Kund end i enst.
Kurz vor Beginn der Reisezeit erhalten die v-Zugschaff-
ner in der Zentralschule noch den letzten Schliff. Ihnen wie
überhaupt sämtlichen Verkehrsbeamten wird eingepragt, daß
Wirtschaftlichkeit zu den obersten Grundsätzen der Rsichsbahngesell-
schaft gehört. Sie haben sich als AnaMellte eines riesigen kauf
männischen Unternehmens aufzufaffen, dessen Kunden die Reisenden
sind. Kunden aber sind unter allen Umständen höflich zu bedienen.
„Schon ein deutscher Philosoph hat gesagt," erklärt der Lehrer
seinen Schülern, „daß Höflichkeit gleichbedeutend mit Klugheit ist."
Dann fragt er zu meiner Enttäuschung nicht weiter, welcher
Philosoph das gesagt habe, sondern stellt die Weiche um und er
kundigt sich, was nach alledem Unhöflichkeit sei.
„Dummheit," antwortet ihm ein Gewitzter.
Ein Dialog, aus dem zweierlei hervorgeht. Einmal zeigt er,
daß der Unterricht gesprächsweise erfolgt, wie es die neuzeitlichen
pädagogischen Methoden verlangen; züm andern beweist er nach
träglich die Klugheit jener salutierenden Sonderzugschaffner. Mt
dem Salutieren allein ist es freilich nicht getan. Lichtbilder weihen
die Zugbeamten in die Geheimnisse der Fahrtausweise ein, be
lehren sie -darüber, wie man sich zu älteren Damen oder in den
häufigen Fällen eines Zwistes Zwischen Reisenden zu verhalten
habe usw. Das Vorübergleiten dieser Bilder, die wie Illustrationen
Zu einem imaginären Knigge anmuten, erzeugt in mir den heißen
Wunsch nach einem entsprechenden HöflichkeitSkursus' für das
Eisenbähnpublikum. Er müßte für Reisende aller Wagenklassen
obligatorisch sein«
KonkurrenH.
Die Konkurrenz ist das Auto. Man spricht nicht gern von
Hm, und wird es doch erwähnt, ss in einer leicht despektierlichen
Weiss. Die Zunehmende Beliebtheit, deren sich Autoreifen erfreuen,
und das Wachstum des - Lastwagens erkehrs verringern in der Tat
mehr und mehr die Einnahmen der Reichsbahn. Vom Standpunkt
der Eisenbahner aus gesehen, gleicht das Auto am ehesten einem
robusten Eindringling, der mit Methoden, die nicht immer über
jeden Zweifel erhaben sind, eine altrenommierte Firma derselben
Branche kaputt machen will. Sticheleien gegen den unbequemen
Konkurrenten wechseln mit .Schilderungen ab, die ebensoviele Hym
nen auf die Vorzüge des eigenen Verkehrmittels sind. Wer in
aller Welt wollte etwa eine lange Reise nicht lieber in der Eisen
bahn unternehmen? Während er im Auto ununterbrochen auf
seinem Platz sitzen bleiben muß, kann er in den Korridoren der
Q-Zugwagen auf- und abpromenieren, im Speisewagen sich sätti
gen, im Schlafwagen ungestört schlafen und in seinem Abteil
Lektüre treiben und die Landschaft betrachten. Statt ins Gefängnis
des Autos gesperrt Zu sein, durchmißt er sozusagen als ein Freier
die Lande. Es ist, als beflügle der neuerstandene Nebenbuhler die
Phantasie der Eisenbahner, so schwelgerisch malen sie die Herrlich
keiten einer großen Gisenbahnfahrt aus. Und ich glaube beinahe,
daß ihnen jeder für Poesie empfängliche Mensch recht geben muß.
Ueberhohe Brücken.
Auf einem durch Gras verdeckten Nebengleis wartet der Son-
Verzug auf die rückkchrenden Gäste. Die Lokomotive steht mitten in
der Wiese wie eine ungeheure mechanische Kuh, der bei Zuchtvieh
ausstellungen schon mehrere Medafllen verliehen worden sind. Wir
fahren aber ist das noch die märkische Landschaft? Ueber hohe
Brücken, die sich endlos dehnen, rattern wir in Tunnels hinein, an
deren Mündung uns fremde Städte entgegeneilen. Die Täuschung,
daß wir wirklich alle diese Strecken befahren, könnte nicht vollkom
mener sein. Hervorgerufen wird sie durch einen im verdunkelten
Unterrichtswagen gezeigten Werbefilm der Reichsbahn, zu
dessen Bildern der Sonderzug die natürliche Begleitmusik macht.
Erst Seim Verlassen des Wagens merke ich, daß wir eben nicht den
Rhein, sondern Potsdam passiert haben. Draußen scheint eine
Sondersonne zu Ehren des Sonderzugs, der auf die Minute pünkt
lich einläuft.
„Wie schnell sind wir gefahren," frage ich den Schaffner aus
Höflichkeit.
„100 Kilometer" erwidert er höflich. Aber nicht aus Klugheit,
sondern voller Stolz. S° Kraeauer»
Zwei Jongleure.
Berlin, im Juni.
I.
