der Durchbruch zur
weiß ich nicht mehr. Genug, ich
SchlächterSuden, Kleid erauslagen
Spiegelscheiben. Rechts öffnete sich eine Straße, die wie ein Pfeil
davonschotz und sich wie ein Hotelschild krümmte. Die mußte ick
unter allen Umständen noch kennen lernen. Während ich im ver
trauten Tumult versank, begleitete mich immerfort das Bild des
jungen Mannes im Hotelzimmer. Nachträglich hielt ich es für
wahrscheinlich, daß der junge Mann ein Verbrecher war, der in
jenem engen Zimmer vor seinen Verfolgern das Weite gesucht
hatte. Das Hotel ist eine Höhle, sagte ich mir. Aber wie konnte