Skip to main content

Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

offenbar aus einer gewissen 
zu schließen gestattet. Nur 
daß sie das Buch preisen- 
^2/- 'S 
Entfremdung „dem" Buch gegenüber 
Leser, die keine sind, glauben damit, 
schon beinahe gelesen zu haben... 
? - ' . - ' / ' rjr ' . 
Bezeichnend genug, daß der Aufruf, 
^6, zs 
Schanchaftigkeift.h einzige Merkmal verschweigt, das 
sämtlichen Büchern anhaKt und daZst berechtigt, von dem Buch 
Zu reden, statt von verschiedenen Büchern. Realität besitzt das 
Buch als Ware. Es wird produziert und konsumiert, es ist ein 
Zum Hag des Muches. 
Auch in diesem Jahr wird der „Tag des Buches" er 
schreckend zeremoniell begangen. Er nennt sich: „Frau und 
B u ch" und findet unter Mitwirkung von nicht weniger als 1Z5 
Verbänden statt, deren Namen alle in dem offiziellen Aufruf alpha-. 
beLLsch hintereinander prangen. Das Protektorat hat Reichsminister 
Dr. Wirth übernommem Es können auch mehr Verbände sein, ich 
habe nur oberflächlich gezählt. Der „Allgemeine Deutsche Hebmm 
menverband", der „ReichsverLand der Säuglings- und Kleinkin- 
derschwestern", der „DeuLsche Landgemeindetag" lauter brave, 
würdige Vereinigungen, die sich auf einmal stark für das Buch 
interessieren, weil es jetzt seinen Ehrentag hat. Sie sind, dem Auf 
ruf zufolge, „durchdrungen von der hohen Aufgabe der Frauen als 
Mittlerinnen Zwischen Buch und Volk", wünschen, daß die Frauen 
„tu Geschlossenheit allerorts. . . sich zusammensinde^ 
überdies „auf die lebendige Mitarbeit aller Volkskreise". Am 
22. März werden sie sämtlich verbandsweise antreten und dem Buch 
ihre Glückwünsche darbringen^M werden an diesem 
feierlichen Tag die „Erziehung zum Buch" betreiben, und zahllose 
andere Veranstaltungen die Bedeutung des Geburtstagskindes auf 
ihre Art unterstreichen. Kurzum, der ganze, lange Tag wird mit 
Büchern aus gefüllt fein. Die Frage ist nur, wie ihnen selber das 
Fest bekommt. Ihrer manche werden es zweifellos schwer Haben, 
zugleich den „KaiserswerLher Verband deutscher Diakonissen^ 
Häuser" und die „Spitzenorganisation der Deutschen Filmindustrie" 
zu befriedigen,, und ich Möchte einigen meiner besonderen Lieblinge 
nicht anraten, sich ein dem „Evangelischen Reichselternbund" 
oder dem „Deutschen Reichsausschuß für LeibesüLungen" allzu 
heftig Lufzudrängen. Mehr Aussichten werden sie vielleW 
^Mund für angewandte und freie Bewegung" haben. 
* 
Mögen 135 Verbände eine Realität' darstellen: das Buch als 
solches ist, wie schon diese harmlosen Komplikation^ 
Phantom - (vorausgesetzt/dM -nicht in einer- Well von 
Schulkindern oder Analphabeten befinden). Zur UnwirklichkM 
verflüchtigt es sich vollends? dann,, wenn es um sogenannter idealer 
Zwecks willen propagiert werden soll. Auf den Widersinn, der 
darinsteck/ daß. man für das Buch , im allgemeinen . E 
demselben Atemzug eine. KulLuM Zu vollbringen, meinl,. ha^ 
wir bei Gelegenheit des ersten Buchtages vor mehreren Jahren 
iu einem Aufsatz hingewiesen, dem sich kein Wort weiter hinzu ¬ 
fügen laßt. Es gibt angesichts der „Kultur" gar nicht das Buch; 
ss gibt gyLe Bücher und schlechte oder nützliche und schädliche, und 
die- „Formkräste deutscher Kultur", die in der wiederholt zitierten 
offiziellen Kundgebung ausdrücklich angesprochen werden, stehen nur 
dort auf dem Spiel, wo man vornherein'jene B 
Zu sondern gewillt ist. Gewiß, wenn alle Volksgenossen am Tag 
des Buches erfaßt werden sollen, verbietet sich.eine Auswahl der 
Zu verabreichenden Güter, die wirklich maßgebend wäre,« 
minder wie beim Rundfunk, der ja auch neutral bleiben muß. 
