Mißverstandener Knigge.
Analyse eines Berliner Wettbewerbs.
Berlin, im November.
Ein bekanntes Berliner Abendblatt Veranstalter lauter Wett
bewerbe, die nur das Blatt selber und seine Konsumenten beträfen,
wenn sie sich nicht mit einem bemerkenswerten Geschick in unsere
gesellschaftlichen Verhältnisse mischten. Und zwar gebärden sie sich
so, als ob sie das öffentliche Leben der Reichshauptstadt reformieren
wollten. Wir hätten ja eine Besserung der Sitten gewiß nötig, aber
durch die Art Und Weise, in der jenes Blatt zu seinem eigenen
Ruhm den Knigge spielt wird sie unter keinen Umständen bewirkt
werden. Im Gegenteil.
Dem letzten Wettbewerb, „Ritter vom Steuer" betitelt, ist nun
ein neuer gefolgt, bei dem es wieder um nichts Geringeres als um
die Höflichkeit geht. Er nennt sich: „Das Blaue Band der
Höflichkeit" und wird mit folgenden Sätzen eingeleitet: „Als
Schiedsrichter ist das gesamte Publikum aufgerufen. Jeder Kunde
wird gebeten, uns eine Verkäuferin oder einen Verkäufer, über
dessen höfliche oder entgegenkommende Art er sich Lei Einkäufen in
der Zeit vom 15. November bis zum 20. Dezember gefreut hat,
namhaft zu machen mit kurzer Begründung und Benennung des
betreffenden Geschäftes. 500 Verkäuferinnen und Verkäufer werden
dann unter dem Weihnachtsbaum... mit der Ehrennadel ausge
zeichnet werden. „Natürlich unter dem Weihnachtsbaum." Als
nähere Bestimmung ist noch hinzugefügt: „Zugelassen zum Wett
bewerb sind nur die Angestellten, Verkäufer und Verkäuferinnen
der Warenhäuser und sämtlicher Geschäfte des Einzelhandels. Ge
schäftsinhaber selber dürfen an dem Wettbewerb nicht teilnehmend
Die Veranstalterin dieses edlen Wettstreits hat auch einige
Interviews mit Verkäuferinnen und Verkäufern sowie zahlreiche
Zuschriften von Personalchefs und Geschäftsinhabern veröffentlicht,
aus denen insgesamt hervorgehen soll, daß die Beteiligten hoch
erfreut über die Kampagne sind. Wie man sehen wird, geht noch
manches andere aus den abgedruckten Aeußerungen hervor. Ange
sichts des vollkommenen Einverständnisses wäre somit alles in
Ordnung? Nichts ist in Ordnung. Der ganze Höflichkeitsfeldzug
läßt vielmehr auf eine Verwirrung der Begriffe schließen, wie sie
größer nicht sein könnte.
ch
Wird hier wirklich die Lugend der Höflichkeit erfragt? Die
Einsendungen und Erläuterungen zeigen, daß unterm Weihnachts-
Laum nicht eigentlich die Höflichkeit gefeiert werden soll, sondern
ein Verhalten, das nur in ihrem Kostüm auftritt. Und zwar ein
Verhalten des Verkaufspersonals, das im Interesse des größeren
Umsatzes liegt. Allerdings wird dieser sein Hauptzweck nicht
überall zugegeben. So schreibt ein Geschäftsinhaber sehr verschämt
vom Blauen Band: „Diese Auszeichnung, unter Mitwirkung des
kaufenden Publikums erworben, wird einen starken erzieherischen
Wert in sich tragen, dessen Auswirkung auf das Personal nicht
eusbleiben und somit gerade auch für das kaufende Publikum
seine Vorteile dadurch zeitigen wird, dgß es die Früchte dieser
erzieherischen Maßnahme Leim Einkauf ernten wird." Andere sind
offener und gestehen ein, daß die geernteten Früchte vor allem der
Firma Zugute kommen. „Alle großen Firmen," heißt es im Brief
eines Chefs, „legen seit jeher das Hauptgewicht aus die Schulung
des Personals im Verkehr mit der Kundschaft. Vieles hat sich
durch Einrichtung von Verkäuferschulen schon gebessert. Trotz
dem aber läßt hier und da die Bedienungsart noch zu wünschen
übrig. Da kann nun der Wettbewerb . . . außerordentlich viel
dazu Leitragen, den Verkäufern und Verkäuferinnen das Gefühl
zu geben, daß sie jetzt unter ständiger Kontrolle der Öffentlichkeit
stehen, und daß sie sich deswegen besondere Mühe geben werden."
