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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.10/Klebemappe 1931 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Glück und 
Berlin, im Oktober. 
In einigen leerstehenden Läden nahe bei der Gedächtniskirche 
haben sich seit kurzem kleine Glückspekulanten eingenistet. Sie 
setzen auf das Glück in doppelter Weise. Um es für ihre eigene 
Person zu erjagen, rechnen sie überdies mit dem unbändigen Ver 
langen jener Massen nach ihm, die heute keine andere Chance mehr 
haben als eben das Glück. Das Wort von denen, die nichts Zu 
verlieren haben und alles Zu gewinnen, ist Zweifellos richtig; aber 
es gibt Zur Zeit auch Menschen genug, die in der Hoffnung auf 
ein Paar gewonnene Groschen gern ihre letzten verlieren. ALgebaute 
und Arbeitslose: alle die PfennigrLtter, denen sich vorderhand 
keine Verdienstmöglichkeit bietet, treten dem Gefolge der Glücks 
göttin bei, die sich freilich von sämtlichen anderen Göttern darin 
unterscheidet, daß sie dank der Zunahme ihrer Anhänger hinzu 
schwinden beginnt. 
Wie eine Ware wird das ausgezehrie Glück in diesen Läden 
verkauft. Ihre Einrichtung bestätigt, daß es flüchtig ist. Denn 
obwohl sie mit Apparaten gefüllt sind, machen sie keineswegs den 
Eindruck richtig ausgestatteteter Läden, gleichen vielmehr ge 
räumten Lokalen. Noch riechen sie stubenwarm, noch wecken sie die 
Erinnerung an Ladentische, Regale und festgegründete Kassen; 
aber der ganze Plunder hat den Raum über Nacht verlassen, 
und übrig geblieben sind nur die Wände, die jetzt ohne Scheu 
ihre schadhaften Stellen entblößen. Vielleicht naht wieder einmal 
eine Zeit, in der sie geflickt werden und der Laden seine eigent 
liche Bestimmung zurückerhält. Inzwischen jedoch dient er dem 
Glück als Asyl. Und es hat sich, seiner Natur gemäß, nicht etwa 
häuslich hier etabliert, sondern inmitten der kahlen Umgebung 
ein fliegendes Zelt aufgeschlagen, das jederzeit abgebrochen werden 
kann. Provisorisch stehen die Automaten herum, die seine Spender 
sind, und der Marketender, der im Zug der Fortuna nicht fehlen 
darf, haust in einer dürftigen Ecke. 
So schlecht die Lust in dem Biwak ist, sie verschlägt dem Glück 
nicht das Lächeln. Wahrhaftig, es lächelt schon für Zehn Pfennig 
und in vielerlei Gestalt. Da stehen Tische, auf denen lauter 
Kügelchen rollen, da sind Pistolen und Flinten, die gerichtet zu 
werden verlangen, und hast du etwas Handgeschick, so greift dir 
das Glück unter den Arm. Denn tugendhaft, wie es an diesen 
öffentlichen Orten sein muß, wirkt es nicht rein aus eigener gesetz 
loser Kraft, sondern hilft nur denen, die ihrerseits ihm zu helfen 
bereit sind. Aber gottlob sind die Forderungen, die es an seine An 
wärter stellt, so niedrig wie seine Geschenke. Das Spiel der Muskeln 
treibt den Kolben in die Höhe, und ein wenig Puste erzeugt die 
schönsten Effekte. Sogar die Trägen, die selber nichts leisten 
wollen, ernten Illusionen, deren Wert ungeachtet ihrer Billigkeit 
den des Einsatzes übertrifft. Je nach der augenblicklichen Neigung 
können sie sich die Wonnen eines Fußballmatches zwischen Mario 
netten verschaffen oder durch den Guckkasten Szenen erblicken, 
die ausschließlich für Herren reserviert sind. Daß die großen Er 
wartungen, zu denen diese Ankündigung berechtigt, nicht in Er 
füllung gehen, liegt eher an der gegenwärtigen Nacktkultur als an 
den altertümlichen Bildern. Sie zeigen eine Nymphe aus der 
GroßväterM, die bald in den Zweigen eines blühenden Apfel 
baumes posiert, bald scheftnisch auf einem Mäuerchen lagert, wie 
es. in Photographenateliers früher verwandt wurde. Nur ist sie zu 
wenig ausgezogen, um eine Generation anzuziehen, die mit den 
naMn Tatsachen Zu 
Außer dem Glück, das allen zuteil wird, sucht jeder Mensch 
Schicksal. 
