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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.09/Klebemappe 1930 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

dem es aufblüht wie in einem Sumpf. Eben als Passage ist der 
Durchgang zugleich auch der Ort, an dem sich wie kaum sonstwo 
die Reise darstellen kann, die der Aufbruch aus dem Nahen zur 
Ferne ist und Leib und Bild miteinander verbindet. 
Unter den der Körperlichkeit gewidmeten Schaustellungen nimmt 
das Anatomische Museum den Ehrenplatz in der Lindenpaffage ein. 
Es ist eine Passagenmajestät, die inmitten der Kartuschen, Ranken 
und Delphine ihr rechtmäßiges Reich aufgeschlagen hat. Da sämt 
liche hinter die Front vertriebenen Gegenstände doch noch ein 
bürgerliches Gewand tragen müssen, sind die Inschriften schein 
heilig, die Zum Eintritt ermuntern. „Die Ausstellung ,Der Mensch' 
dient der Hebung der Gesundheit," heißt eine von ihnen. Welche 
Enthüllungen der Besucher im Innern harren, verrat ein Bild im 
Schaufenster, auf dem ein befrackter Mediziner in Anwesenheit 
zahlreicher Herrschaften^ die so altmodisch gekleidet sind wie er, 
eine Bauchoperation an einer nackten Frauensperson vollführt. Die 
Person war ehemals eine Dame. Ja es geht hier um den Bauch, 
um die Eingeweide, um alles, was rein des Körpers ist. Seins 
Wucherungen und Monstrositäten werden drinnen peinlich ver 
folgt, und für die Erwachsenen grassieren außerdem sämtliche Ge 
schlechtskrankheiten in einem Extrakabinett. Sie sind die Wirkung 
unbesonnener Sinnlichkeit, die nahebei in einer Buchhandlung an- 
gefacht wird. Während der Inflation war einmal in der Passage 
einer deutschen Großstadt eine kommunistische Buchhandlung unter 
gebracht, die sich aber dort nur kurze Zeit hielt; obwohl die Passage 
der Vorkriegsneuzeit entstammte und mit ihren schmiedeeisernen 
Sonnenblumen eher an eine ausgeschmückte Unterführung er 
innerte. Ihre schwache Beziehung zu einer Passage genügte jedoch 
schon, um die Propagandaliteratur herauszudrängen; denn die 
Illegalität will zum Tag durchbrechen, während die Pornographie 
im Zwielicht zu Hause ist. Die Buchhandlung in der Lindenpaffage 
weiß, was sie ihrer Umgebung schuldet. Broschierte Werke, deren 
Titel Gelüste wachrufen, die durch den Inhalt kaum gestillt werden 
dürsten, sprießen in einer absichtlich harmlosen Buchvegetation, und 
manchmal geht das Erlaubte mit dem Unerlaubten eine so kuriose 
Verbindung ein wie in dem Buch von den Sexuell-Perversen, das 
einen Kriminalkommissär Zum Verfasser hat. In der Nachbarschaft 
der Körpertriebe gedeihen die Allotria, die Zahllosen kleinen Ob 
jekte, die wir mitschleppen und um uns aufstellen; teils weil wir 
sie gebrauchen, teils weil sie so unnütz sind. Sie wimmeln im Bazar 
der Passage durcheinander: die Nagelzangen, die Scheren, die 
Puderdosen, die Zigarettenanzünder, die ungarischen Handarbeits- 
deckchen. Der Krimskrams tritt wie Ungeziefer in Massen auf und 
erschreckt durch seinen Anspruch, immer bei uns zu sein. Das möchte 
uns auffressen; das krabbelt durchs wurmstichige Gebäude, in dem 
wir leben, und wenn eines Tages die Balken Zusammenkrachen, 
wird es noch den Himmel verdunkeln. Auch Straßengeschäfte, die 
unsere besseren leiblichen Bedürfnisse befriedigen, ziehen in die 
Passage herein, um dem Anatomischen Museum ihre Huldigung 
darzubringen. Da leuchten Pfeifen aus Bernstein und Meerschaum, 
Oberhemden blenden wie eine ganze Abendgesellschaft, Jagdflinten 
richten ihre Läufe nach oben, und am Ende des Durchgangs duftet 
und winkt ein Friseurladen» Er plaudert im Halbdunkel seine Ver 
wandtschaft mit dem Cafe aus, das im Kuppelraum liegt. Ihre Be 
sucher wandern, und sei es auch nur durch die illustrierten 
Zeitungen; entschweben mit dem Geraun; folgen ein Stück weit dem 
Bilderzug, der hinter dem Zigarettendunst wallt. Die Parole heißt: 
Fort! 
Es ist ein sinnreicher Zufall, daß an den Linden zwei Reisebüros 
den Eingang der Passage flankieren. Die Reisen, zu denen ihre 
Schiffsmodelle und Plakathymnen verlocken, haben allerdings nichts 
mehr mit den Fahrten gemein, die man einst in der Passage unter 
nahm, und auch das moderne Koffergeschäft gehört nur an 
näherungsweise in den Durchgang hinein. Seit der merklichen Ver 
kleinerung der Erde hat sich das bürgerliche Dasein die Reise 
genau so zunutze gemacht wie etwa die Boheme; es erhält sich da 
durch, daß es derartige Ausschweifungen für seine eigenen Zwecke 
beschlagnahmt und zu Zerstreuungen entwertet. Wieviel ferner und 
vertrauter war die Fremde in der Zeit der Andenkenartikel! Mit 
ihnen ist ein Passagengeschäft vollgestopft. Souvenir äs Verlin steht 
auf Tellern und Krügen geschrieben, und das Flötenkonzert von 
Sanssonci wird oft als Mitbringsel Diese Gedächtnis ¬ 
hilfen, die sich betasten lassen, diese echten Kopien ortsansässiger 
Originale sind Leib vom Leibe Berlins und zweifellos besser dazu 
geeignet, ihren Käufern die Kräfte der von ihnen vertilgten Stadt 
mitzuteilen als die Lichtbilder, zu deren eigenhändiger Anfertigung 
das Photographengeschäft einlädt. Die Photos wähnen die bereisten 
Länder heimzubringen; das Welt-Panorama dagegen gaukelt die 
ersehnten vor und entrückt erst recht die bekannten. Es thront in 
Girr Film «ach ihrem Herze«. 
