tresfer gleichen.
gesinnten Massen hätten verletzen können. Diese Tatsachen
bestätigen nicht nur nochmals, daß die Auflagehöhe kein Wert
messer ist, sondern deuten bereits auf die eigentlichen Gründe
eines großen Bucherfolges Hin. Er ist das Z e i ch e n eines
geglückten soziologischen Experiments, der
Beweis dafür, daß wieder einmal eine Mischung von Ele
menten gelungen ist, die dem Geschmack der anonymen Leser
massen entspricht. Eine Erklärung für ihn bieten allein die
Bedürfnisse dieser Massen, die gewisse Bestandteile gierig ein
saugen, andere dagegen entschieden ablehnen; nicht aber die
Beschaffenheiten des Werts selber — oder doch nur insofern,
als sie jene Bedürfnisse stillen. Und sollten sie gar Wirkliche
Spuren von Substanz mit sich führen: sie verschaffen dem
Buch sein Renommee nicht in ihrer Eigenschaft als Gehalte,
vielmehr als Widerspiel der im sozialen Raum verbreiteten
Tendenzen. Der gute Absatz einer Buchware hängt zuletzt
von ihrer Fähigkeit ab, die Nachfrage ausgedehnter Kon
sumentenschichten zu befriedigen. Eine Nachfrage, die viel zu
allgemein und konstant ist, als daß ihre Richtung durch private
Neigungen oder bloße Suggestion bedingt sein könnte. Sie
muß auf den sozialen Verhältnissen der Konsu-
stellern zweifelhaften Ruhm dringt und unbezweifelbares VNe"r^.
mögen. Es ist aber nicht mehr wie früher eins verhältnismäßig
in sich geschlossene Klasse, sondern eine Mannigfaltigkeit von
Schichten, die sich von der Großbourgeoisie bis herab zum Pro
letariat erstrecken. Sie haben sich in den letzten 50 Jahren
neu 'herausgebildet und stehen noch mitten in einem gewaltigen
Umfyrmungsprozeß. Was weiß man von ihnen? Aus der
Tatsache, daß man nichts oder nur wenig von ihnen weiß,
erklärt sich Zwanglos die Unmöglichkeit, Ersslgchancen schon
im voraus Zu ermitteln. Dtan hat zwar eine Art von Klafsen-
instinkt, aber auch der ist gebrochen, und so muß jedes Litera
turerzeugnis, das Marktgängigkeit erlangt, einem Lotterie-
der Hand. Der Erfolg von Büchern, die keiner der genannten
Gattungen angehören, könnte grundsätzlich der Füllt ihrer
echten und allgemein überzeugenden Gehalte Zuzuschreiben sein.
Wäre dem so: die Analyse hätte nur diese Gehalte sichtbar zu
wachen,, um den Ruhm der betreffenden Werke Zu erklären.
Tatsächlich aber gleichen die Gehalts darin den Sternen, daß
Las von ihnen entsandte Licht uns vielleicht erst nach Jahr
zehnten erreicht. Es hat Zeiten in der menschlichen Geschichte
gegeben, in denen ihrer viele ein für allemal entdeckt zu sein
schienen und daher nicht gesucht werden mußten. Heute aber
ist der Himmel verfinstert, und wer weiß, ob man sie selbst
durch ein Riesenteleskop zu erspähen vermöchte. Von Franz
Kafkas Werken haben es einige noch nicht bis Zu 1000 Exem
plaren gebracht. Die Beliebtheit mancher Liternturprodukte
muß also auf andere Ursachen zurückzuführen sein als gerade
auf die in ihnen eingekapselten Gehalte.. Im Gegenteil: je
mehr Goldadern sie in ihrem Innern bergen, desto eher werden
sie im allgemeinen von der Menge mißachtet, die keine Wün
schelrute hat, sondern nur Wünsche. Hat einmal der Zer
setzungsprozeß sein Werk getan, so sind die mittlerweile an den
Tag getretenen Gehalte freilich für alle Zu greifen, oder
werden doch von ihnen genannt. , , -
Wenn der Erfolg der Werke, um die es hier geht, nicht
eigentlich aus den Bedeutungen abgeleitet werden kann, die sie
vermitteln — welchen Quellen entspringt er dann? Die Frage
nach ihnen ist um so berechtigter, als sie auch die an ihrer Be
antwortung unmittelbar Interessierten in Verlegenheit bringt.
