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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Preisgabe ich, nebenbei bemerkt, keineswegs die moralische Absicht 
verbinde, das Lob der Bescheidenheit zu verkünden. 
Die Zerstörungssucht/chie zur Zeit so gang und gäbe ist, daß 
sie für Reklamezwecke ausgebeutet werden kann, vertragt sich 
Merkwürdig gut mit einem geradezu kolonialen Aufbauwillen. Ge 
bietet diese großartige Stadt über Versührungskünste, so gewiß 
nicht über die, die sie selber für Verführungen halt. Aber sie übt 
andere aus, die sehr wirksam sind, und einer ihrer Hauptreize'be- 
steht zweifellos darin, daß sie jenseits ihrer Großspurigkeit und 
je^es Phrasenschwalls mit stummer Verbissenheit um ein ge 
räumiges Dasein ringt. Für Melancholie ist Berlin ein schlechtes 
Pflaster. 
Den Lebensmut der Stadt bezeugt der Alexanderplatz 
auf drastische Weise. Im Zusammenhang mit der vor kurzem er 
folgten Eröffnung der Strecke nach Friedrichsfelde ist nun auch 
sein dritter Untergrundbahnhof dem Verkehr übergeben worden^ 
Das Gesamtbild dieser Anlagen muß jeden überwältigen, der noch 
Kind genug ist, um sich an Schienen, Bahnen und hübschen tech 
nischen Tricks zu erfreuen. Die drei Bahnhöfe, die über- und 
nebeneinander liegen, bilden etwa ein geheimnisvolles Ge- 
winkel, sondern wirken gewissermaßen wie ein blitzblankes Mo 
dell ihrer selbst, ein Modell, das von einem Liebhaber in Stun 
den der Muße mit allen möglichen Schikanen für die Enkel an 
gefertigt worden ist. Rolltreppen, die man immerzu hinauf und 
hinabfahren möchte,. verbinden die verschiedenen Geschosse mit 
einander, gewöhnliche Treppen nehmen die Passanten auf, die 
wider Erwarten nicht rollen, und ein breiter Gang gestattet dem 
Publikum nicht nur den Uebergang von Station zu Station, son 
dern Zwingt es durch seine Verkaufsläden sogar Zum Verweilen. 
Das heißt, einstweilen stehen d'ie Räumlichkeiten zu beiden Seiten 
noch leer, aber eines Tages werden ihre Auslagen ebenso schön 
erglitzern wie die der Metro-Passage unterhalb der klare 
Die Pariser Bahnhöfe sind allerdings, wenn man will, abgrün 
diger als die Berliner, und gleichen diese modernen Badezimmern, 
so jene altertümlichen Verließen; was nicht besagen soll, daß sis 
unpraktischer eingerichtet seien» Im Gegenteil, ihre Organi 
sation ist vielleicht klarer als unsere gerühmte . . . Auch der über 
irdische Teil des Alexanderplatzes befindet sich mitten im Auf 
bau. Neben dem Stadtbahnhof ersteht das Bürohaus von Peter 
Behrens, und an anderen Ecken wachsen wieder andere Stahl- 
und Eisenbetongerippe in die Höhe. Dazwischen fegt der Wind 
über Bretterböden und durch Baulücken. Und noch etwas ganz 
Unwahrscheinliches versteckt sich dazwischen: ein abgeschiedenes 
Stück Welt. 
Ich meine den Georgenkirchplatz. Man erreicht ihn über einen 
Vohlengang, der an Verschalungen vorbeiführt. Die häßliche Back 
steinkirche, die schon leichte Patina angesetzt hat, wird von 
klassizistischen Kleinstadthäusern umstanden, denen niemand ihre 
enge Beziehung zu Untergrundbahnen anmerkt Das träumt noch 
von Postkutschen und kann nicht mehr mit. Muß dieses ahnungs 
lose Idyll einmal den Anforderungen des weltstädtischen Ver 
kehrs weichen, wie man sagt, so wird es hoffentlich nicht mit 
einem Knockout ausgerottet werden wie jetzt angeblich die 
Preise. S. Kracauey, 
Drei Dichter weniger. 
Lr Berlin, im Januar. 
Nach Hermann Hesse find jetzt wieder drei Mitglieder der 
Dichterakademie zurückgetreten: Wilhelm Schäfer, E. 
Guido Kolbenheyer und Emil Strauß. Der Grund 
ist folgender: Gelegentlich der letzten Hauptversammlung war von 
verschiedenen Mitgliedern, vor allem den auswärtigen, der Antrag 
gestellt worden, daß Beschlüsse nur in Hauptversammlungen gefaßt 
werden dürften. Man fand vermutlich, daß die Berliner Gruppe 
durch ihre Anwesenheit nr der Reichshauptstadt bevorrechtet sei, 
und wollte den übrigen Mitgliedern die gleichen. Chancen ver- 
Wafren. Der Antrag ging durch. Um die Erledigung der laufenden 
Nrbenen nicht zu erschweren, wurde ihm die Bestimmung beigefügt,, 
daß in dringenden Fällen Beschlüsse von den Berliner Mitgliedern 
ohne vorheriges Befragen der Auswärtigen gefaßt werden könnten. 
Trotz dieses Kautschukparagraphen brach sich aber in Berlin bald 
dre Ueberzeugung durch, daß diese neue Geschäftsordnung unhalt 
bar sei. So bat man denn die Mitglieder im Reich, mit der Auf 
hebung des ganzen Beschlusses einverstanden zu sein. Sie erfolgte 
ohne nennenswerten Widerspruch. Ihre Wirkung ist das Aus 
scheiden der drei genannten Akademiemitglieder. 
