offenbar aus einer gewissen
zu schließen gestattet. Nur
daß sie das Buch preisen-
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Entfremdung „dem" Buch gegenüber
Leser, die keine sind, glauben damit,
schon beinahe gelesen zu haben...
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Bezeichnend genug, daß der Aufruf,
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Schanchaftigkeift.h einzige Merkmal verschweigt, das
sämtlichen Büchern anhaKt und daZst berechtigt, von dem Buch
Zu reden, statt von verschiedenen Büchern. Realität besitzt das
Buch als Ware. Es wird produziert und konsumiert, es ist ein
Zum Hag des Muches.
Auch in diesem Jahr wird der „Tag des Buches" er
schreckend zeremoniell begangen. Er nennt sich: „Frau und
B u ch" und findet unter Mitwirkung von nicht weniger als 1Z5
Verbänden statt, deren Namen alle in dem offiziellen Aufruf alpha-.
beLLsch hintereinander prangen. Das Protektorat hat Reichsminister
Dr. Wirth übernommem Es können auch mehr Verbände sein, ich
habe nur oberflächlich gezählt. Der „Allgemeine Deutsche Hebmm
menverband", der „ReichsverLand der Säuglings- und Kleinkin-
derschwestern", der „DeuLsche Landgemeindetag" lauter brave,
würdige Vereinigungen, die sich auf einmal stark für das Buch
interessieren, weil es jetzt seinen Ehrentag hat. Sie sind, dem Auf
ruf zufolge, „durchdrungen von der hohen Aufgabe der Frauen als
Mittlerinnen Zwischen Buch und Volk", wünschen, daß die Frauen
„tu Geschlossenheit allerorts. . . sich zusammensinde^
überdies „auf die lebendige Mitarbeit aller Volkskreise". Am
22. März werden sie sämtlich verbandsweise antreten und dem Buch
ihre Glückwünsche darbringen^M werden an diesem
feierlichen Tag die „Erziehung zum Buch" betreiben, und zahllose
andere Veranstaltungen die Bedeutung des Geburtstagskindes auf
ihre Art unterstreichen. Kurzum, der ganze, lange Tag wird mit
Büchern aus gefüllt fein. Die Frage ist nur, wie ihnen selber das
Fest bekommt. Ihrer manche werden es zweifellos schwer Haben,
zugleich den „KaiserswerLher Verband deutscher Diakonissen^
Häuser" und die „Spitzenorganisation der Deutschen Filmindustrie"
zu befriedigen,, und ich Möchte einigen meiner besonderen Lieblinge
nicht anraten, sich ein dem „Evangelischen Reichselternbund"
oder dem „Deutschen Reichsausschuß für LeibesüLungen" allzu
heftig Lufzudrängen. Mehr Aussichten werden sie vielleW
^Mund für angewandte und freie Bewegung" haben.
*
Mögen 135 Verbände eine Realität' darstellen: das Buch als
solches ist, wie schon diese harmlosen Komplikation^
Phantom - (vorausgesetzt/dM -nicht in einer- Well von
Schulkindern oder Analphabeten befinden). Zur UnwirklichkM
verflüchtigt es sich vollends? dann,, wenn es um sogenannter idealer
Zwecks willen propagiert werden soll. Auf den Widersinn, der
darinsteck/ daß. man für das Buch , im allgemeinen . E
demselben Atemzug eine. KulLuM Zu vollbringen, meinl,. ha^
wir bei Gelegenheit des ersten Buchtages vor mehreren Jahren
iu einem Aufsatz hingewiesen, dem sich kein Wort weiter hinzu ¬
fügen laßt. Es gibt angesichts der „Kultur" gar nicht das Buch;
ss gibt gyLe Bücher und schlechte oder nützliche und schädliche, und
die- „Formkräste deutscher Kultur", die in der wiederholt zitierten
offiziellen Kundgebung ausdrücklich angesprochen werden, stehen nur
dort auf dem Spiel, wo man vornherein'jene B
Zu sondern gewillt ist. Gewiß, wenn alle Volksgenossen am Tag
des Buches erfaßt werden sollen, verbietet sich.eine Auswahl der
Zu verabreichenden Güter, die wirklich maßgebend wäre,«
minder wie beim Rundfunk, der ja auch neutral bleiben muß.
Diese Neutralität, die Angst davor hat, irgendwo anZusLoßen,?M
aber notwendig mit einer Verarmung an bestimmten Inhalten
verbunden. Und führt, sie zum Begriff des Buches schlechthin,
ist es jedenfalls unmöglich, einem solchen entleerten Begriff hinter
her noch alle- erdenklichen Bedeutungen aufzuhälsen. Unmöglich,
gerade in einem Volk wie dem deutschen, das heute über ver
schwindend wenige Gemeinsamkeiten verfügt und in vielerlei Par
teien und Weltanschauungsgruppen zärfallen ist. Was die einen zü
ihrer geistigen Nahrung benötigen, wird von den andern verschmäht,
und jene Werke, in denen alle sich treffen, -sind erfahrungsgemäß
nicht eben die Träger der wirklich entscheidenden Gehalte. Mir
scheint, daß das idealistische Pathos, mit dem der „Tag des
Buches" in Szene gesetzt wird, nicht so sehr eine engere Beziehung
Zu den „Formkräften deutscher Kultur" verrät, als auf eine tiefe
GhapNn kommt ant
BerLLrr, 9-, März ¬
. HM fünf Bahnhof Friedrichstraße: der Bahnhof ist
nicht belebter als sonst um diese Zeit und macht überhaupt gar
kein Aufhebens von sich. Das ist verdächtig. Ich verlange am
Schalter eins Bahnsteigkarte, und in der Tat, mein Verdacht be
stätigt sich schon. „Die Ausgabe von Bahnsteigkarten ist gesperrt/
erwidert der diensttuende Beamte und schickt mich zum Bahnhofs
Vorstand, der mir erst nach strenger Prüfung verschiedener wichtiger
Ausweise das Betreten des Bahnsteiges gestattet. Wenn der Chaplin
der Filme in dem Büro, erschienen wäre, er hätte bestimmt nicht
Zu seinem eigenen Empfang gedurft.