Trotz oder wegen ihrer Routine enthalten'sich erfahrene Lek
toren und Verleger der Prophezeiungen über das Schicksal der
Bücher. Sie Pflegen zu äußern, daß der Publikumserfolg un
berechenbar sei, und wagen sie doch eine Vorhersage, so ist sie
nicht minder problematisch wie eine meteorologische Erwägung
über das Wetter. Wie groß die Ratlosigkeit der Fachmänner
den klimatischen Erscheinungen in der Literatursphäre gegen
über ist, erweist sich besonders schlagend im Fall von Re-
marque. Das Manuskript seines Romans erfuhr von aus
gezeichneten Verlegern, denen die Sanierung durch einen
Allerweltserfolg Zweifellos willkommen gewesen wäre, schnö
deste Ablehnung, und als es endlich nach langer Fahrt glück
lich im Ullstein-Hafen einlies, wurde sein ziffernmäßiger
Wert auch von den dortigen Hafeninspektoren keineswegs
gleich erkannt. Mitunter werden die Auguren kühn und ver
suchen das Wetter zu machen. Ich weiß von einem Buch, das
den späteren Erfolg vielleicht auch dem Puff schuldet, der
ihm beim Starten gegeben worden ist. Sein Erscheinen fiel in
die Tage nach den Septemberwahlen, vor denen es schon
lieferungsbereit vorlag. Der Ausfall der Wahlen bewirkte.
Laß man das Werk noch einbehielt und rasch einige Partien
änderte, die das Empfinden der offenbar hochgradig national
III.
Die ökonomischen Strukturwandlungen,
die sich in der Gegenwart vollziehen, haben vor allem den
alten Mittelstand einschließlich der Kleinbourgeoisie getroffen.
Er, einst der Träger der bürgerlichen Kultur und der Haupt
stamm des lesenden Publikums, befindet sich in einem Zustand,
der dem der Auflösung nahe kommt. Unter den Ereignissen,
die ihn heraufgerufen haben, wäre die Inflation und die mit
ihr verbundene Auspowerung der Kleinaktionäre Zu nennen,
die Konzentration des Kapitals und die zunehmende Ratio
nalisierung; um ganz von der Krise zu schweigen, die zu
weiteren Substanzzerstörungen führt. Aus all diesen Gründen
ermangeln jedenfalls die nachgerückten mittleren Schichten ge
wisser Voraussetzungen, die den ehemaligen Mittelstand kon
stituierten: der Keinen Selbständigkeit, der bescheidenen Rente
usw. Sie sind in Abhängigkeit geraten und zu „proletaroiden"
Existenzen herabgesunken. Dem Nachweis ihrer Proletari
sierung hat meine Schrift: „Die Angestellten" gegolten, in der
überhaupt versucht worden ist, den ganzen Raum abzustecken,
den die Kinder und Kindeskinder des kleineren Vorkriegs-
mittelstandes erfüllen. Von ihnen zu den Arbeitern ist in
ökonomischer Hinsicht kaum noch ein Schritt. Die veränderten
Produktionsbedingungen üben selbstverständlich auch ihren
Einfluß auf die Großbourgeoisie aus. Sie tritt zum Teil ins
Angestelltenverhältnis, funktionalistert sich und steht mitten in
einer Umgruppierung, deren Wirkungen sich schwer abschätzen
lassen.
Die hier gemeinten Strukturwandlungen haben, nebenbei
bemerkt, die Herauskunft von Tendenzen Zur Folge, die vor
erst noch unter einer Hülle leben, da sie den überkommenen
Begriffen Widerstreiten. Es handelt sich um jene unserer fak
tischen Situation entsprechenden Tendenzen, die zwar bereits
allenthalben ihre Verwirklichung anftreben, sich aber mit
privatwirtschaftlichen Grundsätzen nicht durchaus decken. So
bricht das öffentliche Recht immer stärker in die Jndividual-
sphäre ein und erobert sich neue Kompetenzen; der Gedanke
sozialer Verpflichtung hat in der Wirklichkeit so feste Gestalt
gewonnen, daß er nicht mehr Zu tilgen ist; Städtebau und
Landesplanung greisen über den Einzelegoismus hinaus; die
Kollektivierung des Lebens nimmt zu. Nur eben: diese Strö
mungen, die der sozialen Realität und den materiellen Not
wendigkeiten Rechnung tragen, sind einstweilen weit davon ent-
fernt,^ das System zu bestimmen, in dem sie sich entwickeln.
