Glück und
Berlin, im Oktober.
In einigen leerstehenden Läden nahe bei der Gedächtniskirche
haben sich seit kurzem kleine Glückspekulanten eingenistet. Sie
setzen auf das Glück in doppelter Weise. Um es für ihre eigene
Person zu erjagen, rechnen sie überdies mit dem unbändigen Ver
langen jener Massen nach ihm, die heute keine andere Chance mehr
haben als eben das Glück. Das Wort von denen, die nichts Zu
verlieren haben und alles Zu gewinnen, ist Zweifellos richtig; aber
es gibt Zur Zeit auch Menschen genug, die in der Hoffnung auf
ein Paar gewonnene Groschen gern ihre letzten verlieren. ALgebaute
und Arbeitslose: alle die PfennigrLtter, denen sich vorderhand
keine Verdienstmöglichkeit bietet, treten dem Gefolge der Glücks
göttin bei, die sich freilich von sämtlichen anderen Göttern darin
unterscheidet, daß sie dank der Zunahme ihrer Anhänger hinzu
schwinden beginnt.
Wie eine Ware wird das ausgezehrie Glück in diesen Läden
verkauft. Ihre Einrichtung bestätigt, daß es flüchtig ist. Denn
obwohl sie mit Apparaten gefüllt sind, machen sie keineswegs den
Eindruck richtig ausgestatteteter Läden, gleichen vielmehr ge
räumten Lokalen. Noch riechen sie stubenwarm, noch wecken sie die
Erinnerung an Ladentische, Regale und festgegründete Kassen;
aber der ganze Plunder hat den Raum über Nacht verlassen,
und übrig geblieben sind nur die Wände, die jetzt ohne Scheu
ihre schadhaften Stellen entblößen. Vielleicht naht wieder einmal
eine Zeit, in der sie geflickt werden und der Laden seine eigent
liche Bestimmung zurückerhält. Inzwischen jedoch dient er dem
Glück als Asyl. Und es hat sich, seiner Natur gemäß, nicht etwa
häuslich hier etabliert, sondern inmitten der kahlen Umgebung
ein fliegendes Zelt aufgeschlagen, das jederzeit abgebrochen werden
kann. Provisorisch stehen die Automaten herum, die seine Spender
sind, und der Marketender, der im Zug der Fortuna nicht fehlen
darf, haust in einer dürftigen Ecke.
So schlecht die Lust in dem Biwak ist, sie verschlägt dem Glück
nicht das Lächeln. Wahrhaftig, es lächelt schon für Zehn Pfennig
und in vielerlei Gestalt. Da stehen Tische, auf denen lauter
Kügelchen rollen, da sind Pistolen und Flinten, die gerichtet zu
werden verlangen, und hast du etwas Handgeschick, so greift dir
das Glück unter den Arm. Denn tugendhaft, wie es an diesen
öffentlichen Orten sein muß, wirkt es nicht rein aus eigener gesetz
loser Kraft, sondern hilft nur denen, die ihrerseits ihm zu helfen
bereit sind. Aber gottlob sind die Forderungen, die es an seine An
wärter stellt, so niedrig wie seine Geschenke. Das Spiel der Muskeln
treibt den Kolben in die Höhe, und ein wenig Puste erzeugt die
schönsten Effekte. Sogar die Trägen, die selber nichts leisten
wollen, ernten Illusionen, deren Wert ungeachtet ihrer Billigkeit
den des Einsatzes übertrifft. Je nach der augenblicklichen Neigung
können sie sich die Wonnen eines Fußballmatches zwischen Mario
netten verschaffen oder durch den Guckkasten Szenen erblicken,
die ausschließlich für Herren reserviert sind. Daß die großen Er
wartungen, zu denen diese Ankündigung berechtigt, nicht in Er
füllung gehen, liegt eher an der gegenwärtigen Nacktkultur als an
den altertümlichen Bildern. Sie zeigen eine Nymphe aus der
GroßväterM, die bald in den Zweigen eines blühenden Apfel
baumes posiert, bald scheftnisch auf einem Mäuerchen lagert, wie
es. in Photographenateliers früher verwandt wurde. Nur ist sie zu
wenig ausgezogen, um eine Generation anzuziehen, die mit den
naMn Tatsachen Zu
Außer dem Glück, das allen zuteil wird, sucht jeder Mensch
Schicksal.
