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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Dab er dennoeb seinen guten 
8inn gebabt 
8einer Auk- 
Mann auf seinem Stuhl mitten im Zimmer. Der Koffer ist halb 
gepackt wie vorhin, das Waschwasser ist nicht ausgegossen worden. 
Und immer noch hat der Sitzende seinen Kopf in die Hände gestützt 
Ist es vielleicht ein anderer junger Mann? Ich entsinne mich, daß 
ich sein Gesicht nie gesehen habe. Gegen meinen Willen betaste ich 
die Mauer des Hotelgebäudes, sie ist fest und aus Stein. Wie ich nach 
oben blicke, rückt die Theaterwand langsam auf mich zu. Sie, die 
doch fensterlos war, ist jetzt mit richtigen Mietshausfenstern besetzt, 
aus denen die stumme Gesellschaft wieder auf mich herabschaut. 
Die Theaterwand wird immer größer und schleicht mit ihren 
weißen Zinnen durchs Dunkel. Es ist dunkel geworden, und ich 
entdecke, daß die Kinder weggefegt sind. Nur ihr Lachen drmgt noch 
zu mir, so leise schon, als käme es aus dem Theater. Ich laufe 
ihm nach, hänge mich an das Lachen wie an einen äußerste? 
Zipfel. Hinter mir schließt sich die Straße. 
Sooft ich seitdem in Paris war, ich habe mich nie mehr in die 
Nähe der Straße gewagt. Uebrigens gibt es noch viele Straßen 
in allen möglichen Stadtteilen, mit denen ich besondere Erinne 
rungen verknüpfe. Jede einzelne von ihnen hat ihren eigenen 
Geruch und ihre eigene Geschichte. Und diese Geschichte ist nicht 
vergangen, sondern lebt weiter, als sei sie von heute. Die Kirche 
St. Julien le Pauvre zum Beispiel wacht morgens auf und geht 
abends schlafen wie irgendein Warenhaus. Vielleicht rührt es daher," 
daß, umgekehrt, in Paris die Gegenwart den Schimmer des Ver 
gangenen hat. Während man noch durch die leibhaftigen Straßen 
wandelr, sind sie bereits entfernt wie Erinnerungen, in denen sich 
die Wirklichkeit mit dem vielstöckigen Traum von ihr mischt und 
Abfälle und Sternbilder sich treffen. 
naob Reioktümern 2U streben, die ikr die Brsi- 
keit gewäbren. Wenn der Diobter ikr die „grobe 
8aoke" Lusokiebt, gesobiekt es 2U dem einzigen 
2week, um sie so 2u entfesseln, dab sie an die 
rusetren vermögen oder niebt: die latsaebe ibres i 
erneuten Binbruebs ist wiebtig. Bann es doob! 
der zungen Intelligenz nur dienliob sein, sieb 
mit den ^eiterkenntnissen eines Nannes ru 
messen, der das Beberbekerts nutst. 8ie bat niebt 
viel Belegenbeit daru, denn die Aelteren räumen 
ibr in der Regel kampflos das Beld. Entweder 
sind sie unberübrt von der Gegenwart und 
sebreiben weiter, wie sie sebon vor dem groken 
Bmbrueb gesebrieben baben; oder sie laufen der 
lugend naeb, die es dann immer noeb besser 
maebt. Reinrieb Nann läkt sieb mit ibr ein, 
obne sieb 2u verleugnen. 
* 
Die Handlung spielt in einem neudeutseben 
Industrie- und 8ebiebermi1isu, das dureb die 
Biguren 8obattiebs und des Rerrn von Bist ver 
körpert wird, lener, der sebon einmal Reiebs- 
kanrlsr war, ist Beneraldirektor des sagenbakten 
Xon^erns, der naberu alle Rersonen des Luebs 
besebäktigt; dieser ein skrupelloser 8pekulant 
groben 8tils. Beide betreiben dunkle Oesebäkte 
miteinander, die in ein belles Biebt gesetzt wer 
den, und erkalten sieb krakt ibrer Behebungen 
an der Naebt. 8ie sind rweikellos balbe 8eblüs- 
selkiguren; aber es erübrigt sieb bier, die 8eblö8- 
ser 2U ökknen. 
Vor dem sebmierigen Rintergrund entfaltet 
siob moderne lugend, die 2ur Rauptsaobe vom 
Oberingenieur Lirk gezeugt worden ist. Die 
erotiseb begabte Inge, Nargo, die treu ru ibrem 
Nann Bmanuel bält, usw. — ein voluminöser 
! klaebwuebs, dessen entsobeidende Bigensobaft 
darin bestem, zung 2U sein. Bng verfloobten mit 
den Beutoben sind versobiedene l^pen, unter 
denen etwa der Boxer Brüstung, ein verkomme 
ner unebeliober 8obn 8ebattioks und ein böebst 
be^iebungstüobtiger lüngling erwäbnt 2U werden 
verdienen. Lirk selber erbebt siob als Reprä 
sentant des Alters über diese Wirrnis. Br wird 
als Kann dargestekt, der seinen Anstieg der Ar 
beit verdankt. Raob der Inflation, die ibn um 
sein Vermögen braobte, ist er äuberliob gesun 
ken und innerlieb gewaobsen. 
Dureb einen Binkall bringt Virk samtliebe 
Biguren auk die Beine. Belegentlieb eines Le- 
suobs seiner Bamilie im Brankenbaus, in das er 
naeb einem 8tur2 transportiert worden ist, ver 
traut er Bmanuel ein Bäekeben an, das angeb- 
lieb ein 8prengpulvsr eigener Brkindung entbält. 
