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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Mißverstandener Knigge. 
Analyse eines Berliner Wettbewerbs. 
Berlin, im November. 
Ein bekanntes Berliner Abendblatt Veranstalter lauter Wett 
bewerbe, die nur das Blatt selber und seine Konsumenten beträfen, 
wenn sie sich nicht mit einem bemerkenswerten Geschick in unsere 
gesellschaftlichen Verhältnisse mischten. Und zwar gebärden sie sich 
so, als ob sie das öffentliche Leben der Reichshauptstadt reformieren 
wollten. Wir hätten ja eine Besserung der Sitten gewiß nötig, aber 
durch die Art Und Weise, in der jenes Blatt zu seinem eigenen 
Ruhm den Knigge spielt wird sie unter keinen Umständen bewirkt 
werden. Im Gegenteil. 
Dem letzten Wettbewerb, „Ritter vom Steuer" betitelt, ist nun 
ein neuer gefolgt, bei dem es wieder um nichts Geringeres als um 
die Höflichkeit geht. Er nennt sich: „Das Blaue Band der 
Höflichkeit" und wird mit folgenden Sätzen eingeleitet: „Als 
Schiedsrichter ist das gesamte Publikum aufgerufen. Jeder Kunde 
wird gebeten, uns eine Verkäuferin oder einen Verkäufer, über 
dessen höfliche oder entgegenkommende Art er sich Lei Einkäufen in 
der Zeit vom 15. November bis zum 20. Dezember gefreut hat, 
namhaft zu machen mit kurzer Begründung und Benennung des 
betreffenden Geschäftes. 500 Verkäuferinnen und Verkäufer werden 
dann unter dem Weihnachtsbaum... mit der Ehrennadel ausge 
zeichnet werden. „Natürlich unter dem Weihnachtsbaum." Als 
nähere Bestimmung ist noch hinzugefügt: „Zugelassen zum Wett 
bewerb sind nur die Angestellten, Verkäufer und Verkäuferinnen 
der Warenhäuser und sämtlicher Geschäfte des Einzelhandels. Ge 
schäftsinhaber selber dürfen an dem Wettbewerb nicht teilnehmend 
Die Veranstalterin dieses edlen Wettstreits hat auch einige 
Interviews mit Verkäuferinnen und Verkäufern sowie zahlreiche 
Zuschriften von Personalchefs und Geschäftsinhabern veröffentlicht, 
aus denen insgesamt hervorgehen soll, daß die Beteiligten hoch 
erfreut über die Kampagne sind. Wie man sehen wird, geht noch 
manches andere aus den abgedruckten Aeußerungen hervor. Ange 
sichts des vollkommenen Einverständnisses wäre somit alles in 
Ordnung? Nichts ist in Ordnung. Der ganze Höflichkeitsfeldzug 
läßt vielmehr auf eine Verwirrung der Begriffe schließen, wie sie 
größer nicht sein könnte. 
ch 
Wird hier wirklich die Lugend der Höflichkeit erfragt? Die 
Einsendungen und Erläuterungen zeigen, daß unterm Weihnachts- 
Laum nicht eigentlich die Höflichkeit gefeiert werden soll, sondern 
ein Verhalten, das nur in ihrem Kostüm auftritt. Und zwar ein 
Verhalten des Verkaufspersonals, das im Interesse des größeren 
Umsatzes liegt. Allerdings wird dieser sein Hauptzweck nicht 
überall zugegeben. So schreibt ein Geschäftsinhaber sehr verschämt 
vom Blauen Band: „Diese Auszeichnung, unter Mitwirkung des 
kaufenden Publikums erworben, wird einen starken erzieherischen 
Wert in sich tragen, dessen Auswirkung auf das Personal nicht 
eusbleiben und somit gerade auch für das kaufende Publikum 
seine Vorteile dadurch zeitigen wird, dgß es die Früchte dieser 
erzieherischen Maßnahme Leim Einkauf ernten wird." Andere sind 
offener und gestehen ein, daß die geernteten Früchte vor allem der 
Firma Zugute kommen. „Alle großen Firmen," heißt es im Brief 
eines Chefs, „legen seit jeher das Hauptgewicht aus die Schulung 
des Personals im Verkehr mit der Kundschaft. Vieles hat sich 
durch Einrichtung von Verkäuferschulen schon gebessert. Trotz 
dem aber läßt hier und da die Bedienungsart noch zu wünschen 
übrig. Da kann nun der Wettbewerb . . . außerordentlich viel 
dazu Leitragen, den Verkäufern und Verkäuferinnen das Gefühl 
zu geben, daß sie jetzt unter ständiger Kontrolle der Öffentlichkeit 
stehen, und daß sie sich deswegen besondere Mühe geben werden." 