gemeinhin noch sein besonderes Glück. Und da die MZgRchkM
verbaut sind, es durch Befolgung der gesellschaftlichen Spielregeln
auf die übliche Art Zu -rlangen, begehrt er Auskunft über die
geheimen Kräfte, die in ihm selber stecken und ihn am Ende
doch emportragen werden. Wie Absatzstockungen eine Inten
sivierung der Arbeit bedingen, so beschwört die Ungunst der äußeren
Verhältnisse die Frage nach der Gunst des Schicksals herauf, und
die Zahl der Automaten, die für ihre Beantwortung sorgen, ist der
Heftigkeit der Krise direkt proportional. Obwohl diese Automaten
wahllos und ohne Ansehen der Person gedruckte Zettelchen aus
speien, präzisierer sie gewissermaßen das Glück. Sie reden ihren
jeweiligen Kunden an, sie sagen ihm und nur ihm eine angenehme
Zukunft voraus. Ein Sperling in der Hand soll besser sein als
zehn Lauben auf dem Dach; aber wenn es im Augenblick keine
Sperlinge gibt, ist die ferne Taube nicht zu verachten. Jedenfalls
gestehe ich bedenkenlos ein, daß mir die automatisch gegebene Au-
sicherung, ich werde in Bälde Nachricht von einer großen Erbschaft
erhalten, schon eine kleine Erleichterung gebracht hat.
Dabei ist der Wahrsage-Apparat, dem ich sie verdanke, noch
längst nicht der Zuverlässigste Mittler, dessen sich das Glück im
Interesse unseres Wohlergehens bedient. Es hat andere, bessere
Boten, durch deren Mund es dem einzelnen Fragesteller einen
detaillierten Bescheid über fein persönliches Los zukommen läßt.
Daß die Handlesekunst und die Graphologie zu Modeartikeln ge
worden sind, erklärt sich auch aus dem furchtbaren Elend, das die
Menschen zu einem letzten und äußersten Appell an ihre eigenen
Glücksfähigkeiten Zwingt. Daher ist neben den Spieltischen und dem
Automaten stets ein Chiromant oder Handschriftendeuter anzu-
treffen, der in seiner Person den Bund zwischen Glück und Schicksal
verkörpert. Er sitzt in einem abgetrennten Hinterzimmer, dessen
Exklusivität nicht nur die Neugierde erregt, sondern auch das höhere
Honorar zu rechtfertigen vermag, das für seine Tätigkeit zu ent
richten ist, und legt mit Recht ein großes Gewicht auf die strenge
Wissenschaftlichkeit seiner Methode. Sie schließt in den Augen der
Masse das Glück nicht aus, gewährleistet es vielmehr. Der Weg zu
dem esoterischen Raum ist mit Verheißungen und Belobigungen
des Künders gepflastert. Niemand Geringeres als. Mady Christians
hat schon die Dienste des Graphologen benötigt, und zu seinen
Kunden zählen auch Prominente des Boxsports und bedeutende
Firmen. Die Aussichten, die er eröffnet, sind den Bedürfnissen öes
Publikums genau angepaßt. Trostreich verspricht er, in die intimsten
Fähigkeiten und Veranlagungen seiner Klienten einzudringen und
Anweisungen zu einer glücklicheren Lebensausgestaltung zu geben.
Ja ehe man sie noch entgegennimmt, ist man bereits durch
Schmeicheleien glücklicher geworden. Denn dieser erprobte Menschen
kenner versichert jedem, der es hören will, daß sich ihm hier die
Gelegenheit böte, „sich über alle Vorurteile des Alltags- und
Masfenmenschen zu erheben". Ein Vorschußkompliment, aus dem
nicht zuletzt hervorgeht, daß Zahllose Glücksucher sich immer noch als
Individuen fortbehaupten möchten, obwohl sie längst eine prole-
Larisierte Masse bilden.
Abends sind die Läden gewöhnlich bis auf den letzten Stehplatz
besetzt. Ein dichter Menschenhaufen täuscht über ihre Leere hinweg
und verdeckt die Tische und Automaten. Junge Burschen und
Mädchen, aus dem Arbeitsprozeß ausgestoßene Männer und Frauen
sie, die das Leben einstweilen abgeworfen hat, folgen spielerisch
den Spuren des Glücks. Und sein schwaches Lächeln entschädigt sis
vorübergehend für ihr erbärmliches Dasein» das wohl ein Unglück»
aber gewiß nicht nur Schicksal ist. S. Kramuer»