dem es aufblüht wie in einem Sumpf. Eben als Passage ist der
Durchgang zugleich auch der Ort, an dem sich wie kaum sonstwo
die Reise darstellen kann, die der Aufbruch aus dem Nahen zur
Ferne ist und Leib und Bild miteinander verbindet.
Unter den der Körperlichkeit gewidmeten Schaustellungen nimmt
das Anatomische Museum den Ehrenplatz in der Lindenpaffage ein.
Es ist eine Passagenmajestät, die inmitten der Kartuschen, Ranken
und Delphine ihr rechtmäßiges Reich aufgeschlagen hat. Da sämt
liche hinter die Front vertriebenen Gegenstände doch noch ein
bürgerliches Gewand tragen müssen, sind die Inschriften schein
heilig, die Zum Eintritt ermuntern. „Die Ausstellung ,Der Mensch'
dient der Hebung der Gesundheit," heißt eine von ihnen. Welche
Enthüllungen der Besucher im Innern harren, verrat ein Bild im
Schaufenster, auf dem ein befrackter Mediziner in Anwesenheit
zahlreicher Herrschaften^ die so altmodisch gekleidet sind wie er,
eine Bauchoperation an einer nackten Frauensperson vollführt. Die
Person war ehemals eine Dame. Ja es geht hier um den Bauch,
um die Eingeweide, um alles, was rein des Körpers ist. Seins
Wucherungen und Monstrositäten werden drinnen peinlich ver
folgt, und für die Erwachsenen grassieren außerdem sämtliche Ge
schlechtskrankheiten in einem Extrakabinett. Sie sind die Wirkung
unbesonnener Sinnlichkeit, die nahebei in einer Buchhandlung an-
gefacht wird. Während der Inflation war einmal in der Passage
einer deutschen Großstadt eine kommunistische Buchhandlung unter
gebracht, die sich aber dort nur kurze Zeit hielt; obwohl die Passage
der Vorkriegsneuzeit entstammte und mit ihren schmiedeeisernen
Sonnenblumen eher an eine ausgeschmückte Unterführung er
innerte. Ihre schwache Beziehung zu einer Passage genügte jedoch
schon, um die Propagandaliteratur herauszudrängen; denn die
Illegalität will zum Tag durchbrechen, während die Pornographie
im Zwielicht zu Hause ist. Die Buchhandlung in der Lindenpaffage
weiß, was sie ihrer Umgebung schuldet. Broschierte Werke, deren
Titel Gelüste wachrufen, die durch den Inhalt kaum gestillt werden
dürsten, sprießen in einer absichtlich harmlosen Buchvegetation, und
manchmal geht das Erlaubte mit dem Unerlaubten eine so kuriose
Verbindung ein wie in dem Buch von den Sexuell-Perversen, das
einen Kriminalkommissär Zum Verfasser hat. In der Nachbarschaft
der Körpertriebe gedeihen die Allotria, die Zahllosen kleinen Ob
jekte, die wir mitschleppen und um uns aufstellen; teils weil wir
sie gebrauchen, teils weil sie so unnütz sind. Sie wimmeln im Bazar
der Passage durcheinander: die Nagelzangen, die Scheren, die
Puderdosen, die Zigarettenanzünder, die ungarischen Handarbeits-
deckchen. Der Krimskrams tritt wie Ungeziefer in Massen auf und
erschreckt durch seinen Anspruch, immer bei uns zu sein. Das möchte
uns auffressen; das krabbelt durchs wurmstichige Gebäude, in dem
wir leben, und wenn eines Tages die Balken Zusammenkrachen,
wird es noch den Himmel verdunkeln. Auch Straßengeschäfte, die
unsere besseren leiblichen Bedürfnisse befriedigen, ziehen in die
Passage herein, um dem Anatomischen Museum ihre Huldigung
darzubringen. Da leuchten Pfeifen aus Bernstein und Meerschaum,
Oberhemden blenden wie eine ganze Abendgesellschaft, Jagdflinten
richten ihre Läufe nach oben, und am Ende des Durchgangs duftet
und winkt ein Friseurladen» Er plaudert im Halbdunkel seine Ver
wandtschaft mit dem Cafe aus, das im Kuppelraum liegt. Ihre Be
sucher wandern, und sei es auch nur durch die illustrierten
Zeitungen; entschweben mit dem Geraun; folgen ein Stück weit dem
Bilderzug, der hinter dem Zigarettendunst wallt. Die Parole heißt:
Fort!
Es ist ein sinnreicher Zufall, daß an den Linden zwei Reisebüros
den Eingang der Passage flankieren. Die Reisen, zu denen ihre
Schiffsmodelle und Plakathymnen verlocken, haben allerdings nichts
mehr mit den Fahrten gemein, die man einst in der Passage unter
nahm, und auch das moderne Koffergeschäft gehört nur an
näherungsweise in den Durchgang hinein. Seit der merklichen Ver
kleinerung der Erde hat sich das bürgerliche Dasein die Reise
genau so zunutze gemacht wie etwa die Boheme; es erhält sich da
durch, daß es derartige Ausschweifungen für seine eigenen Zwecke
beschlagnahmt und zu Zerstreuungen entwertet. Wieviel ferner und
vertrauter war die Fremde in der Zeit der Andenkenartikel! Mit
ihnen ist ein Passagengeschäft vollgestopft. Souvenir äs Verlin steht
auf Tellern und Krügen geschrieben, und das Flötenkonzert von
Sanssonci wird oft als Mitbringsel Diese Gedächtnis ¬
hilfen, die sich betasten lassen, diese echten Kopien ortsansässiger
Originale sind Leib vom Leibe Berlins und zweifellos besser dazu
geeignet, ihren Käufern die Kräfte der von ihnen vertilgten Stadt
mitzuteilen als die Lichtbilder, zu deren eigenhändiger Anfertigung
das Photographengeschäft einlädt. Die Photos wähnen die bereisten
Länder heimzubringen; das Welt-Panorama dagegen gaukelt die
ersehnten vor und entrückt erst recht die bekannten. Es thront in
Girr Film «ach ihrem Herze«.