Ob eine Höflichkeit, die auf Grund einer besonderen Mühewaltung 
entsteht und überdies durch öffentliche Kontrolle verschärft wird, 
gerade den Eindruck der Höflichkeit macht, möchte ich sehr bezwei 
feln. Bedürfte es noch eines Beweises für ihre rein utilitaristische 
Ableitung, so wäre er durch die nachstehende Erklärung eines Pro 
kuristen erbracht: „Das Blaue Band . . . wird das früher in 
Berlin leider zu sehr eingewurzelte Wort ^6 adsuräum führen: 
„Die Höflichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr!" 
Nein, man kommt „ohne ihr" nicht weiter, heute nicht mehr! 
Warum heute nicht mehr? Wegen der Wirtschaftskrise, die nicht 
Zuletzt die Ausnutzung aller im Verteilungsapparat angesetzten 
Kräfte erfordert. So auch die der gemeinten Höflichkeit. Sie ist 
nichts weiter als eine Funktion der Wirtschaft, und der Zwang 
zu ihr ist der Konjunktur umgekehrt proportional. 
Ein solcher Wettbewerb könnte kaum ein Echo hervorrufen, 
wenn er nicht mächtige Bedürfnisse anspräche. Sie, die befriedigt 
sein wollen, verhindern, daß die Anwärter auf die Ehrennadeln 
der gesellschaftlichen Bedeutung des ihnen äbverlangten Verhal 
tens inne werden. Jetzt werden sie es nur noch mehr mit Höflich 
keit verwechseln. Ueberhaupt ist ein wahrscheinlich ungewollter, 
aber vielen angenehmer Nebeneffekt des Preisausschreibens der: 
das falsche Bewußtsein Zu versteifen, das die Mehrzahl der wirt 
schaftenden Menschen von den sozialen Zuständen hat. 
Angereizt wird von ihm hauptsächlich das Bedürfnis der ein 
zelnen, sich her und weiterzukommen. Es regt sich in der 
abhängigen Bevölkerung um so stärker, je mehr diese sich unter 
dem Druck der ökonomischen Bedingungen zur Masse formieren 
muß; zur Masse, die weniger das Subjekt als das Objekt 
äußerer Zwangsläufigkeiten ist. Daß es im Dienst der geschäftlichen 
Belange verwertet werden soll, bekennen mehrere Briefschreiber 
mit einem Freimut, der den Ehrennamen des Zynismus ver 
diente, wenn er auf der klaren Einsicht ins Getriebe der gesell 
schaftlichen Verhältnisse beruhte. „Ein außerordentlich gescheit^ 
Gedanke," so äußert sich einer, „den einzelnen Verkäufer einmal 
am individuellen Ehrgeiz zu packen und ihn aus der Masse des 
Personals herauszuheben. Dadurch wird ein sehr gesunder Sport- 
und Wettbewerbsgeist in der Verkäuferschaft wachgerufen . . ."Eine 
andere „maßgebliche Seite" meint, „daß man auch deswegen den 
Gedanken des Blauen Bandes so hoch einschätze, weil diese Aus 
zeichnung sehr dazu Leitragen werde, fruchtbare Rivalitäten unter 
den verschiedenen großen Warenhausfirmen hervorzurufen". 
Schließlich stellen einige Chefs Extraprämien für die Gewinner 
in Aussicht, und ein Geschäftsinhaber spricht sogar unverblümt 
aus, die Firma „wolle das Personal noch eigens auf die Wich 
tigkeit dieses Wettbewerbs für Fortkommen und Stellung Hin 
weisen". Es kann nach solchen Selbstzeugnisfen nicht gut Lestritten 
werden, daß die Höflichkeit, deren Kurs der Wettbewerb wie den 
irgendeines Spekulationspapiers in die Höhe zu treiben sucht, 
nicht so sehr eino menschliche Ausdrucksform als ein Mittel zur 
Steigerung des Distributionsprozesses darstellt; und ferner: daß 
das Mittet zu ihrer eigenen Steigerung ihre sportive Ausübung^ 
ist. Der Sport erfüllt heute auch die wesentliche Aufgabe, dem 
wirtschaftlichen Gebrauchswert der Massen zu erhöhen. 
