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Aufzeichnungen aus Hamburgs Spätsommer 1931»
Von S» Rraeauer.
Z?»r»8Si» über
Von 8. Kraoauer.
In den Hafenvierteln aller Hafenstädte kehren dieselben Straßen
wieder, und wer sie in Hamburg begeht, der glaubt schon beinahe
in Marseille zu sern. Sie durchziehen auch manche WeltstadLquar-
tiere, die sich wie Hafenanlagen in der Nähe der Bahnhöfe ent
wickeln. So könnte die Hamburger Wexstraße allenfalls beim SLeL-
tiner Bahnhof liegen, und bestimmt würde sich niemand darüber
verwundern, sie an der Gare de REst anzutreffen. Glücklich die
Städte, die viele Hafengegenden in sich beschließen.
Wie sie beschreiben, diese Straßen? Vielleicht läßt sich kaum
mehr über sie sagen, als daß sie grau, ärmlich und alt sind, und
jedenfalls wüßte ich nicht, was sie einem jener Besucher, die
Sehenswürdigkeiten einsammeln, zu bieten hätten. Ich nehme an,
daß er einen flüchtigen Blick auf ihre Kellereingänge verschwendete,
ihre Läden und Kneipen oberflächlich verbuchte, kopfschüttelnd durch
die offenen Haustüren dunkle, steile Treppen erspähte und zuletzt
ein wenig niedergedrückt in gehobenere Stadtteile enteilte. Aber ge
rade die Tatsache, daß das Alter hie.r nicht zur historischen Kuriosi
tät wird, ist schon für die Hafenstraßen bezeichnend. In denen von
Hamburg finden sich wie anderswo auch Patrizierhäüssr mit Ro
kokoportalen und schönen schmiedeeisernen Gittern. Sie sondern sich
indessen nicht im geringsten von den Häusern der Nachbarschaft ab,
verwachsen vielmehr mit ihnen zu einer einzigen, in sich ununter-
schiedenen Masse. Deren Bestimmung ist: bis zum letzten bewohnt
und genutzt Zu werden. Verfallene Mauern neigen sich vor, Pe
troleumlampen geben notdürftig Licht, und ausgediente Räume, dis
längst übergenug Menschen beherbergt haben, gewähren immer noch
Unterschlupf. Was haben diese Häuser im Lauf der Generationen
nicht alles erfahren. Nun sind sie verbraucht, ohne sterben zu dürfen,
klammern sich müde aneinander und raunen wie geschwätzige
Greise. In der Filmwochenschau werden mitunter Hausruinen aus
irgendeinem ErdbebengebieL gezeigt, deren wohlbehütete Stuben
nackt an die Außenwelt treten. Wenn sich das Innere der Hafen
häuser plötzlich erschlösse, wäre die Tageslicht zweifellos für einen
Augenblick von allen den unvorstellbaren Wesen erfüllt, die in Win
keln und hinter Tapeten Hausen und die Zimmer mit den Be
wohnern teilen.