Die „grobe 8aebe", die der 8obwiegbr8obn im 
Interesse der Bamilie an den Nann bringen soll, 
ist aber in ^Vabrbeit gar niebt vorbanden. Lirk 
bat die Brkindung nur vorgetäusobt, um ein Bx- 
periment mit dieser neumodisoben lugend amu- 
stellen und ibr auk seine Weise ru belken. Bine 
grobe Ret^zagd beginnt, die so lange wie der Ro 
man dauert: drei ganse läge. Die Linder Lirks 
und die Brobsobieber bekämpfen sieb in dieser 
endlosen Zeit bis auks Nesser, Autos sausen bin 
und ker, und eine tolle Intrige naeb der andern 
wird augebeekt. Lis sieb am Bnde entküllt, dab 
der windige Aukrubr umsonst war. 
WIN 8IL»V TM8LLN ^V8? 
LuRvinrlobNanns neuem Roman „Die grobe 8 aeb a" 
Von 8. LrseaHLLr. 
bat, das gerade will Nann Zeigen. 
kassung 2ukolge ist die Lebensform der beutigen 
lugend Lewegung und Lampk. Aber im Unter 
grund bat sie Angst: die Angst der Angestell 
ten, die zeden Pag von ibrem Bonnern entlassen 
werden können. Bnd genau dieses Brauen vor 
der Abkängigkeit treibt sie äa?u, siob wie be- 
bext 2U tummeln und auk dem sobnellsten Weg 
Winkel diente. Dem widersprach nur ihre Öffentlichkeit. Oder 
existierte sie am Ende gar nicht, und die Burschen und Weiber 
droben mitsamt den Hoteleingeweiden waren Erscheinungen, die 
sich aus meinem eigenen Zustand erklärten? Die Pfeilstraße sog 
mich ein, und ich beschrieb ihre Krümmung mit. Es ging kreuz 
und quer, die Fuhrwerke krachten, Fassaden und Tore gaben mich 
weiter. Auf einmal — es mochte über eine Stunde verstrichen sein 
stand ich wieder am Eingang der Straße. 
Ich sah sie jetzt von rückwärts. Ihren Hintergrund bildete die 
weiße, fensterlose Theaterwand, ein pralles Mauerwerk, das nicht 
weichen wollte. Die kleine Straße ruhte still, als warte sie auf die^ 
Dämmerung. Sollte ich noch einmal durch sie hindurch? So sehr ich 
! auch zögerte, ich bezweifelte keinen Augenblick, daß ich sie wieder 
betreten müsse, daß ich überhaupt nur Zu dem Zweck herumgeirrt 
war, um zu ihr zurückzufinden. Der Bann, in dem mich meine 
Unschlüssigkeit hielt, wurde durch einen Kinderhaufen gelockert, der 
einem roten Backsteinhaus auf der Verkehrsstraße entströmte. Die 
Schule war aus. Es waren muntere Kinder, die aus der scheuß 
lichen Backsteinfront quollen. Ein Teil von ihnen stob auf mich zu. 
Sie schwatzten und schrien und brachen zu meinem Erstaunen be 
denkenlos in die Straße ein. Erleichtert schloß ich mich ihnen 
an. Wo ihre Unschuld wehte, konnte kein Unheil geschehen, und in 
der Tat schritt ich so sicher neben ihnen einher, als sei ich in eine 
Wolke gehüllt. In der lärmenden Kinderwolke erschien mir die 
Straße wie jede andere Straße. Einige Fenster glänzten, eine 
Haustür war angelehnt. Schon wähnte ich, glücklich hinüber zu 
sein, als sich die Wolke zerteilte und jenes Bild wieder vor mir 
stand. Der junge Mann im Hotelzimmer — das überdeutliche Bild 
! war unberührt von der Zeit geblieben. Immer noch sitzt der junge 
8 ein rieb Nanns neuer Roman: „Die 
sroke Saobe" (Bustav Liepenkeuer, Berlin. 
Beb. 7.50) ist sokon deskalb ein Alters- 
wsrk, weil sein Autor sied bewukt der älteren 
Beneration rursoknet. Auob andere Romanciers, 
deren Rubm der Vorkriegszeit entstammt, kaben 
ans ikrer keike keinen Rekl gemaebt. 2um Bn- 
tersobied von ilmen grenzt siok aber marin von 
der lugend nur ab, um sied ikr desto naok- 
drüokliober ruruwenden. 8ein Auge rukt auk ikr, 
seine Bekenntnis soll die ibre mebren. 
Bben dadurob, dab sink liier das Alter mit 
der Tugend und der von idr bestimmten 2eit 
auseinanderseth, erkält das Luob sein Bewiokt. 
Die Biteratur, die uns deute betrifft, ist 2um 
überwiegenden Peil die 8obÖpkung des l^aek- 
kriegsgesobleobts. Der Roman Nanns nun ge- 
wäbrt die Nögliobkeit, gewisser gemeinsamer 
Mge dieser Zungen Biteratur inns su werden. 
Wodurob? Indem er in der gleioben Arena auk- 
Ritt wie sie. Aueb er greift die Begenwart an, 
sobildsrt Verbältnisss, die ein beliebtes Pkema 
moderner Autoren sind. Nur von einem anderen 
8tandpunkt aus als dem ibren und mit Rilke 
anderer Netboden. Bnd 2war geboren die Brund- 
sät2b, naob denen er verkäbrt, rum besten Resitr 
der Vergangenbeit. Binsiebten, deren Bedeutung 
damit noeb niebt obne weiteres binkällig ist, daß 
sie aus den Vorkriegstraditionen bervorgeben, 
- werden in dem Roman mit einer VVelt konkron- 
tiert, die von ibnen aus maneben Bränden niokts 
wissen will. Bleiebviel, ob sie siob beute dureb-
	        
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