Sie hüllen sich gewissermaßen in ein Inkognito, und prägen
sie sich auch faktisch aus, so setzen sie sich doch nicht als das, was
sie sind, im anders gewohnten Bewußtsein durch.
Platz für sie wäre vorhanden, denn manche bürgerlichen
Bewußtseinsinhalte sind genau so abgebaut
worden wie ihre Träger. Der ökonomischen und sozialen Fun
damente beraubt, können sie sich nicht länger halten. Ich denke
an den Schwund des SLandesbewußtseins in zahlreichen Be-
I.
Die im Literaturblatt der „Frankfurter Zeitung" verM-
staltete Serie: „Wie erklären sich große Buch
erfolge?" hat in Publikums- und Verle^rkreisen Ziem
liches Aufsehen erregt. Einbezogen worden in sie sind bisher
die Erfolgswerke von Richard V oß, Stefan Zweig,
Remarque und Frank Thieß; Zu denen noch Jack
London getreten ist, der nicht durchaus in die Reihe gehört.
Sie ließe sich fortsetzen, und ich könnte mir zum Beispiel
denken, daß man in ihrem Rahmen die Beliebheit biographi
scher Werke erörterte oder den Gründen nachsragte, aus denen
manche in illustrierten Zeitungen erschienene Romane be
geisterte Aufnahme gefunden haben. Immerhin, so meine ich,
sollten schon die paar Untersuchungen Zur Verdeutlichung der
mit der Serie verbundenen Absicht genügen. Die Haltung, die
in ihnen durchgeht, ist allerdings mitunter mißverstanden
worden. Es scheint uns daher angebracht, sie einmal vom
Stoff abzuheben und gesondert Zu prüfen. Ihrer Darstellung
werden die Ergebnisse Zugute kommen, die in den veröffent
lichten Analysen gewonnen worden sind,
II.
mengen beruhen.
An welchem sAomzialelen Ort be-ffini^d-et sich das ^Pbulbrlkikuumm, das
ulf keinen Fall
uleetariat gareift
Auf den Zweck der Serie weist schon die unter den Erfolgs
büchern getroffene Auswahl hin. Eine Reihe von ihnen der Träger der Bücher^ rst? Sie werden aulf keinen Fall
ist von vornherein ausgeschieden. Nicht behandelt worden durch proletarische Abnehmer begründet. Das Prouleetariat gareift
sind zunächst Beispiele der Kolportage: sei es der offenen, sei m der Hauptsache zu Buchem abgestempelten ^nhaUs oder
e§ der maskierten. Die Kolportage hat gewiß von jeher weite lwst nach, was ihm die Burgerrichen schon vorgelesen haben.
Verbreitung genossen; aber aus Gründen, die sich gleich Immer noch ist es das B urg e rt u m, das einigen Schrift
bleiben und sicher nicht gerade der Erhellung des gegenwarti- stellern zweifelhaften Ruhm dringt und unbezweifelbares VNe"r^
gen Zustandes dienen. Sie birgt bedeutende Gehalte in ver
zerrter Form und antwortet auf Neigungen, die so wenig
wandelbar sind wie ihr Kompositionsschema. Ist ihr Ersolg
an die Befriedigung lang währender Instinkte und tiefer Er
wartungen geknüpft, so der von anderen Bestsellers an die
Beziehung zu sensationellen Ereignissen, die gerade das all
gemeine Bewußtsein erfüllen. Auch diese literarischen Schlager
von rein stofflicher Aktualität kommen nicht in Betracht.
Ebensowenig haben jene Publikationen Berücksichtigung ge
funden, die von Anfang an auf bestimmte Interessentenkreise
abgestellt sind: also Werks irgendeiner ausgeprägten Politi
schen Richtung und Bücher, die ihre Wirkung dem Umstand
verdanken,' daß sie etwa der katholischen Vorstellungswelt
oder den Gedankengängen des Proletariats besonders ent
gegenkommen. Woher ihre Massenauflagen rühren, liegt auf
GrfokgMHer und W Fubükum. - ^7/