So erfreulich der Drang nach Aktivität ist, dessen Stauung 
offenbar zu den Rücktritten geführt hat: die Frage taucht auf, wohin 
er sich denn nach der Meinung der manifestierenden Dichter hätte 
X. - 
entladen sollen. Um die in Berlin zu leistenden Kleinarbeiten wird 
es sich wohl nicht handeln. Weder ist die Beratung des Kultus- 
ministeriumA durch Hauptversammlungsheschlüsse zu erreichen, noch 
die Veranstaltung von Vorträgen in der Universität. Auch wäre 
es Lei eiligen Aktionen zu umständlich, immer erst die Zustimmung 
der Auswärtigen einzuholen. Was aber die Akademie in Berlin 
tatsächlich macht, sind in der Hauptsache solche mehr verwaltungs 
technischen Dinge. 
Woher also rührt in Wirklichkeit die Unzufriedenheit der zurück 
getretenen Dichter? Glauben sie sich benachteiligt? Oder tragen sie 
sich mit Plänen, die der Akademie endlich einen Inhalt zu schenken 
vermöchten und die sie sich vergeblich durchzubringen bemühten? 
Wir andern wünschten ja ebenfalls, daß die Akademie zusehends 
ihre Daseinsberechtigung bewiese. Man munkelt hier, daß bei dem 
ernen oder anderen die abweichende politische Gesinnung den eigent 
lichen Anstoß zum Rücktritt gegeben hätte. Wie dem auch sei: wir 
sind begierig darauf, die wahren Gründe des Ausscheidens kennen 
zu lernen, und warten auf die Erklärungen der drei Dichter, dene> 
gewiß ein Gott zu sa^en gab, was sie leiden. 
Wärmehallen. 
Von S. Kracauer. 
Berlin, im Januar. 
Die Natur in ihrer Güte behandelt alle Menschen trotz ihres 
ungleichen Einkommens gleich, und so müssen bei sinkender Tem 
peratur auch die Armen frieren. Da wir nicht die segensreiche Ein 
richtung des Winterschlafs kennen, sind jetzt vor allem die aus dem 
Arbeitsprozeß ausgeschalteten Personen in eine schwierige Lage 
versetzt. Sie empfinden bittere Kälte, ohne die Mittel zu ihrer 
Abhilfer zu haben. Um die gröbste leibliche Not zu lindern, unter 
halten die verschiedenen Berliner Stadtbezirke und auch private 
Wohltäter Wärmehallen, die von Oktober bis April in Be 
trieb sind. Der Gedanke an ihr Vorhandensein mag gerade denen 
zum Tröst gereichen, die in Gegenden mit Zentralheizung woh 
nen. Uebrigens funktionieren nicht einmal alle Zentralheizungen 
richtig; was vermutlich mit dem Zwang zum Sparen und der 
allgemeinen Verarmung zusammenhängt. Zum Glück werden wir 
in Bälde ein prächtiges Rundfunkhaus besitzen. 
* 
In der Acke r straß e liegt die große Wärmehalle des Wohl 
fahrtsamts Mitte, die jedermann ohne Ausweis betreten kann. 
Ursprünglich war sie ein Depot, in dem statt der Menschen Tram 
bahnen aufbewahrt wurden. Man sieht es dem tiefen Raum heute 
noch an. Er hat Oberlicht und enthält lauter sachliche Stützen — 
eine fachmännische Jnnenkonstruktion, die der Gleise bedürfte, um 
ganz vollkommen zu sein. 
Wo einst die Wagen geputzt wurden, wimmelt es jetzt von 
Menschen, die schon lange nicht mehr geblinkt haben. Trübe und 
Armut sind bis auf weiteres Geschwister. Wieviele Leute sich hier 
täglich versammeln? „Ungefähr 1800 bis 2500", bedeutet mir der 
Hallenleiter, ein wohlmeinender Mann, der sein Stammpublikum 
kennt und mit den Besuchern anscheinend auf gute, Art fertig 
wird. Sie stehen — junge Burschen, Männer und Greise — in 
Gruppen zusammen, sitzen wie in den Arbeitsnachweisen auf 
Wartesaalbänken und genießen die Wärme, die eine Voraussetzung 
nackten Lebens ist, als besondere Wohltat. Gespendet wird sie 
von einem in der Mitte des Raums untergebrachten Ofen, dessen 
Rohr sich beflissen an den Stützen vorbeizieht und rein durch seine 
unermeßliche Ausdehnung den Hauptzweck der Halle versinnlicht. 
Die Ueberdeutlichkeit der Wärmevorrichtung ruft mir jene Ofen 
anlage ins Gedächtnis zurück, die wir während der Militärzeit in 
unserem Mannschaftsraum dazu benutzten, um dünne Kartoffel 
scheiben zu rösten. An die Kasernen erinnern nicht zuletzt auch die 
Aborte, denen die Türen fehlen, weil man es sonst, wie mein 
Führer erklärt, vor Geklapper nicht aushalten könnte. In dieser 
vielbenutzten Oertlichkeit waltet ein Schuhputzer seines Amtes. 
Eine andere Stube, die an die Halle grenzt, ist der Arbeitsraum 
des Friseurs. Sein Schönheitssalon unterscheidet sich von denen 
im Westen nicht nur durch die billigen Preise — Rasieren 10 Pfen 
nige, Haarschneiden 30 Pfennige —, sondern auch durch den Um-
	        
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