Demonstrationen bei der Uraufführung. 
Lr Berlin, 19. Dez. Bei der heutigen Uraufführung des 
HugenLerg-Wms „Das Flötenkonzert von Sans- 
souc i" kam es im Ufapalast am Zoo zu heftigen Demon st r a- 
lr onen. Dank der im Saal verteilten Schupo konnte die Vor 
stellung nach einigen Unterbrechungen im halbdunklen Raum zu 
E.rde gebracht werden. Am Schluß jubelte der nationalsozialistische 
Teil des Publikums vor Begeisterung über die Militär 
märsche, die Soldaten und Otto Gebühr, rn dem es 
Friedrich den Großen zu erblicken glaubte. Der Film ist stellen 
weise gut inszeniert; im ganzen ein Gemisch ans Gartenlaube und 
Parade. Wir kommen noch auf ihn zurück. 
Die Lindenpaffage hat aufgehört zu bestehen. Das heißt, 
sie bleibt der Form nach eine Passage zwischen der Friedrichst'raßs 
und den Linden, aber sie ist doch keine Passage mehr. Als ich vor 
kurzem wieder einmal in ihr lustwandelte wie so oft in den Stu 
dentenjahren vor dem Krieg, war das Werk der Vernichtung schon 
beinahe vollendet. Kalte glatte Marmorplatten verkleideten die 
Pfeiler zwischen den Geschäften, und darüber wölbte sich bereits ein 
modernes Glasdach, wie es deren Dutzende gibt. Nur an einigen 
Stellen sah zum Glück noch die alte Renaissance-Architektur hervor, 
jene fürchterlich-schöne Stilimitation unserer Väter und Groß 
väter. Eine Lücke im neuen Glasdachgerippe erlaubte-den Durch 
blick auf die Obergeschosse mit der endlosen Konsolenfolge unterm 
Hauptgesims, den verkoppelten Rundfenstern, den Säulen, den 
Balustraden und Medaillons auf den ganzen welken Bombast, 
den jetzt kein Passant mehr genießen wird. Und ein Pfeiler, der 
offenbar bis zuletzt aufgefpart werden sollte, trug unverhüllt sein 
Backsteinrelief Zur Schau, eine Komposition aus Delphinen, Ranken- 
werk und einer Maske in der Mlttelkartusche. Das alles sinkt nun 
ins kühle Marmormassengrab. 
Ich entsinne mich noch des Schauers, den mir in der Knaben 
Zeit das Wort Durchgang einflößte. In den Büchern, die ich damals 
verschlang, war der dunkle Durchgang gewöhnlich die Stätte mörde 
rischer Ueberfälle, von denen hinterher eine Blutlache zeugte, oder 
doch zum mindesten die paffende Umwelt zweifelhafter Existenzen, 
die darin beisammen standen und ihre düsteren Pläne berieten. 
Mochten die Knabenphantasien zu ausschweifend fein — etwas 
von der Bedeutung, die sie den Durchgängen beimaßen, haftete 
auch der einstigen Lindenpaffage an. Und nicht nur ihr, sondern 
allen echten bürgerlichen Passagen. Es Art seine guten Gründe, 
daß „Therese Raquin" im Hinteren Teil der Pariser „kassaZs äss 
kauorLmos" spielt, der mittlerweile ebenfalls von der Betonlast 
prächtiger Neubauten erdrückt worden ist. Die Zeit der Passagen 
ist abgelaufen. 
Ihre Eigentümlichkeit war, Durchgänge Zu sein, Gänge durchs 
bürgerliche Leben, das vor ihren Mündungen und Wer ihnen 
wohnte. Alles, was von ihm abgeschieden wurde, weil es nicht 
repräsentationsfähig war oder gar der offiziellen Weltanschauung 
Zuwiderlief, nistete sich in den Passagen ein. Sie beherbergten das 
Ausgestoßene und Hineingestoßene, die Summe jener Dinge, die 
nicht zum Fassadenschmuck taugten. Hier in den Passagen erlangten 
-diese Passageren Gegenstände eine Art von Aufenthaltsrecht; wie 
Zigeuner, die nicht in der Stadt, sondern nur an der Landstraße 
lagern dürfen. Alan ging gleichsam unter Tag an ihnen vorbei, 
Zwischen Straße und Straße. Noch ist die Lindenpaffage mit Läden 
gefüllt, deren Auslagen solche Passagen inmitten der bourgeoissn 
Lebenskomposition sind. Und zwar befriedigen sie vor allem die 
körperliche Notdurft und die Gier nach Bildern, wie sie in Wach 
träumen erscheinen. Beides: das ganz Nahe und das ganz Ferne 
entweicht der bürgerlichen Öffentlichkeit, die es nicht duldet, und 
Zieht sich gern ins heimliche Dämmer des^Durchganas zurück, in 
Mchieb von der Lindenpaffage 
Von S. Kracauer (Berlin).
	        
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