der Passage wie die Anatomie, und vom greifbaren Körper bis zur
ungreifbaren Ferne ist in der Tat nur ein winziger Sprung. Wann
immer ich als Kind das Welt-Panorama besuchte, das sich auch
damals in einer Passage verbarg, fühlte ich mich wie bei der Be
trachtung von Bilderbüchern in eine Weite versetzt, die schlechter
dings unwirklich war. Kaum könnte es anders sein: denn hinter
den Gucklöchern, die so nah wie Fensterrahmen sind, gleiten Städte
und Gebirge vorüber, die in der künstlichen Helle weniger Reise
zielen als Gesichten gleichen: Mexiko und Tirol, das im Panorama
selber zum zweiten Mexiko wird.
Beinahe sind diese Landschaften schon obdachlose Bilder, Illu
strationen passagersr Regungen, die hie und da einmal durch die
Rlsse im Bretterzaun schimmern, der uns umgibt. Ihresgleichen
müßte durch eine Zauberbrille sichtbar werden, und wunder nimmt
nur, daß der Optiker in der Passage keine feilbietet. Sein Glas
blatterwerk, das sich hart und rund an der Schaufensterwand hoch
rankt, scheint die Dinge jedenfalls nach den Begriffen richtig zu
stellen, die im Durchgang Gültigkeit haben. Für die in ihm ge
forderte Zersetzung aller trügerischen Bestände sorgt der Brief-
markenladen, in dem Köpfe, Architekturen, Wappentiere und exotische
Gegenden eng mit Ziffern und Namen zusammenkleben. (Richt
umsonst hat mein Freund Walter Benjamin, dessen Arbeiten seit
Jahren auf die „Pariser Passagen" hindiängen, dieses Bild der
Briefmarkenhandlung in seiner „Einbahnstraße" entdeckt.) Hier
wird die Welt solange gerüttelt und geschüttelt, bis sie zum Hand
gebrauch des Passanten dienen kann. Er, der durch sie geht, mag auch
in dem Lotteriegeschäft versuchen, ob das Glück, sein Begleiter, ihm
wohlgesinnt ist, oder es durch Spielkarten auf die Probe stellen.
Und wünscht er seinen Glanzpapiertröumen leibhaft gegenüber-
zutreten — im Ansichtskartenladen findet er sie vielfach und farbig
verwirklicht.^ Blumenarrangements begrüßen ihn in sinniger
Sprache, Hündchen laufen ihm treuherzig zu, das Studentenleben
prangt herrlich und trunken, und die Nacktheit rosiger Frauen-
körper taucht ihn in Lust. Um den Hals und die Arme der üppigen
Schönen schmiegen sich wie von selber die Similiketten nebenan,
und ein veralteter Schlager aus der Musikalienhandlung beflügelt
den Passagenwanderer inmitten seiner gefundenen Illusionen.
Was dre Gegenstände der Lindenpassage einte und ihnen allen
dieselbe Funktion zuerteilte, war ihre Zurücknahme von der bürger
lichen Front. Begierden, geographische Ausschreitungen und viele
Bilder, die aus dem Schlaf rissen, durften sich dort nicht blicken
lassen, wo es hoch herging in den Domen und den Universitäten,
bei Festreden und Paraden. Man exekutierte sie, wenn es möglich
war, und konnten sie nicht ganz zerstört werden, so wies man sie
doch aus und verbannte sie ins innere Sibirien der Passage. Hier
aber rächten sie sich am bürgerlichen Idealismus, der sis unter
drückte, indem sie ihre geschändet- Existenz gegen seine angemaßte
ausspielten. Erniedrigt, wie sie waren, gelang es ihnen, sich zu-
sammenzuscharsn und im Dämmerlicht des Durchgangs eine wirk
same Protestaktion gegen die Fassadenkultur draußen zu verun
stalten. Sie stellten den Idealismus bloß und entlarvten seine Pro
dukte als Kitsch. Rundbogenfenster, Kranzgesims und Baluster
reihen — die Renaissancepracht, die sich so überlegen gebärdet-,
wurde in der Passage geprüft und verworfen. Während man noch
durch sie hindurchging, also die Bewegung ausführts,-die uns allein
gemäß ist, durchschaute man sie schon, und ihre GroApurigkeit trat
unverhüllt an den Tag der Passage. Nicht minder litt das Ansehen
der höheren und höchsten Herrschaften, deren garantiert ähnliche
. Porträts hinter den Schaufenstern des Hofmalers Fischer standen
und hingen. Die Damen des kaiserlichen Hofes lächelten so huld
voll, daß die Huld ranzig schmeckte wie ihr Gemälde in Oel. Und
die vielgepriesene Innerlichkeit, die hinter den Renaiffancesassaden
ihr Unwesen trieb, wurde durch Beleuchtungskörper Lügen gestraft,
die das Inwendige in Gestalt roter und gelber Rosen schrecklich
beschienen. So übte der Durchgang durch die bürgerliche Welt an
ihr eine Kritik, die jeder rechts Passant begriff. (Er, der ein
Vagabundierender ist, wird sich dereinst mit dem Menschen der ver
änderten Gesellschaft zusammenfindsn.)