Diese Neutralität, die Angst davor hat, irgendwo anZusLoßen,?M 
aber notwendig mit einer Verarmung an bestimmten Inhalten 
verbunden. Und führt, sie zum Begriff des Buches schlechthin, 
ist es jedenfalls unmöglich, einem solchen entleerten Begriff hinter 
her noch alle- erdenklichen Bedeutungen aufzuhälsen. Unmöglich, 
gerade in einem Volk wie dem deutschen, das heute über ver 
schwindend wenige Gemeinsamkeiten verfügt und in vielerlei Par 
teien und Weltanschauungsgruppen zärfallen ist. Was die einen zü 
ihrer geistigen Nahrung benötigen, wird von den andern verschmäht, 
und jene Werke, in denen alle sich treffen, -sind erfahrungsgemäß 
nicht eben die Träger der wirklich entscheidenden Gehalte. Mir 
scheint, daß das idealistische Pathos, mit dem der „Tag des 
Buches" in Szene gesetzt wird, nicht so sehr eine engere Beziehung 
Zu den „Formkräften deutscher Kultur" verrät, als auf eine tiefe 
GhapNn kommt ant 
BerLLrr, 9-, März ¬ 
. HM fünf Bahnhof Friedrichstraße: der Bahnhof ist 
nicht belebter als sonst um diese Zeit und macht überhaupt gar 
kein Aufhebens von sich. Das ist verdächtig. Ich verlange am 
Schalter eins Bahnsteigkarte, und in der Tat, mein Verdacht be 
stätigt sich schon. „Die Ausgabe von Bahnsteigkarten ist gesperrt/ 
erwidert der diensttuende Beamte und schickt mich zum Bahnhofs 
Vorstand, der mir erst nach strenger Prüfung verschiedener wichtiger 
Ausweise das Betreten des Bahnsteiges gestattet. Wenn der Chaplin 
der Filme in dem Büro, erschienen wäre, er hätte bestimmt nicht 
Zu seinem eigenen Empfang gedurft. 
Noch ist der Bahnsteig leer. Ein Zug läuft ein, der nach Schneide- 
müU weiterfahren muß, ganz traurig wird einem dabei zumute. Es 
- folgt ein stattliches Aufgebot von BahnpoWsten, die einstweilen 
müßig herumstehen. Manchmal treten sie an, und ich stelle mir vor, 
Wie geschickt Chaplin sie überlistet hätte, Unmerklich 
?st inzwischen aus den paar vereinzelten Personen eine richtige 
Menschenmenge geworden. Zu den Bevorzugten gehören in der 
Hauptsache Leute vom Film und Pressevertreter. Man tauscht Be 
grüßungen aus, nimmt zur Kenntnis, daß man wieder einmal ganz 
unter sich ist, und schlendert von Gruppe Zu Gruppe. Es ist kalt, 
bitter kalt, und einige Skeptiker meinen sogar, daß Chaplin schon 
am Bahnhof Zoo aussteigen werde, um sich dem Begeisterungs 
taumel zu entziehen. Auch zwei Herren vom evangelischen Bahn 
hofsdienst sind zugegen. 
