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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Kund end i enst. 
Kurz vor Beginn der Reisezeit erhalten die v-Zugschaff- 
ner in der Zentralschule noch den letzten Schliff. Ihnen wie 
überhaupt sämtlichen Verkehrsbeamten wird eingepragt, daß 
Wirtschaftlichkeit zu den obersten Grundsätzen der Rsichsbahngesell- 
schaft gehört. Sie haben sich als AnaMellte eines riesigen kauf 
männischen Unternehmens aufzufaffen, dessen Kunden die Reisenden 
sind. Kunden aber sind unter allen Umständen höflich zu bedienen. 
„Schon ein deutscher Philosoph hat gesagt," erklärt der Lehrer 
seinen Schülern, „daß Höflichkeit gleichbedeutend mit Klugheit ist." 
Dann fragt er zu meiner Enttäuschung nicht weiter, welcher 
Philosoph das gesagt habe, sondern stellt die Weiche um und er 
kundigt sich, was nach alledem Unhöflichkeit sei. 
„Dummheit," antwortet ihm ein Gewitzter. 
Ein Dialog, aus dem zweierlei hervorgeht. Einmal zeigt er, 
daß der Unterricht gesprächsweise erfolgt, wie es die neuzeitlichen 
pädagogischen Methoden verlangen; züm andern beweist er nach 
träglich die Klugheit jener salutierenden Sonderzugschaffner. Mt 
dem Salutieren allein ist es freilich nicht getan. Lichtbilder weihen 
die Zugbeamten in die Geheimnisse der Fahrtausweise ein, be 
lehren sie -darüber, wie man sich zu älteren Damen oder in den 
häufigen Fällen eines Zwistes Zwischen Reisenden zu verhalten 
habe usw. Das Vorübergleiten dieser Bilder, die wie Illustrationen 
Zu einem imaginären Knigge anmuten, erzeugt in mir den heißen 
Wunsch nach einem entsprechenden HöflichkeitSkursus' für das 
Eisenbähnpublikum. Er müßte für Reisende aller Wagenklassen 
obligatorisch sein« 
KonkurrenH. 
Die Konkurrenz ist das Auto. Man spricht nicht gern von 
Hm, und wird es doch erwähnt, ss in einer leicht despektierlichen 
Weiss. Die Zunehmende Beliebtheit, deren sich Autoreifen erfreuen, 
und das Wachstum des - Lastwagens erkehrs verringern in der Tat 
mehr und mehr die Einnahmen der Reichsbahn. Vom Standpunkt 
der Eisenbahner aus gesehen, gleicht das Auto am ehesten einem 
robusten Eindringling, der mit Methoden, die nicht immer über 
jeden Zweifel erhaben sind, eine altrenommierte Firma derselben 
Branche kaputt machen will. Sticheleien gegen den unbequemen 
Konkurrenten wechseln mit .Schilderungen ab, die ebensoviele Hym 
nen auf die Vorzüge des eigenen Verkehrmittels sind. Wer in 
aller Welt wollte etwa eine lange Reise nicht lieber in der Eisen 
bahn unternehmen? Während er im Auto ununterbrochen auf 
seinem Platz sitzen bleiben muß, kann er in den Korridoren der 
Q-Zugwagen auf- und abpromenieren, im Speisewagen sich sätti 
gen, im Schlafwagen ungestört schlafen und in seinem Abteil 
Lektüre treiben und die Landschaft betrachten. Statt ins Gefängnis 
des Autos gesperrt Zu sein, durchmißt er sozusagen als ein Freier 
die Lande. Es ist, als beflügle der neuerstandene Nebenbuhler die 
Phantasie der Eisenbahner, so schwelgerisch malen sie die Herrlich 
keiten einer großen Gisenbahnfahrt aus. Und ich glaube beinahe, 
daß ihnen jeder für Poesie empfängliche Mensch recht geben muß. 
Ueberhohe Brücken. 
Auf einem durch Gras verdeckten Nebengleis wartet der Son- 
Verzug auf die rückkchrenden Gäste. Die Lokomotive steht mitten in 
der Wiese wie eine ungeheure mechanische Kuh, der bei Zuchtvieh 
ausstellungen schon mehrere Medafllen verliehen worden sind. Wir 
fahren aber ist das noch die märkische Landschaft? Ueber hohe 
Brücken, die sich endlos dehnen, rattern wir in Tunnels hinein, an 
deren Mündung uns fremde Städte entgegeneilen. Die Täuschung, 
daß wir wirklich alle diese Strecken befahren, könnte nicht vollkom 
mener sein. Hervorgerufen wird sie durch einen im verdunkelten 
Unterrichtswagen gezeigten Werbefilm der Reichsbahn, zu 
dessen Bildern der Sonderzug die natürliche Begleitmusik macht. 
Erst Seim Verlassen des Wagens merke ich, daß wir eben nicht den 
Rhein, sondern Potsdam passiert haben. Draußen scheint eine 
Sondersonne zu Ehren des Sonderzugs, der auf die Minute pünkt 
lich einläuft. 
„Wie schnell sind wir gefahren," frage ich den Schaffner aus 
Höflichkeit. 
„100 Kilometer" erwidert er höflich. Aber nicht aus Klugheit, 
sondern voller Stolz. S° Kraeauer» 
Zwei Jongleure. 
Berlin, im Juni. 
I. 