Demonstrationen bei der Uraufführung.
Lr Berlin, 19. Dez. Bei der heutigen Uraufführung des
HugenLerg-Wms „Das Flötenkonzert von Sans-
souc i" kam es im Ufapalast am Zoo zu heftigen Demon st r a-
lr onen. Dank der im Saal verteilten Schupo konnte die Vor
stellung nach einigen Unterbrechungen im halbdunklen Raum zu
E.rde gebracht werden. Am Schluß jubelte der nationalsozialistische
Teil des Publikums vor Begeisterung über die Militär
märsche, die Soldaten und Otto Gebühr, rn dem es
Friedrich den Großen zu erblicken glaubte. Der Film ist stellen
weise gut inszeniert; im ganzen ein Gemisch ans Gartenlaube und
Parade. Wir kommen noch auf ihn zurück.
Die Lindenpaffage hat aufgehört zu bestehen. Das heißt,
sie bleibt der Form nach eine Passage zwischen der Friedrichst'raßs
und den Linden, aber sie ist doch keine Passage mehr. Als ich vor
kurzem wieder einmal in ihr lustwandelte wie so oft in den Stu
dentenjahren vor dem Krieg, war das Werk der Vernichtung schon
beinahe vollendet. Kalte glatte Marmorplatten verkleideten die
Pfeiler zwischen den Geschäften, und darüber wölbte sich bereits ein
modernes Glasdach, wie es deren Dutzende gibt. Nur an einigen
Stellen sah zum Glück noch die alte Renaissance-Architektur hervor,
jene fürchterlich-schöne Stilimitation unserer Väter und Groß
väter. Eine Lücke im neuen Glasdachgerippe erlaubte-den Durch
blick auf die Obergeschosse mit der endlosen Konsolenfolge unterm
Hauptgesims, den verkoppelten Rundfenstern, den Säulen, den
Balustraden und Medaillons auf den ganzen welken Bombast,
den jetzt kein Passant mehr genießen wird. Und ein Pfeiler, der
offenbar bis zuletzt aufgefpart werden sollte, trug unverhüllt sein
Backsteinrelief Zur Schau, eine Komposition aus Delphinen, Ranken-
werk und einer Maske in der Mlttelkartusche. Das alles sinkt nun
ins kühle Marmormassengrab.
Ich entsinne mich noch des Schauers, den mir in der Knaben
Zeit das Wort Durchgang einflößte. In den Büchern, die ich damals
verschlang, war der dunkle Durchgang gewöhnlich die Stätte mörde
rischer Ueberfälle, von denen hinterher eine Blutlache zeugte, oder
doch zum mindesten die paffende Umwelt zweifelhafter Existenzen,
die darin beisammen standen und ihre düsteren Pläne berieten.
Mochten die Knabenphantasien zu ausschweifend fein — etwas
von der Bedeutung, die sie den Durchgängen beimaßen, haftete
auch der einstigen Lindenpaffage an. Und nicht nur ihr, sondern
allen echten bürgerlichen Passagen. Es Art seine guten Gründe,
daß „Therese Raquin" im Hinteren Teil der Pariser „kassaZs äss
kauorLmos" spielt, der mittlerweile ebenfalls von der Betonlast
prächtiger Neubauten erdrückt worden ist. Die Zeit der Passagen
ist abgelaufen.
Ihre Eigentümlichkeit war, Durchgänge Zu sein, Gänge durchs
bürgerliche Leben, das vor ihren Mündungen und Wer ihnen
wohnte. Alles, was von ihm abgeschieden wurde, weil es nicht
repräsentationsfähig war oder gar der offiziellen Weltanschauung
Zuwiderlief, nistete sich in den Passagen ein. Sie beherbergten das
Ausgestoßene und Hineingestoßene, die Summe jener Dinge, die
nicht zum Fassadenschmuck taugten. Hier in den Passagen erlangten
-diese Passageren Gegenstände eine Art von Aufenthaltsrecht; wie
Zigeuner, die nicht in der Stadt, sondern nur an der Landstraße
lagern dürfen. Alan ging gleichsam unter Tag an ihnen vorbei,
Zwischen Straße und Straße. Noch ist die Lindenpaffage mit Läden
gefüllt, deren Auslagen solche Passagen inmitten der bourgeoissn
Lebenskomposition sind. Und zwar befriedigen sie vor allem die
körperliche Notdurft und die Gier nach Bildern, wie sie in Wach
träumen erscheinen. Beides: das ganz Nahe und das ganz Ferne
entweicht der bürgerlichen Öffentlichkeit, die es nicht duldet, und
Zieht sich gern ins heimliche Dämmer des^Durchganas zurück, in
Mchieb von der Lindenpaffage
Von S. Kracauer (Berlin).