Ob eine Höflichkeit, die auf Grund einer besonderen Mühewaltung
entsteht und überdies durch öffentliche Kontrolle verschärft wird,
gerade den Eindruck der Höflichkeit macht, möchte ich sehr bezwei
feln. Bedürfte es noch eines Beweises für ihre rein utilitaristische
Ableitung, so wäre er durch die nachstehende Erklärung eines Pro
kuristen erbracht: „Das Blaue Band . . . wird das früher in
Berlin leider zu sehr eingewurzelte Wort ^6 adsuräum führen:
„Die Höflichkeit ist eine Zier, doch weiter kommt man ohne ihr!"
Nein, man kommt „ohne ihr" nicht weiter, heute nicht mehr!
Warum heute nicht mehr? Wegen der Wirtschaftskrise, die nicht
Zuletzt die Ausnutzung aller im Verteilungsapparat angesetzten
Kräfte erfordert. So auch die der gemeinten Höflichkeit. Sie ist
nichts weiter als eine Funktion der Wirtschaft, und der Zwang
zu ihr ist der Konjunktur umgekehrt proportional.
Ein solcher Wettbewerb könnte kaum ein Echo hervorrufen,
wenn er nicht mächtige Bedürfnisse anspräche. Sie, die befriedigt
sein wollen, verhindern, daß die Anwärter auf die Ehrennadeln
der gesellschaftlichen Bedeutung des ihnen äbverlangten Verhal
tens inne werden. Jetzt werden sie es nur noch mehr mit Höflich
keit verwechseln. Ueberhaupt ist ein wahrscheinlich ungewollter,
aber vielen angenehmer Nebeneffekt des Preisausschreibens der:
das falsche Bewußtsein Zu versteifen, das die Mehrzahl der wirt
schaftenden Menschen von den sozialen Zuständen hat.
Angereizt wird von ihm hauptsächlich das Bedürfnis der ein
zelnen, sich her und weiterzukommen. Es regt sich in der
abhängigen Bevölkerung um so stärker, je mehr diese sich unter
dem Druck der ökonomischen Bedingungen zur Masse formieren
muß; zur Masse, die weniger das Subjekt als das Objekt
äußerer Zwangsläufigkeiten ist. Daß es im Dienst der geschäftlichen
Belange verwertet werden soll, bekennen mehrere Briefschreiber
mit einem Freimut, der den Ehrennamen des Zynismus ver
diente, wenn er auf der klaren Einsicht ins Getriebe der gesell
schaftlichen Verhältnisse beruhte. „Ein außerordentlich gescheit^
Gedanke," so äußert sich einer, „den einzelnen Verkäufer einmal
am individuellen Ehrgeiz zu packen und ihn aus der Masse des
Personals herauszuheben. Dadurch wird ein sehr gesunder Sport-
und Wettbewerbsgeist in der Verkäuferschaft wachgerufen . . ."Eine
andere „maßgebliche Seite" meint, „daß man auch deswegen den
Gedanken des Blauen Bandes so hoch einschätze, weil diese Aus
zeichnung sehr dazu Leitragen werde, fruchtbare Rivalitäten unter
den verschiedenen großen Warenhausfirmen hervorzurufen".
Schließlich stellen einige Chefs Extraprämien für die Gewinner
in Aussicht, und ein Geschäftsinhaber spricht sogar unverblümt
aus, die Firma „wolle das Personal noch eigens auf die Wich
tigkeit dieses Wettbewerbs für Fortkommen und Stellung Hin
weisen". Es kann nach solchen Selbstzeugnisfen nicht gut Lestritten
werden, daß die Höflichkeit, deren Kurs der Wettbewerb wie den
irgendeines Spekulationspapiers in die Höhe zu treiben sucht,
nicht so sehr eino menschliche Ausdrucksform als ein Mittel zur
Steigerung des Distributionsprozesses darstellt; und ferner: daß
das Mittet zu ihrer eigenen Steigerung ihre sportive Ausübung^
ist. Der Sport erfüllt heute auch die wesentliche Aufgabe, dem
wirtschaftlichen Gebrauchswert der Massen zu erhöhen.
