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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

tue Angst ist 
Verkehrsstraße 
befand mich 
und billigem 
es, die ihn so 
gelungen war, 
auf ihr; ' unter 
Hausrat vor 
das Fenster dann offen bleiben? Ein Autoreifen explodierte neben 
mir, und ich fühlte, daß ich mich zusehends verwirrte. Mitten 
im Lärm fiel mir ein, daß vielleicht die ganze Straße als Schlupf- 
FL6-FZS 
dem ungekämmten Haar beachtet mich so wenig wie seinen Koffer. 
Nichts ist für ihn vorhanden, ganz allein sitzt er auf seinem Stühl- 
chen im Leeren. Er hat Angst, 
Erinnerung an eine Zariser Straße. 
Von S. Kracauer» 
- Fast drei Jahre ist es her, daß ich in jene Straße im Quartier 
Grenelle verschlagen wurde. Der Zufall führte mich dorthin; das 
heißt, nicht eigentlich ein Zufall, sondern der Rausch. Der Straßen- 
rausch, der mich in Paris immer ergreift Damals, als ich der 
Straße begegnete, verbrachte ich vier Wochen ganz allein in Parts 
und lief jeden Tag mehrere Stunden durch die Quartiere. Es war 
eine Besessenheit, der ich nicht zu widerstehen vermochte. Von ihrer 
Macht legt am besten die Tatsache Zeugnis ab, daß ich es als Ver 
rat empfand, wenn ich einmal über die Schlafenszeit hinaus in 
meinem Hotelzimmer blieb oder einen Abend dem Theaterbesuch 
opferte. Sogar die gelegentlichen Zusammenkünfte mit Frauen er 
schienen mir wie eine Pflichtvergefsenheit, wie eine törichte Ablen 
kung von den Straßen, die mich ungleich stärker beanspruchten 
als irgendein einzelnes Mädchen. Ich genoß sie blindlings und 
ließ mich von ihnen verbrauchen, und kehrte ich auch stets matt 
von den Ausschweifungen heim, so hielt mich doch nichts davon zu 
rück, meiner Leidenschaft am andern Tag wieder nachzugeben. Jtn 
Gegenteil: hinter dem Nebel, den die zunehmende Müdigkeit um 
mich verbreitete, winkten mir die Straßen nur noch verführerischer. 
Straßen gibt es in allen Städten. Während sie aber sonstwo aus 
Trottoirs, Häuserreihen und leicht gewölbten Asphaltflächen be" 
stehen, spotten sie in Paris der Zerlegung in die verschiedenen Ele 
mente. Was immer sie seien: enge Schluchten, die in den Himmel 
einmünden, ausgetrocknete Flußläufe und blühende Steintäler — 
ihre Bestandteile sind ineinandergewachsen wie die Glieder von 
Lebewesen. Oft fließen die Seitenwände und Pflasterböden unmerk- 
lich zusammen, und ehe er sich's versieht, gerät der Träumende wie 
zu ebener Erde über senkrechte Mauern bis zu den Dächern und 
weiter, immer weiter ins Dickicht der Schornsteine hinein. Auf 
diesen Routen trieb ich mich umher und mußte in jedem Passanten 
den Eindruck eines ziellosen Schlenderers erwecken, llnd doch war 
ich, streng genommen, nicht ziellos. Ich glaubte ein Ziel zu haben, 
aber ich hakte das Ziel zu meinem Unglück vergessen. Es war mir 
zumute wie einem Menschen, der in seinem Gedächtnis nach einem 
Wort sucht, das ihm auf den Lippen brennt, und er kann es nicht 
finden. Von der Begierde erfüllt, endlich an den Ort zu gelangen, an 
dem mir das Vergessene wieder einfiele, konnte ich nicht die kleinste 
Nebengasse streifen, ohne sie zu betreten und hinter ihr um die Ech 
zu biegen. Am liebsten hätte ich sämtliche Höfe ergründet und Zim 
mer für Zimmer durchforscht. Wenn ich so nach allen Seiten spähte^ 
aus der Sonne in die Schatten und wieder zurück nach dem Tag, 
hatte ich die deutliche Empfindung, daß ich mich, auf der Suche 
nach dem gewünschten Ziel, nicht nur im Raum bewegte, sondern 
oft genug seine Grenzen überschritt und in die Zeit eindrang. Ein 
geheimer Schmugglerpfad führte ins Gebiet der Stunden und Jahr 
zehnte, dessen-Straßensystem ebenso labyrinthisch angelegt war wie 
das der SiadL selber. 
