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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Zum Uaradies der Aabys 
Kindes gemeint. Es kann noch nicht Ich stammeln 
und möchte 
^Wahrend die Krise Deutschland wie eine Pestilenz heimsucht, 
Millionen von Menschen nicht wissen, wovon sie das nächste halbe 
Jahr leben sollen, und die Beschränkung der Geburten zur immer 
unabweisbareren Notwendigkeit wird — genau in diesen glorreichen 
Zeiten werden wir mit einer Ueberfülle von Babys gesegnet. Man 
kann keine Filmwochenschau genießen und keine illustrierte Zei 
tung oder Zeitschrift aufschlagen, ohne sie dort in den paar Le 
benslagen anzutreffen, die sie schon e'mzunehmen verstehen. Babys 
mit Müttern, Babys mit Hunden, Babys mit Katzen, strampelnde 
Babys, lachende Babys und. greinende Babys: immer wieder er 
scheinen sie auf der Bildfläche und verlangen bewundert zu wer 
den. Da es so viele Kinder in der ganzen Welt nicht gibt, ist die 
Unzahl der Abbildungen nur daraus zu erklären, daß die vor- 
hündenen unaufhörlich, photographiert werden. Jedes Baby beschäf 
tigt gewissermaßen seinen eigenen Photographen, der es belauscht 
und dann in die OeffenLlichkeit verschleppt. Das Bedürfnis, diese 
unschuldigen, entzückenden Geschöpfe ihr auszusetzen, ist Lief genug, 
um auf jede Rechtfertigung verzichten Zu können. In der Tat 
werden sie gewöhnlich einfach grundlos gezeigt oder füllen unter 
dem nichtigen Vorwach eines Preisrätsels die Seiten. 
Zweifellos befriedigt die Serienfabrikation von Babys eine 
Sehnsucht der Erwachsenen, die schlechterdings nicht zu ersticken ist. 
Wie. oft habe ich nicht Gelegenheit gehabt, die Wirkung Zu be 
obachten, die das unvermeidliche Kmder-Jntermezzo der Film 
wochenschau im Publikum auslöst. Wenn das Baby in Groß 
aufnahme tolpatschige Bewegungen macht, sein Gesichtchen verzieht 
und noch dazu kräht, raunt plötzlich der Saal, Ausrufe der Freude 
werden laut, und eine fühlbare Entspannung tritt ein. Unschwer Zu, 
merken, daß dieselben Zuschauer, die ihre Babys wahrscheinlich nur 
unter Entbehrungen auffüttern können, über dem Anblick dieses ver 
filmten den Existenzkampf vorübergehend vergessen. Sie spüren die 
Not nicht mehr, sie sind im Paradies angelangt. 
.Der Aufenthalt in ihm wäre ihnen wohl zu gönnen, wenn die 
so reichlich offerierte Babywelt nur wirklich das Paradies wäre. 
Aber ist sie es denn? Viel eher scheint sie eine allzu bereitwillig her 
gerichtete Oase für Erwachsene zu sein, und der fortwährende Rück 
zug in sie sieht einem Fluchtversuch verzweifelt ähnlich. Ueberhaupt 
verfolgt ja das typische Bilderensemble, in dessen Mitte unsere 
reizenden Kleinen gemeinhin auftauchen, nicht eigentlich den Zweck, 
die wirklichen menschlichen Zustände zu schildern. Dargeboten 
werden vielmehr lauter Ereignisse, wie Kriegsschiffe, Denkmals 
einweihungen und Sportfeste, die diese Zustände wo nicht verdecken, 
so doch unerhellt lassen, und vor allen Naturkatastrophen, deren Um 
abwendbarkeit auf der Hand liegt. Wann immer ein Baby holdselig 
lächelt, ist es von schlagenden Wettern, Feuersbrünsten und Ueber- 
schwemmungsgebieten umgeben. 
Mit diesem holdseligen Lächeln ist auch die Vorbewußtheit des 
VirLvrtiK Li» Serlr» 
Von 8. k^rLOLUSr 
2vei Jünglinge, die millratenen Lnen auirergv- 
vöbnliebsr Litern entstammen, kommen aus einem 
DanderLiebungöbeim in dio Welt. 8ie sind sozusagen 
Le-briftstelleriLOb begabt, lieben einander, vordem 
alle beide von derselben ansebeinend frigiden Lobau- 
snielerin gereift und betrogen und geraten bald m 
den besobeidenen Ltrudel grollstädtiseber Vobeme. 