Dies: daß die Lindenpassage eine Dassinsform desavouierte,
der sie noch angehörte, verlieh ihr die Macht, von der Vergänglich
keit zu zeugen. Sie war das Werk einer Zeit, die mit ihm zugleich
einen Vorboten ihres Endes schuf. Früher als anderswo löste sich'
in der Passage, eben weil sie Passage war, das gerade Hervor
gebrachte von den Lebenden ab und ging warm in den Tod ein
(daher auch die Passage der Sitz von Cäsiums Panoptikum war).
Was wir geerbt hatten und ungebrochen unser eigen nannten —
im Durchgang war es wie in einem Schauhaus ausgestellt und
zeigte die erloschene Fratze. Wir selber begegneten uns als Gestor
bene in dieser Passage wieder. Aber wir entrissen ihr auch das uns
heute und immer Gehörige, das dort verkannt und entstellt funkelte.
Jetzt, unterm neuen Glasdach und im Marmorschmuck, gemahnt
die ehemalige Passage an das Vestibül eines Kaufhauses. Die
Läden dauern zwar fort, aber ihre Ansichtskarten sind Stapelware,
ihr Weltpanorama ist durch den Film überholt und ihr anatomisches
Museum längst keine Sensation mehr. Alle Gegenstände sind mit
Stummheit geschlagen. Scheu drängen sie sich hinter der leeren
Architektur zusammen, die sich einstweilen völlig neutral verhält
und später einmal wer weiß was ausbrüten wird vielleicht den
Fascismus oder auch gar nichts. Was sollte noch eine Passage in
einer Gesellschaft, die selber nur eine Passage ist?
Der öHuöelte knäeriems Rsx.
Berlin, im Dezember.
Seit der Remarque-Film den Krieg verloren hat, werden die
Filmausführungen mehr und mehr zu politischen Aktionen, Es
gibt natürlich auch Filme, die nichts mit Politik zu tun haben
und daher ohne Polizeiaufgebot ablaufen könnem Aber sie beschäf
tigen sich dann entweder wie der Film: „Boykott" mit dem über
reizten Ehrgefühl von Oberprimanern, einem Thema, das in der
Wildenbruchzeit dringlich war; oder sie bemühen sich wie die Ufa
komödie: »Einbrecher" blöd Zu sein und Zugleich heiter. Dieses
Lustspiel, in dem die unvergessene Margarethe Koeppke aus dem
Totenreich zurückgekehrt zu sein scheint, entfesselte übrigens wahre
Stürme der Begeisterung. Warum, ist wir unerfindlich, denn der
Ufahumor, der sich darin breit machte, stimmt mich seiner grob
schlächtigen Albernheit wegen eher traurig. Ich bin zur Annahme
gezwungen, -daß das Berliner Publikum ihn als Gegengift be
nötigt, als eine Art von Nervensanatorium, in dem es sich von den
Aufregungen der Politik erholen kann. Tatsächlich ist es ja heute
kaum noch an einem Orte vor Tumulten sicher; obwohl schon
allerorten Christbäume, Weihnachtsmärkte und Zeitungsartikel das
Nahen des Friedensfestes verkünden. Und glaubt es einmal seine
Ruhe zu haben, so kommt gleich die chinesische Regierung daher
und beschwert sich bei der deutschen über den Revolutionsfilm:
„Der blaue Expreß", der bis jetzt ungeschoren geblieben war. Das
Auswärtige Amt wird in der Sache vermitteln.