Nichts, aber auch gar nichts wäre gegen eine Propaganda für 
aufmerksame Bedienung in den Geschäften einzuwenden, die sich 
ehrlich Zu ihrer Absicht bekennt, und jenes Berliner Abendblatt 
mag getrost dem tüchtigen Verkaufspersonal unterm Weihnachts 
baum Blaue Bänder stiften, wenn es sich einen Erfolg davon ver 
spricht, der den seinen einbegreift. Mein Bedenken richtet sich einzig 
und allein gegen die falsche Verwendung des Begriffs Höflichkeit. 
Daß es übertrieben sei, glaube ich nicht, denn die Verstellung der 
Worte ist ja nur ein Anzeichen für die der Zustände und Menschen. 
Wahrhaftig, ein führender Geschäftsmann kann behaupten, daß der 
Wettbewerb dazu beitragen werde, „den Ruf Berlins als höflichste 
Stadt zu begründen". Wie verhängnisvoll ist die Ahnungslosigkeit 
eines solchen Satzes! Weder vermag der Wettbewerb einen Ruf zu 
begründen, noch für die Höflichkeit Berlins zu zeugen. Bewiese er 
überhaupt etwas, so höchstens dies: daß man in Berlin nicht wisse, 
was Höflichkeit sei. (Aber in Wirklichkeit ist die Berliner Bevölke 
rung sehr Höflich, und nur der Unverstand kann so, wie es hier 
geschehen ist, ihre Höflichkeit als zweifelhaft hinstellen.) 
Echte Höflichkeit ist, um von der des Herzens Zu schweigen, eine 
gesellschaftliche Tugend, die vom Menschen zum Menschen strömt. 
Mag sie unter anderem auch einen Nutzwert haben, den nämlich, 
die Bildung der menschlichen Gesellschaft zu erleichtern, so ist sie 
doch gewiß nicht eine Funktion geschäftlicher Interessen. Sie dar 
auf reduzieren zu wollen, heißt sie im Dienst des glatten Ab 
satzes zu einer Warenzugabe machen. Wäre es also denen, die den 
Wettbewerb ausgeschrieben und ihm zugestimmt haben, tatsächlich 
um die HöflichEeit zu tun, so hätten sie sich nicht auf den gelegent 
lichen Hinweis beschränken dürfen, daß das gute Verhalten der 
Verkäufer vielleicht auch die Höflichkeit der Kunden mehre, sondern 
hätten die Auslobung von vornherein anders anlegen müssen. Statt 
die Geschäftsinhaber von der Konkurrenz auszuschließen, hätten sie 
auch ihre Höflichkeit, die keinen unmittelbaren geschäftlichen Vor 
teil mit sich bringt, auf die Probe stellen sollen, und ebenso die des 
Publikums. Das wäre ein Gebot der Höflichkeit gewesen; während 
der Wettbewerb in seiner jetzigen Form nicht Zum wenigsten durch 
seine Unhöflichkeit verletz:. 
Nur ein kleiner Schritt führt von der unscheinbaren Verwir 
rung, die er angezettelt. Zur Umkehr der gesamten menschlichen 
Ordnung. Er wird auch glücklich getan, der Schritt. „Der Gedanke 
des „Service" (Kundendienst) und des „üeep srniUnA" ..so 
lautet ein Abschnitt der an der ersten Stelle abgedruckten Zuschrift, 
„kam ursprünglich aus Amerika. Wir dürfen wohl sagen, daß wir 
heute in Deutschland, was den Kundendienst anbetrifst, kaum hinter 
Amerika zurückstehen, was das sogenannte „keep an- 
betrifft, dagegen insofern weitergekommen sind, als wir zwar 
unter allen Umständen das freundliche Gesicht verlangen, uns aber > 
nicht mit der Maske begnügen, sondern alles daran setzen, damit 
sich eine tatsächliche, eine echte, freundliche Stimmung im Gesicht 
spiegelt." Nach der Meinung dieses Briefschreibers sollen die 
Menschen nicht die Wirtschaft gestalten, sondern ihrerseits bis Zum 
Grund von der Wirtschaft zurechtgemodelt werden. Eine unge 
heuerliche Zumutung, die in der Tat weit über die der Amerikaner 
hinausgeht, denen mit Recht das ob erstach enhafte „keep §rnilin§" 
genügt. Sie Lescheidet sich nicht mit der Anpassung des Aeußeren 
an die Aeußerlichkeit, sie möchte auch noch zur reibungsloseren 
Abwicklung des Geschäftsverkehrs eine ganze Innenwelt errichten. 
Schlimmer kann der Mensch nicht verdinglicht werden. Er müßte 
sich aber gerade aus der Verdinglichung neu aufrichten, damit es 
in Deutschland endlich wieder besser wird. S. Krakauer.
	        
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