Der eins von ibnen — er ist der Lr^äbler und 
eigenitiebe Leid — unterliegt ibren Lockungen in 
Berlin, ^ls kleiner Beuillstonredakteur einr > 
grollen Blattes verfällt er jenem Leben. desLen 
Lullere Ltationen die Bedaktionsstubem Oakes und 
Linos, Lekvannecke, Lveifelbäkto Lünstler und aller 
lei Brauen sind. Nan konnt das: diese dureboualten 
blaebte, diese endlosen Diskussionen, diese ^.ngst, 
naeb Lause ?u geben, dieses Eemisob aus seeliseben 
Verwicklungen und materiellen Löten, diese Lerie 
von vrovisorisoben LiebesbeMbungen. Zuletch er- 
Nllt den düngen ein ebrlieber Lksl vor den 2eitungs- 
intrigen, den Nenseben. mit denen er es 2U tun bat, 
und seinem ganzen verkabrenen Dasein. Lr macht 
ibm auk eins böebst romantisobe Weiss dadurob ein 
Lude, dall er sieb ausgersebnet in die Nutter seines 
Breundes verliebt, und mit ibr.'die noeb daru Italie 
nerin ist. eines, schönen Abends den 2ug naeb Bom 
besteigt. Wäbrend er so vor der Ltadt die Bluebt 
ergreift, der or nicht gewachsen war, bleibt der 
Breund Lurüek, um den Lampf mit Berlin weiter ru 
kübren. 
Der Lrchbler ist Beter UendoIssobn. und 
sein Buch beillt: „Bsrtig mit Berlin?' 
(Bbilipp BeÄam jun., Leiv^ig. 344 8. 6eb. U. 6.50). 
Lä ist der erste Boman eines jungen Autors: eine 
im Ichton vorgetragene Beichte, die flott abgewickelt 
wird und auf ein besonderes Verbältnis 2ur Lvraebe 
niobt 2u schliellen erlaubt. Lein Wort wäre über 
diese Wiedergabe intimer dünglingsschieksale ?u 
verlieren, die das wirkliche Berlin kaum betreffen, 
erregte das Buch nicht die Lvmvatbis kür seinen 
vielleicht gerade erst erfahren, ob es zu seinen Beinchen gehört. 
Eben seine Ahnungskosigkeit ist aber der entscheidende Grund, aus 
dem die Erwachsenen das Kinderland überall plakatieren. In ihm 
finden sie den Zustand des Nichtwissens verwirklicht, der ihnen 
selber wünschenswert erscheint, und dadurch, daß sie ihm zu 
streben, erlangt das Reich der Babys so gewaltige Dimensionen. 
Die Angst treibt sie dorthin wie in ein Asyl, die Angst davor, sich 
über die Verhältnisse, in denen sie leben, Rechenschaft ablegen 
zu müssen. So gewiß manche Einrichtungen der Gesellschaft einer 
Aenderung fähig wären, ebenso gewiß sind breite Schichten der 
Bevölkerung an der Aufrechterhaltung des Bestehenden inter 
essiert. Nicht so, als ob sie von den Uebeln verschont blieben, 
unter denen wir alle zur Zeit leiden; aber sie fürchten das gößere 
Uebel, das eine Umwälzung des ganzen Gesellschaftsbaues für sie 
möglicherweise bedeutete. Da nun die Einsicht in die Struktur 
des Zu Verändernden die Vorbedingung jeder echten Ver 
änderung ist, schließen sie aus Instinkt die Augen und erhöhen 
fälschlich auch das Wandelbare Zum Rang von unerschütterlich 
notwendigen Gegebenheiten. Baby-Produzenten und Baby-Kon 
sumenten stimmen in dieser Neigung vollständig überein. Ach, 
sie wollen nicht vom Baum der Erkenntnis essen, sondern lieber 
Unmündige sein. Und um nur ja der Konfrontation mit den 
Zuständen zu entrinnen, der sie als reife Menschen nicht aus dem 
Weg gehen dürften, ziehen sie es vor, sich zu den Babys zurück- 
zuziehen und . sich in ihnen zu spiegeln. Deren Hochflut ist das 
Zeichen für die Infantilität der Erwachsenen. Weil diese ihre Be 
wußtheit Preisgeben, steigt das noch nicht bewußte Leben um uns 
auf und wird paradiesisch verklärt. Aber wenn auch der Ort des 
Paradieses unbekannt ist, in der Verschollenheit hinter uns ist es 
nicht Zu gewinnen. 