Kurz vor der fahrplanmäßigen Ankunft ist der Fernbahnsteig so 
dicht besetzt, daß sich niemand mehr frei bewegen kann. Nicht nur 
der eine Bahnsteig: auch die andern sind mit Menschenmassen über- 
sät. Nicht nur alle Bahnsteige, sondern ebenso die Zugänge und die 
BorrLume im Erdgeschoß. An die Gitter gepreßt, harren sie dort 
unten: Mutier mit ihren Kindern, Arbeiter, junge Burschen und 
Mädchen. Der ganze Bahnhof ist lebendig geworden, es rieselt in 
ihm von Menschen. Aus ihrem Alltag herausgehoben, sind sie für 
eine halbe Stunde nur eines: Erwartung. Erwartung auf den, der 
ihnen vertrauter als kaum ein anderer Mensch ist, weil er sonst 
nichts ist als Mensch. 
Dann kommt der Zug; wie alle Wunder Zu früh. Zwei Minuten 
vor der Zeit bohrt sich die mächtige Lokomotive langsam in die 
Halle hinein. Bor dem Speisewagen der rote Wagen: in diesem 
Wagen nur kann er sein. Die Menge lockert sich, um sich sofort 
wieder und dem roten Wagen sntgegenzustür- 
msm Gedränge, Stöße, Schupo, ein einziger Aufruhr -und jetzt: 
Chaplin steig tau s. 
„Charlie!", „Hoch, Chaplin!", Lrausts durch die Halle. Das also 
ist er. Ich habe unverhofftes Glück gehabt, ich stehe ganz bei ihm- 
Dss also ist. er «iß deMAvauen^HsM^der 
ohne Hut aus dem Magen-hsMUstritt uMMcht.- M 
von Photographien habe ich ihn gesehen, und dennoch setze ich ihn 
in diesem Augenblick zum ersten Mal. Er lacht mit offenesM 
und was ich nach den Abbildungen nie begriffen habe, wird mir 
mit .einem .Schlag - klar: -daß der- wirkliche. Chaplin - genau- übeMN- 
stimmt mit dem Vagabunden im Film. Das ist das Lachen, das 
ich aus dem ZirkusfiLm kenne, dieses aufgelöste Gluckslachen des 
Hilflosen, der wider jede Rege! einmal das große Los zieht. Zwei 
Begleiter rechts und links haben ihn unterlaßt wie ein kost 
bares zerbrechliches Gut, und Schutzleute suchen ihm einen Weg Zu 
ebnen, wo doch gar keiner ist, riesige Männer, vor denen er Angst 
hatte, wenn er ihnen auf der Landstraße begegnete. Das kurze 
Stück bis Zur Treppe dehnt sich unendlich. Zwischen Hüten und 
Helmen erscheint mitunter wehrlos und wie verloren das Zarte 
Gesicht. Und immer noch lacht er- . 
Er geht, von der Schupo behütet, die Treppe hinunter, dem 
Ausgang Zu. Mitten in das grelle Licht der Jupiterlampen hinein, 
hinter denen eine Menschenmauer ihn auffängt. Das V o! k v o n 
B e r l i n empfängt ihn dort draußen, das Volk ohne Unterschied 
der Klasse, des Standes, der Religion. Sie füllen den Bährchofs- 
platz, so lang und breit er ist, durchbrechen die Absperrung, über 
fluten das Auto und. rufen jubelnd den Namen, der, ihrrep. teuer 
ist und ein Versprechen des Glücks. Langst schon sehe ich ihn nicht 
mehr, sondern werde im Menschengewoge vor- und zurückgetriebem 
Aber ich kann mir denken,, wie er sich, zaghaft beinahe, zu seinem 
Wagen durchkampft und lacht, mit offenem Munde lacht. Und so 
fest ich davon überzeugt bin, daß er jetzt sehr, sehr glücklich ist, 
für nicht minder gewiß halte ich, daß die Frau neben mir recht 
hat, die auf einmal schreit: 
„Er hat doch Angst! Man sieht ja, daß er Angst hat!"
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.