Welche Kinopolitik einstweilen Sieg um Sieg erringt, verrät
das Verhalten der Filmoberprüfstelle. Sie, die den Remarque-Film
vollends erledigte, hat mittlerweile nicht nur den Stahlhelm-Film
freigegeben, sondern auch mit knapper Mehrheit Hugenbergs neues
Fridericus-Produkt zugelassen. „Das F l ö t e n k o n Z e r. t von
Sanssouei", so lautet der musische Titel dieses kriegerischen
Ereignisses, das im Ufa-Palast am Zoo unter lärmenden Demon
strationen das Licht der Welt erblickte. Daß die Schwergeömrt
überhaupt vonstatten ging, war nur der Anwesenheit der Schupo
zu danken, die gewissermaßen als Hebamme fungierte. Ihre
Gegenwart bei allen möglichen Gelegenheiten ist fast unerläßlich
geworden, und ich könnte mir eigentlich keinen Umsturz mehr
denken, der sich nicht unter ihrer Aufsicht vollzöge.
Wer den Film gesehen hat, wirb die Kundgebungen begreifen,
die sich Lei seiner Uraufführung entwickeltem. Es LestHt für mich
kein Zweifel daran, daß Hugenbergs Ufa ihn mit Rücksicht auf die
nationalistischen Instinkte fabriziert hat. Geschäft ist Geschäft,
und der Nationalismus ist zur Zeit nicht das schlechteste. Den
spekulativen Absichten entspricht durchaus, daß dieses Flöten-
konzert mit Geschick getätigt worden ist. Der Regisseur Ucicky hat
eine vorzügliche Exposition geschaffen; Photographie, Montage
und Ton find stellenweise musterhaft; das Ensemble setzt sich aus
guter?. Kräften Zusammen, die ihre Schuldigkeit tun wie fride-
rizianische Soldaten. Der Inhalt allerdings verdirbt sämtliche
Effekte. Welche Quellen immer der Manuskriptverfaffer studierte,
den Hegeumnn hat er bestimmt nicht gelesen. Er stellt einen Fried
rich auf die Beine, wie ihn sich die männlichen und weiblichen
Backfische erträumen: einen Monarchen aus der Gartenlaube, der
mit der Wirklichkeit nichts gemein hat. Dieser König macht seine
Augen nur groß- um gütig drein Zu blicken; hält ivahrhaftig der
jungen Frau seines Majors eine KanZelrede über die Tugenden
und Pflichten eines rechtschaffenen Eheweibs; entscheidet sich
für den Siebenjährigen Krieg auf eine Manier, wie sie irgendeinem
Heros der Schullesebücher ansteht, aber nicht ihm, dem König»
Nach den hingeflöteten Lieblichkeiten, die von der Ufa Leise durch
unser Gemüt gezogen werden, folgt dann mit Pauken und Trom
peten die große Schlußapotheose, die ein einziger unerträglicher
Bombast ist, Otto Gebühr, dessen Stimme mehr m den Damen-
salon als zu Männergesprächen und Pulverdampf paßt, hält
Parade ab über die kostümierte Statisterie. Der Hohenfriedberger
ertönt und die Sonne funkelt — eine schauerliche Farce. Und
das wagt man uns zu bieten, die wir wissen, wie es weiter geht,
die wir den Krieg verloren haben, dessen Wirklichkeit der
Remarque-Film uns zeigte.
Nicht so empfanden die Demonstranten bei diesem Gemisch aus
Gartenlaube und Parade, Volk und Sentimentalität. Der Spek-