Sie, die in den abgewetzten Häusern rumoren, gesellen sich gerne
Zu den Ausgeburten des Hafenstraßenraums selber. Er ist den An
kommenden und Abfahrenden geweiht. Darum verwehrt er der
bürgerlichen Seßhaftigkeit den Einblick, während er sich denen
offenbart, die nicht vor Anker liegen. Ihnen schenkt er sich nicht
nur, ihnen bedeutet er eine so unwiderstehliche Verführung, daß sie
ihn wieder und wieder aufsuchen, um in den Bildern des unver-
festigten Daseins zu vergehen. Hier, in der Vorsetzen oder im Um
kreis der Davidsstraße, ist die Welt zugegen, wie sie dem Reisenden
erscheint, ihm, der von Berufs wegen auf ihr klimpert und mit ihren
Bruchstücken Fangball spielt. LiberLy-Bar, Cap Horn-Bar, Norfolk-
Bar, Atlantic-Var: Namen aus aller Herren Ländern, die mit
plakathaften Lettern in der Erinnerung prangen, geben sich hier
ein Rendezvous, und die Reihe der Lädchen erweitert sich Zum un
übersehbaren Bazar. Der Seemann kann sich in ihm für die große
Fahrt ausrüsten, und wenn er ein Porträt hinterlassen will, das
treuer ist als das verlorengegangene Original — PhoLographen-
geschäfte sind in Menge vorhanden. Neben den Bildern der Ma
trosen, die sich so ähnlich sehen wie die Hafenstraßen, durch die sie
schlendern, häufen sich Muschelketten, japanische Glücksspiele und
Kopfjägerschwerter; lauter Andenkenartikel, deren MLnahme ver
rät, daß ihr Besitzer mit den verschiedenen Kontinenten aus dem
Duzfuß steht. Sie sind klein geworden wie sein Laschenailas, ihm
wie dieser vertraut, und indem er sich die Zeichen von ihnen an-
eignet, verschluckt er sie vollends. Neugierige bestaunen die weit
gereisten Trophäen, werden sacht aus dem Boden gehoben und in
den Zustand des Schwebens versetzt. Ihm entspricht das Herum-
lunLern, dem Gruppen junger Burschen, die entweder arbeitslos
die VMs seiner Aktionen. . , -
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Rens BeniLwin, Duhämell Giraudoux. OyeteLu,
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Däussrrsillen. VsvölkerunaeGruppen; Darbauds be
reits von Rvellner übersetztes: „Doll von Vuris",
das in den reisenden Vorsehlas ausklin^t, Debr-
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2-^jsehen unendlich vielen Diellllallern und der
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des Barisers gegen okientlichs Dillliotheksn, und
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mebr als krüller vielleicht, keine Grenzen überschrei
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wachsen der DeiolltgläMgkeit in der IV elt eine
OekKr kür den Geist vop Baris erblicken, l e üor-
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v^eniser änKstlieb gesinnt. lind lüehtenllergsr sagt
„8kar schreibt Baris"- äiasss Von
^IkrHdüUallenstyiv vorMMyd Lusammew
sestallts Sammelwerk (Internationale Bibliothek,
Berlin. 334 Zeiten) das ein GeLsnstück ru äsr rm
gleichen Verlas erschienenen Mthologis: „Wer
schreibt Berlin" ist, enthält zahlreiche krossLtüeks,
äis zum grollen ll'sil am äis ^nresuüL äes deut-
sebsn LsraUsseders hin geschrieben smä. Br selbst
in einem Nachwort Jachenschakt über äsn oinn
äes Duelles all. „Bs hat Mne Schuldigkeitgetan ,
so weint er, „^vspn es °. uns in dieser Vereinigung
von geistigen KensehKr Frankreichs säst, nur
-welche BiLsnsehakten ^r bei Baris rechnen
können.^
VntEwäsnäe. Nsensallaktsn van
rielltissr von Vraullreiell. vsräen in äer ^s,t auxell
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LLllen naoll äsm Lries keinen ULnxel sn HE
strulltianen sellLllt, A äen rrnnAbsisenen Ollsrnkter
von auÜen ller Ä bestimmen Mollen. Ollvs ä^ß sie
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stänä. vLs tremäe Meson erstarrt ibnen unter , äer
Lnnä su einem kestän bebiläe, das sie Von irAenä-
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MjMicllbeit ein bemiseb lleiveLter Substanzen ist,
äis : nur' eriaLt werden können, nenn nmn illren
WehtunKSsinn einkälKuliert. llens Konstruktionen,
äis ein mebr aster vemner all^eblullbLttss Vilä
gellen möchten, verblnsssn nnsesiebts dieser Louek-
twn van 8e1bstLUL^NK6N, die vot^endiAer^eiss srnM-
mentAriseb sind. Denn ver sieb in der Ve^tzKUN8
belinäet, mitssrissen von illr aäer sis lenkend, übsr-
siebt niebt dis IMrornomenta pnä alle Kostnrep^
^bsr äakür vermitteln die ^lüekliek Lus^e^äbltsn
LHsebniits Dindrüebe. die sieb nersnektiviseb nie
mals spinnen lässen: äen Geruch von karis und
So^ar ausdrüeklieb. dall er eine Vsr^vA^seruuv kran^
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srErrer Versebisäenbeiten nnu-eben der kran^ö-i-
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^bi^Lsnen des kransö^iseben Geistes Lie stellt
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