Harald Lloyd in seinem Film: „Harold, halt dich 
fest!" — ein Jongleur, der seine Kunst betreibt, um das nackte 
Leben Zu retten. Er will nicht jonglieren; er muß. Auf ein unge 
sichertes Brett geraten, das von Zwei am Dachrand stehenden 
Maurern hochgezogen wird, gaukelt er vor der Fassade eines 
Wolkenkratzers durchs Leere. Sie wird mitunter in ihrer ganzen 
Unermeßlichkeit vorgeführt, damit alle-Zuschauer fassen, wie winzig 
und hilflos er ist, und gleicht dann einem senkrechten Ozean, den 
er auf einer Holzplanke bejahrt. Bald kippt das Fahrzeug um, 
und er findet erst im letzten Augenblick einen Halt, der einen 
Augenblick später keiner mehr ist; bald wird er an den Strand 
einer Markise gespült, deren Tuchbahnen er selber durch sein 
Gewicht zerreißt; bald glaubt er ins Landesinnere eines Zim 
mers entkommen zu können, sieht sich aber durch ein aufschlagendes 
Fenster Zu schleuniger Flucht genötigt. Gesimse, Bauornamente 
und Steinfugen: das ganze äußere Architekturinventar hält ihn 
zum Narren. Und was den normalen Hausbewohnern, die im Lift 
bequem hinaufgleiten, als glatte, ununterschiedene Mauerfläche 
erscheint — ihm, der da draußen taumelt, hängt, rutscht, ist es ein 
Gewirr wilder Zacken. Vorsprünge von Millimetern vergrößern sich 
ihm zu gewaltigen Anlegeplätzen, und unmerkliche Hohlräume be 
deuten für ihn Verderben. Schreiend und schwitzend jongliert er 
von einem Pünktchen Zum andern; nicht wie ein Seiltänzer, der 
über Abgründe geht, um seine Geschicklichkeit zu beweisen, sondern 
als ein Verzweifelter, der gar nicht weiß, daß er jongliert. 
Eine Akrobatik, die weniger Gelächter als Grauen hervorruft. 
Ob sie will oder nicht: sie ist das treffende Sinnbild des schwierigen 
Anstiegs in der Gesellschaft. Einem Wolkenkratzer gleich türmt 
sich diese empor, und wer in ihre oberen Stockwerke dringen möchte, 
ohne zu den Auserlesenen zu gehören, die ein Fahrstuhl in die 
Höhe befördert, muß sich abschinden wie Harold. Sie bietet ihm 
ihre Außenseite, und Angst packt den Schwindelnden. Wo immer 
er sich anzuklammern sucht, droht er ins Bodenlose Zu stürzen. Er 
wähnt sich auf einem ruhigen Posten und wird sofort wieder ver 
trieben; er bettelt um Hilfe, ohne je eine Antwort zu erhalten; 
er begeht in seiner Bedrängnis waghalsige Abenteuer, deren Folge 
ist, daß er schachmatt gesetzt wird, und hinter jeder Ritze, durch die 
er sich glücklich gezwängt hat, steht schon ein anderer. Ss Zappelt 
sich der Ausgestoßene an der Front des Gesellschaftsbaus ab — ein 
Spielball unberechenbarer Mächte, die ihm als blinde Zufälle 
entgegentreten. Und da er sie weder bändigen, noch gar durch an-, 
gestammte Lugenden zu Reichtum gelangen kann, bleibt ihm nichts 
anderes übrig, als die Konjunktur geschickt auszunutzen. Wenn 
er sich gut genug anpaßt, läßt ihn die Gesellschaft eines Tages 
zweifellos ein. 
Lerne jonglieren: so lautet das Rezept, das Harold Llohd allen 
Strebenden verordnet. Wie ein Riesentransparent leuchtet diese 
zeitgemäße Maxime, die von der Benjamin Franklins durchaus 
verschieden ist, über New Dork und allen Citys 'der Welt. 
II. 
Ein Herr, der sich ReSla nennt, jongliert zur Zeit imWin - 
Ler garten mit allerlei Gegenständen. Daß einer mehrere Bäll 
chen oder Teller hvchwirft und dann wieder auffängt, haben wir 
schon häufig gesehen. Rebla tut zwar dasselbe wie seine Vorgänger, 
aber man spürt doch, daß er an seiner Beschäftigung keine Freude 
hat. Ja er ist ausgesprochen mißvergnügt über sein Treiben. 
Manchmal ereignet es sich, daß er plötzlich — zwei Bällchen sind 
gerade in der Luft unterwegs — daß Rebla sich innerlich dagegen 
sträubt, das unsinnige Spiel weiter mitzumachen. Von schweren 
Gedanken umdüstert, harrt er auf seinem Platz und vergißt die in 
Raum und Zeit entschwundenen Bällchen. Schon kehren sie zurück, 
ohne daß er ihrer achtete. Da sind sie jetzt, bestimmt dazu, wie 
unnütze Dinge auf den Boden zu rollen — aber genau in der 
Sekunde, in der jeder unwillkürlich erwartete, daß sie das traurige 
Schicksal ereile, landen sie wohlbehalten in Reblas Händen und 
fliegen gleich wieder nach oben. Ist er überhaupt der Tatsache inne 
geworden, daß die Bällchen sich zu ihm gefunden haben? Jeden 
falls hat er sie nicht absichtlich eingeholt, sondern die lästigen 
Objekte höchstens entgegengenommen. Wenn sie seinen Weg kreuzen 
und nun einmal zu ihm wollen— er kann ihnen leider nicht weh 
ren. Geistesabwesend macht er verschiedene mechanische Be 
wegungen, die den Bällchen bedeuten sollen, daß er endlich genug 
von ihnen hat. Der Erfolg dieser Maßnahme ist jedoch nur, daß
	        
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