Jene Straße, von der ich erzählen will, liegt in einem prole 
tarischen Viertel. Ich muß hier einschalten, daß ich zwar ohne jede 
Auswahl bei meinen Gängen verfuhr, aber doch unwillkürlich die 
ärmeren Stadtteile bevorzugte. Nicht so, als ob es den Gegenden, 
in denen Glanz, Reichtum und Vergnügen Hausen, an den von mir 
begehrten Reizen gebräche. Auch sie sind verwickelt wie alte, unpßr- 
ständlich gewordene Gebrauchsdinge, ineinandergeschachtelt und, 
fremden Schriftzeichen gleich, kaum zu entziffern. Nur eben dort, 
wo die unteren Beamten, die Gewerbetreibenden und die vielen 
alten Leute wohnen, scharen sich die Häuser planloser, häßlicher, 
dichter, wagen sich Gerüche und Dünste hervor, deren körperliche 
Umrisse die sichtbaren Formen überschneiden. Alle diese Straßen 
stehen nahe vorm Aufbruch; ungeordnete Rotten, die sich bald zer 
streuen oder auch gemeinsam marschieren werden. Und manchmal 
ist es, als werde in der Ferne ein Trommelwirbel geschlagen. 
Ich entdeckte die Straße, als ich mich an einem frühen Nach 
mittag dem Abschluß einer Sackgasse zu nähern glaubte, die auf der 
einen Seite von einem hohen, unförmigen Vorstadttheater begrenzt 
wurde. Das Theater war geschlossen und sah so verlassen aus, als 
ob in ihm nie mehr gespielt würde. Noch bevor ich mich bis zum 
Grund der Sackgasse durchgezwängt hatte, merkte ich, daß sie gar 
keine Sackgasse war, sondern an ein anderes Gäßchen stieß, das 
hinter dem Theater vorbeisührte. Mitten auf die weißgekalkte, 
fensterlose Rückwand des Theaters lief die Straße zu. Sie war 
schnurgerade, nur wenige Minuten lang und verhältnismäßig breit. 
Wie ich jetzt erst gewahr wurde, hatte ich sie gewissermaßen hinter 
rücks Überfällen; denn sie öffnete sich ohne jede Versteckspielerei an 
ibrem dem Theater gegenüberliegenden Ende nach einer belebten 
Verkehrsstraße. 
Rasch wollte ich tue kleine Strecke durchmessen, die mich von der 
Verkehrsstraße trennte. Aber nun geschah es: kaum hatte ich mich 
von der weißen, übertrieben hohen Lheaterwand abgelöst, so fiel 
.mir das Weitergehen schwer, und ich spürte, daß unsichtbare Netze 
mich aufhielten. Die Straße, in der ich mich befand, gab mich nicht" 
-frei. In geringer Entfernung ratterten Autobusse und Lastwagen 
vorbei, glashell tauchten sie auf und verschwanden wie an einem 
jenseitigen Ufer, das ich nicht zu erreichen vermochte. Ich versuchte, 
mir über meine Lage klar Zu werden. Es war noch vor drei Uhr, 
und nur vereinzelte Passanten kreuzten die Straße. An den nichts 
sagenden Mietshäusern rechts und links waren zu meiner Ver 
wunderung ein paar Hotelschilder angebracht, schwarze, ge 
schwungene Aushängeschilder von der in Paris üblichen Art, die 
nichts sonst als die Aufschrift „Hotel" tragen. Ihre schwache Krüm 
mung wirkte in dieser Umgebung durchaus zweideutig. Ich trat,! 