Noch ist der Bahnsteig leer. Ein Zug läuft ein, der nach Schneide-
müU weiterfahren muß, ganz traurig wird einem dabei zumute. Es
- folgt ein stattliches Aufgebot von BahnpoWsten, die einstweilen
müßig herumstehen. Manchmal treten sie an, und ich stelle mir vor,
Wie geschickt Chaplin sie überlistet hätte, Unmerklich
?st inzwischen aus den paar vereinzelten Personen eine richtige
Menschenmenge geworden. Zu den Bevorzugten gehören in der
Hauptsache Leute vom Film und Pressevertreter. Man tauscht Be
grüßungen aus, nimmt zur Kenntnis, daß man wieder einmal ganz
unter sich ist, und schlendert von Gruppe Zu Gruppe. Es ist kalt,
bitter kalt, und einige Skeptiker meinen sogar, daß Chaplin schon
am Bahnhof Zoo aussteigen werde, um sich dem Begeisterungs
taumel zu entziehen. Auch zwei Herren vom evangelischen Bahn
hofsdienst sind zugegen.
Kurz vor der fahrplanmäßigen Ankunft ist der Fernbahnsteig so
dicht besetzt, daß sich niemand mehr frei bewegen kann. Nicht nur
der eine Bahnsteig: auch die andern sind mit Menschenmassen über-
sät. Nicht nur alle Bahnsteige, sondern ebenso die Zugänge und die
BorrLume im Erdgeschoß. An die Gitter gepreßt, harren sie dort
unten: Mutier mit ihren Kindern, Arbeiter, junge Burschen und
Mädchen. Der ganze Bahnhof ist lebendig geworden, es rieselt in
ihm von Menschen. Aus ihrem Alltag herausgehoben, sind sie für
eine halbe Stunde nur eines: Erwartung. Erwartung auf den, der
ihnen vertrauter als kaum ein anderer Mensch ist, weil er sonst
nichts ist als Mensch.
Dann kommt der Zug; wie alle Wunder Zu früh. Zwei Minuten
vor der Zeit bohrt sich die mächtige Lokomotive langsam in die
Halle hinein. Bor dem Speisewagen der rote Wagen: in diesem
Wagen nur kann er sein. Die Menge lockert sich, um sich sofort
wieder und dem roten Wagen sntgegenzustür-
msm Gedränge, Stöße, Schupo, ein einziger Aufruhr -und jetzt:
Chaplin steig tau s.
„Charlie!", „Hoch, Chaplin!", Lrausts durch die Halle. Das also
ist er. Ich habe unverhofftes Glück gehabt, ich stehe ganz bei ihm-
Dss also ist. er «iß deMAvauen^HsM^der
ohne Hut aus dem Magen-hsMUstritt uMMcht.- M
von Photographien habe ich ihn gesehen, und dennoch setze ich ihn
in diesem Augenblick zum ersten Mal. Er lacht mit offenesM
und was ich nach den Abbildungen nie begriffen habe, wird mir
mit .einem .Schlag - klar: -daß der- wirkliche. Chaplin - genau- übeMN-
stimmt mit dem Vagabunden im Film. Das ist das Lachen, das
ich aus dem ZirkusfiLm kenne, dieses aufgelöste Gluckslachen des
Hilflosen, der wider jede Rege! einmal das große Los zieht. Zwei
Begleiter rechts und links haben ihn unterlaßt wie ein kost
bares zerbrechliches Gut, und Schutzleute suchen ihm einen Weg Zu
ebnen, wo doch gar keiner ist, riesige Männer, vor denen er Angst
hatte, wenn er ihnen auf der Landstraße begegnete. Das kurze
Stück bis Zur Treppe dehnt sich unendlich. Zwischen Hüten und
Helmen erscheint mitunter wehrlos und wie verloren das Zarte
Gesicht. Und immer noch lacht er- .
Er geht, von der Schupo behütet, die Treppe hinunter, dem
Ausgang Zu. Mitten in das grelle Licht der Jupiterlampen hinein,
hinter denen eine Menschenmauer ihn auffängt. Das V o! k v o n
B e r l i n empfängt ihn dort draußen, das Volk ohne Unterschied
der Klasse, des Standes, der Religion. Sie füllen den Bährchofs-
platz, so lang und breit er ist, durchbrechen die Absperrung, über
fluten das Auto und. rufen jubelnd den Namen, der, ihrrep. teuer
ist und ein Versprechen des Glücks. Langst schon sehe ich ihn nicht
mehr, sondern werde im Menschengewoge vor- und zurückgetriebem
Aber ich kann mir denken,, wie er sich, zaghaft beinahe, zu seinem
Wagen durchkampft und lacht, mit offenem Munde lacht. Und so
fest ich davon überzeugt bin, daß er jetzt sehr, sehr glücklich ist,
für nicht minder gewiß halte ich, daß die Frau neben mir recht
hat, die auf einmal schreit:
„Er hat doch Angst! Man sieht ja, daß er Angst hat!"