Die Maffenansammlung von Babys ist also gar kein Beweis 
für die vermehrte Liebe zu ihnen. Das aber ist gerade das Fatale 
bei diesen Schwärmen von boM, die man neuerdings auch 
Zu Schönheitskonkurrenzen ausnutzt: daß sie nicht um ihrer selbst 
willen grassieren, sondern das Publikum in ihr eigenes Dasein 
versetzen sollen. Sie werden mißbraucht, sie haben die Aufgabe, die 
in Schlaf Zu wiegen, von denen-sie, wenn es mit rechten Dingen 
zuginge, eingewiegt werden müßten. Noch schwimmen sie auf 
Lotosblättern im Teich, und schon sind sie Mittel Zum Zweck. 
Statt daß man sie in Familienalben aufbewahrte, die der Erinne 
rung dienen, Zerrt man sie schockweise heraus und bringt sie als 
Genußartikel an den Mann; statt sie behutsam zu bewußten Men 
schen zu machen, stellt man das Bewußtsein mit ihrer Beihilfe ab. 
Dieselben putzigen und 'reizenden Wesen, die man in solcher Ab 
sicht verwendet, werden aber eines Tages auch groß und erwach 
sen sein, und ich bezweifle beinahe, ob sie dann denen Dank wissen 
werden, die sich heute Zu ihnen flüchten. 
L. Lraeauer. 
Verfasser. Hw Lbtnem B'alent ist wenig gelegen, ^bl 
aber etwas an dem instand. mit dem er sein Bri- 
vatlebsn 2U erledigen sucht. Die moralische Lnergie, 
die in ibm Lu spüren ist, bietet eins gewisse (dewäbr 
dafür, dall es ibm trets der unglückseligen Italienerin 
doch noeb ^elinKen ^erds. den Dunstkreis su dured- 
dreeden, der idn von der ^ulleEeit trennt. 
Dreiliod! nmllte er ME der Dndaltoarkeit 
des Standorts inne werden, den er in seinem Roman 
tzinnimmt.' Leine kosition ist die anaeüronistiseNo der 
VorkrieMju^end, die sied lieber mit ibrer eigenen 
Rersünliebkeit bekallte als mit den Verbültnisson, 
die ibr diese Rersönliebkeit ermöÄiebten: die sieb 
von der OeseHsebakt Lurünksestollen küblte. ^veil sie 
ibre Eeset^s 2u erkorseben verabsäumte: die ibr In 
nenleben so sukbausebte, dak sie die ^Virkliebkeit 
draullen aus dem ^uso verlor. Nendelssobn sebört 
ru den Uaeb^Mlern jener versebollenen Generation,, 
die offenbar in den DandernebunLsbVimen noeb vüe 
in l^atursebntönarks v^eit^ werden 'Weder 
sedenkt sein Held je der nolitiseben und soEon 
M'ebte, deren Dummelniat^ Berlin und erst reebt 
jede Berliner Aeiturm ist, noeb entfernt er sieb auch 
nur ein ein^mes Na! so vmit von seinem leb, um in 
Lremmsso seserrt M verdien, die es niobt selber 
beraukbesebvorsn bat. BsLeiabnend für diese irmend- 
bobs Lubjektivität ist das vermobtenäs Urteil das 
er über Berlin fällt: „Wer sieb nü-bt mit allen bun^ 
dertBrorent in Niedrigkeit und Boblbsit des öe. 
triebes, der Börse für Runst und Literatur binem-- 
kniet .., ner Widerstand entgegensetst der Bn^itz- 
senbmt, chnmaüung und inbaltlosen Oroüspreebe- 
rei, iver bemübt ist, sieb als virkliebs geistige Bxi- 
swnL mit dem. vas er ist und kann, und niobt, mebr 
und nmbt weniger, seinen Bluts su sedEen, der vird 
einige male im Rrmse dieses grollen Wirbels berum- 
gedrebt und dann an die Beripberie gesobleudert, 
und damit ist Hmns geistige LxiätsvL kür Berlin rsr- 
vroenen t nd selbst venn er es sebakft, venn er sieb 
unter die bliebtvisser in den grollen Bositionsn 
allen Aktionen seine Lande 
kerlbibt. Leibst dann, venn er sieb einmal virklieb 
^OchOsetLt bat, vird er siob immer noeb in der Oe. 
seBsebatt geistiger Mischlinge und chubältsr bekinddn.
	        
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