obwohl in meiner Bewegungsfreiheit gelähmt, an ein solches Hotel 
heran. Seine Tür, eine gewöhnliche Privattür, war verrammelt, 
seine Fenster, hinter denen zum großen Teil die Gardinen fehlten, 
glichen zahnlosen Mündern. Neben dem Klingelzug hing eine Tafel, 
auf der in verwischten Buchstaben Zu lesen stand, daß das Hotel 
nicht von hier, sondern um die Ecke herum von der Verkehrsstraße 
aus zugänglich sei. Offenbar nahm schon lange niemand mehr von 
-dem Hinweis Notiz, denn das ganze Haus machte einen unbe 
wohnten, ja verwahrlosten Eindruck. Während meine Blicke von 
seiner Fassade zu > n andern F. ssaden glitte r, ward ich mir plötz^ 
lich bewußt, daß ich beobachtet worden war. Aus den Obergeschoß 
fenstern mehrerer Häuser sahen Burschen in ^^dsärmeln und 
schludrig gekleidete Weiber auf mich nieder. Sie sprachen kein 
Wort, sie schauten mich immer nur an. Eine schreckliche Gewalt 
ging von ihrer bloßen Gegenwart aus, und ich hielt es beinahe 
für eine Gewißheit, daß sie es waren, die mir die Fesseln angelegt 
hatten. Wie sie stumn^ und reglos dastanden, schienen sie mir von 
den Häusern selber ausgebrütet worden zu sein. Sie hätten jeden 
Augenblick ihre Fangarme nach mir ausstrecken und mich in die 
Stuben hereinziehen können. 
Wie ein Schwimmer, der gegen den Strom ankämpft, strebte 
ich mit einer verzweifelten Anstrengung der Straßenmündung zu. 
Die Weiber werden Dirnen sein, tröstete ich mich, und redete mir 
ein, daß eine von ihnen mir zugenickt hätte. Ein wenig beruhigt, 
wollte ich ausschreiten — da wurde mir Halt geboten. Nicht etwa 
unmittelbar durch die Burschen und überhaupt nicht in Worten, 
j sondern durch ein lebendes Bild. Wie zur Strafe für meinen Leicht 
sinn stellte es. sich mir in den Weg. Ich sah: ein junger Mann sitzt 
auf einem Stuhl mitten in einem Zimmer. Das Zimmer ist ein 
Hotelzimmer dessen Fenster geöffnet sind. Es enthält ein Bett, da^ 
benutzt worden ist, einen WaMstch und einen Schränk. Die Gegen-; 
'stände harren wie angewurzelt und starren mich so aufdringlich 
an, als seien sie überdeutlich gemalt. Das schmutzige Waschwasser 
ist ein Teich ohne Abfluß, der Schränk trägt seine Kratzer und 
Riffe schamlos zur Schau. Zu Füßen des jungen Mannes kauert ein 
offener halbgepackter Koffer, in den eilig Wäsche hineingestop'st 
worden sein muß. Umringt vom Mobiliar, hat der Sitzende seinen 
Kopf in die Hände gestützt. Der Fußboden des Zimmers kann 
nicht höher als das Straßenpflaster liegen. Ich stehe vor dem 
Fenster, das sich längst verflüchtigt hat, aber der junge Mann mit 
lähmt... 
Wie mir der Durchbruch zur 
weiß ich nicht mehr. Genug, ich 
SchlächterSuden, Kleid erauslagen 
Spiegelscheiben. Rechts öffnete sich eine Straße, die wie ein Pfeil 
davonschotz und sich wie ein Hotelschild krümmte. Die mußte ick 
unter allen Umständen noch kennen lernen. Während ich im ver 
trauten Tumult versank, begleitete mich immerfort das Bild des 
jungen Mannes im Hotelzimmer. Nachträglich hielt ich es für 
wahrscheinlich, daß der junge Mann ein Verbrecher war, der in 
jenem engen Zimmer vor seinen Verfolgern das Weite gesucht 
hatte. Das Hotel ist eine Höhle, sagte ich mir. Aber wie konnte
	        
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