gemeinhin noch sein besonderes Glück. Und da die MZgRchkM 
verbaut sind, es durch Befolgung der gesellschaftlichen Spielregeln 
auf die übliche Art Zu -rlangen, begehrt er Auskunft über die 
geheimen Kräfte, die in ihm selber stecken und ihn am Ende 
doch emportragen werden. Wie Absatzstockungen eine Inten 
sivierung der Arbeit bedingen, so beschwört die Ungunst der äußeren 
Verhältnisse die Frage nach der Gunst des Schicksals herauf, und 
die Zahl der Automaten, die für ihre Beantwortung sorgen, ist der 
Heftigkeit der Krise direkt proportional. Obwohl diese Automaten 
wahllos und ohne Ansehen der Person gedruckte Zettelchen aus 
speien, präzisierer sie gewissermaßen das Glück. Sie reden ihren 
jeweiligen Kunden an, sie sagen ihm und nur ihm eine angenehme 
Zukunft voraus. Ein Sperling in der Hand soll besser sein als 
zehn Lauben auf dem Dach; aber wenn es im Augenblick keine 
Sperlinge gibt, ist die ferne Taube nicht zu verachten. Jedenfalls 
gestehe ich bedenkenlos ein, daß mir die automatisch gegebene Au- 
sicherung, ich werde in Bälde Nachricht von einer großen Erbschaft 
erhalten, schon eine kleine Erleichterung gebracht hat. 
Dabei ist der Wahrsage-Apparat, dem ich sie verdanke, noch 
längst nicht der Zuverlässigste Mittler, dessen sich das Glück im 
Interesse unseres Wohlergehens bedient. Es hat andere, bessere 
Boten, durch deren Mund es dem einzelnen Fragesteller einen 
detaillierten Bescheid über fein persönliches Los zukommen läßt. 
Daß die Handlesekunst und die Graphologie zu Modeartikeln ge 
worden sind, erklärt sich auch aus dem furchtbaren Elend, das die 
Menschen zu einem letzten und äußersten Appell an ihre eigenen 
Glücksfähigkeiten Zwingt. Daher ist neben den Spieltischen und dem 
Automaten stets ein Chiromant oder Handschriftendeuter anzu- 
treffen, der in seiner Person den Bund zwischen Glück und Schicksal 
verkörpert. Er sitzt in einem abgetrennten Hinterzimmer, dessen 
Exklusivität nicht nur die Neugierde erregt, sondern auch das höhere 
Honorar zu rechtfertigen vermag, das für seine Tätigkeit zu ent 
richten ist, und legt mit Recht ein großes Gewicht auf die strenge 
Wissenschaftlichkeit seiner Methode. Sie schließt in den Augen der 
Masse das Glück nicht aus, gewährleistet es vielmehr. Der Weg zu 
dem esoterischen Raum ist mit Verheißungen und Belobigungen 
des Künders gepflastert. Niemand Geringeres als. Mady Christians 
hat schon die Dienste des Graphologen benötigt, und zu seinen 
Kunden zählen auch Prominente des Boxsports und bedeutende 
Firmen. Die Aussichten, die er eröffnet, sind den Bedürfnissen öes 
Publikums genau angepaßt. Trostreich verspricht er, in die intimsten 
Fähigkeiten und Veranlagungen seiner Klienten einzudringen und 
Anweisungen zu einer glücklicheren Lebensausgestaltung zu geben. 
Ja ehe man sie noch entgegennimmt, ist man bereits durch 
Schmeicheleien glücklicher geworden. Denn dieser erprobte Menschen 
kenner versichert jedem, der es hören will, daß sich ihm hier die 
Gelegenheit böte, „sich über alle Vorurteile des Alltags- und 
Masfenmenschen zu erheben". Ein Vorschußkompliment, aus dem 
nicht zuletzt hervorgeht, daß Zahllose Glücksucher sich immer noch als 
Individuen fortbehaupten möchten, obwohl sie längst eine prole- 
Larisierte Masse bilden. 
Abends sind die Läden gewöhnlich bis auf den letzten Stehplatz 
besetzt. Ein dichter Menschenhaufen täuscht über ihre Leere hinweg 
und verdeckt die Tische und Automaten. Junge Burschen und 
Mädchen, aus dem Arbeitsprozeß ausgestoßene Männer und Frauen 
sie, die das Leben einstweilen abgeworfen hat, folgen spielerisch 
den Spuren des Glücks. Und sein schwaches Lächeln entschädigt sis 
vorübergehend für ihr erbärmliches Dasein» das wohl ein Unglück» 
aber gewiß nicht nur Schicksal ist. S. Kramuer»
	        
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