Nichts, aber auch gar nichts wäre gegen eine Propaganda für
aufmerksame Bedienung in den Geschäften einzuwenden, die sich
ehrlich Zu ihrer Absicht bekennt, und jenes Berliner Abendblatt
mag getrost dem tüchtigen Verkaufspersonal unterm Weihnachts
baum Blaue Bänder stiften, wenn es sich einen Erfolg davon ver
spricht, der den seinen einbegreift. Mein Bedenken richtet sich einzig
und allein gegen die falsche Verwendung des Begriffs Höflichkeit.
Daß es übertrieben sei, glaube ich nicht, denn die Verstellung der
Worte ist ja nur ein Anzeichen für die der Zustände und Menschen.
Wahrhaftig, ein führender Geschäftsmann kann behaupten, daß der
Wettbewerb dazu beitragen werde, „den Ruf Berlins als höflichste
Stadt zu begründen". Wie verhängnisvoll ist die Ahnungslosigkeit
eines solchen Satzes! Weder vermag der Wettbewerb einen Ruf zu
begründen, noch für die Höflichkeit Berlins zu zeugen. Bewiese er
überhaupt etwas, so höchstens dies: daß man in Berlin nicht wisse,
was Höflichkeit sei. (Aber in Wirklichkeit ist die Berliner Bevölke
rung sehr Höflich, und nur der Unverstand kann so, wie es hier
geschehen ist, ihre Höflichkeit als zweifelhaft hinstellen.)
Echte Höflichkeit ist, um von der des Herzens Zu schweigen, eine
gesellschaftliche Tugend, die vom Menschen zum Menschen strömt.
Mag sie unter anderem auch einen Nutzwert haben, den nämlich,
die Bildung der menschlichen Gesellschaft zu erleichtern, so ist sie
doch gewiß nicht eine Funktion geschäftlicher Interessen. Sie dar
auf reduzieren zu wollen, heißt sie im Dienst des glatten Ab
satzes zu einer Warenzugabe machen. Wäre es also denen, die den
Wettbewerb ausgeschrieben und ihm zugestimmt haben, tatsächlich
um die HöflichEeit zu tun, so hätten sie sich nicht auf den gelegent
lichen Hinweis beschränken dürfen, daß das gute Verhalten der
Verkäufer vielleicht auch die Höflichkeit der Kunden mehre, sondern
hätten die Auslobung von vornherein anders anlegen müssen. Statt
die Geschäftsinhaber von der Konkurrenz auszuschließen, hätten sie
auch ihre Höflichkeit, die keinen unmittelbaren geschäftlichen Vor
teil mit sich bringt, auf die Probe stellen sollen, und ebenso die des
Publikums. Das wäre ein Gebot der Höflichkeit gewesen; während
der Wettbewerb in seiner jetzigen Form nicht Zum wenigsten durch
seine Unhöflichkeit verletz:.
Nur ein kleiner Schritt führt von der unscheinbaren Verwir
rung, die er angezettelt. Zur Umkehr der gesamten menschlichen
Ordnung. Er wird auch glücklich getan, der Schritt. „Der Gedanke
des „Service" (Kundendienst) und des „üeep srniUnA" ..so
lautet ein Abschnitt der an der ersten Stelle abgedruckten Zuschrift,
„kam ursprünglich aus Amerika. Wir dürfen wohl sagen, daß wir
heute in Deutschland, was den Kundendienst anbetrifst, kaum hinter
Amerika zurückstehen, was das sogenannte „keep an-
betrifft, dagegen insofern weitergekommen sind, als wir zwar
unter allen Umständen das freundliche Gesicht verlangen, uns aber >
nicht mit der Maske begnügen, sondern alles daran setzen, damit
sich eine tatsächliche, eine echte, freundliche Stimmung im Gesicht
spiegelt." Nach der Meinung dieses Briefschreibers sollen die
Menschen nicht die Wirtschaft gestalten, sondern ihrerseits bis Zum
Grund von der Wirtschaft zurechtgemodelt werden. Eine unge
heuerliche Zumutung, die in der Tat weit über die der Amerikaner
hinausgeht, denen mit Recht das ob erstach enhafte „keep §rnilin§"
genügt. Sie Lescheidet sich nicht mit der Anpassung des Aeußeren
an die Aeußerlichkeit, sie möchte auch noch zur reibungsloseren
Abwicklung des Geschäftsverkehrs eine ganze Innenwelt errichten.
Schlimmer kann der Mensch nicht verdinglicht werden. Er müßte
sich aber gerade aus der Verdinglichung neu aufrichten, damit es
in Deutschland endlich wieder besser wird. S. Krakauer.