Harald Lloyd in seinem Film: „Harold, halt dich
fest!" — ein Jongleur, der seine Kunst betreibt, um das nackte
Leben Zu retten. Er will nicht jonglieren; er muß. Auf ein unge
sichertes Brett geraten, das von Zwei am Dachrand stehenden
Maurern hochgezogen wird, gaukelt er vor der Fassade eines
Wolkenkratzers durchs Leere. Sie wird mitunter in ihrer ganzen
Unermeßlichkeit vorgeführt, damit alle-Zuschauer fassen, wie winzig
und hilflos er ist, und gleicht dann einem senkrechten Ozean, den
er auf einer Holzplanke bejahrt. Bald kippt das Fahrzeug um,
und er findet erst im letzten Augenblick einen Halt, der einen
Augenblick später keiner mehr ist; bald wird er an den Strand
einer Markise gespült, deren Tuchbahnen er selber durch sein
Gewicht zerreißt; bald glaubt er ins Landesinnere eines Zim
mers entkommen zu können, sieht sich aber durch ein aufschlagendes
Fenster Zu schleuniger Flucht genötigt. Gesimse, Bauornamente
und Steinfugen: das ganze äußere Architekturinventar hält ihn
zum Narren. Und was den normalen Hausbewohnern, die im Lift
bequem hinaufgleiten, als glatte, ununterschiedene Mauerfläche
erscheint — ihm, der da draußen taumelt, hängt, rutscht, ist es ein
Gewirr wilder Zacken. Vorsprünge von Millimetern vergrößern sich
ihm zu gewaltigen Anlegeplätzen, und unmerkliche Hohlräume be
deuten für ihn Verderben. Schreiend und schwitzend jongliert er
von einem Pünktchen Zum andern; nicht wie ein Seiltänzer, der
über Abgründe geht, um seine Geschicklichkeit zu beweisen, sondern
als ein Verzweifelter, der gar nicht weiß, daß er jongliert.
Eine Akrobatik, die weniger Gelächter als Grauen hervorruft.
Ob sie will oder nicht: sie ist das treffende Sinnbild des schwierigen
Anstiegs in der Gesellschaft. Einem Wolkenkratzer gleich türmt
sich diese empor, und wer in ihre oberen Stockwerke dringen möchte,
ohne zu den Auserlesenen zu gehören, die ein Fahrstuhl in die
Höhe befördert, muß sich abschinden wie Harold. Sie bietet ihm
ihre Außenseite, und Angst packt den Schwindelnden. Wo immer
er sich anzuklammern sucht, droht er ins Bodenlose Zu stürzen. Er
wähnt sich auf einem ruhigen Posten und wird sofort wieder ver
trieben; er bettelt um Hilfe, ohne je eine Antwort zu erhalten;
er begeht in seiner Bedrängnis waghalsige Abenteuer, deren Folge
ist, daß er schachmatt gesetzt wird, und hinter jeder Ritze, durch die
er sich glücklich gezwängt hat, steht schon ein anderer. Ss Zappelt
sich der Ausgestoßene an der Front des Gesellschaftsbaus ab — ein
Spielball unberechenbarer Mächte, die ihm als blinde Zufälle
entgegentreten. Und da er sie weder bändigen, noch gar durch an-,
gestammte Lugenden zu Reichtum gelangen kann, bleibt ihm nichts
anderes übrig, als die Konjunktur geschickt auszunutzen. Wenn
er sich gut genug anpaßt, läßt ihn die Gesellschaft eines Tages
zweifellos ein.
Lerne jonglieren: so lautet das Rezept, das Harold Llohd allen
Strebenden verordnet. Wie ein Riesentransparent leuchtet diese
zeitgemäße Maxime, die von der Benjamin Franklins durchaus
verschieden ist, über New Dork und allen Citys 'der Welt.
II.
Ein Herr, der sich ReSla nennt, jongliert zur Zeit imWin -
Ler garten mit allerlei Gegenständen. Daß einer mehrere Bäll
chen oder Teller hvchwirft und dann wieder auffängt, haben wir
schon häufig gesehen. Rebla tut zwar dasselbe wie seine Vorgänger,
aber man spürt doch, daß er an seiner Beschäftigung keine Freude
hat. Ja er ist ausgesprochen mißvergnügt über sein Treiben.
Manchmal ereignet es sich, daß er plötzlich — zwei Bällchen sind
gerade in der Luft unterwegs — daß Rebla sich innerlich dagegen
sträubt, das unsinnige Spiel weiter mitzumachen. Von schweren
Gedanken umdüstert, harrt er auf seinem Platz und vergißt die in
Raum und Zeit entschwundenen Bällchen. Schon kehren sie zurück,
ohne daß er ihrer achtete. Da sind sie jetzt, bestimmt dazu, wie
unnütze Dinge auf den Boden zu rollen — aber genau in der
Sekunde, in der jeder unwillkürlich erwartete, daß sie das traurige
Schicksal ereile, landen sie wohlbehalten in Reblas Händen und
fliegen gleich wieder nach oben. Ist er überhaupt der Tatsache inne
geworden, daß die Bällchen sich zu ihm gefunden haben? Jeden
falls hat er sie nicht absichtlich eingeholt, sondern die lästigen
Objekte höchstens entgegengenommen. Wenn sie seinen Weg kreuzen
und nun einmal zu ihm wollen— er kann ihnen leider nicht weh
ren. Geistesabwesend macht er verschiedene mechanische Be
wegungen, die den Bällchen bedeuten sollen, daß er endlich genug
von ihnen hat. Der Erfolg dieser Maßnahme ist jedoch nur, daß