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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.11/Klebemappe 1932 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

es an und mutmaße 
ihre Darstellung des 
politisch indifferenten 
kleinbürgerliche verdrängen? Ich nehme 
darüber hinaus, daß die Verfasser durch 
schlechten kleinbürgerlichen Behagens die 
Berlin, Anfang April. 
Die Filmprüfstelle hat den Film: „Kuhle Wampe" von 
Bert Brecht und Ernst Ottwald verboten; aus Gründen, auf 
die ich noch zurüEomme. Das Verbot ereilt einen Film, der es 
schon sowieso schwer hatte: einen Outsiderfilm nämlich, der nicht 
ein Erzeugnis der Filmindustrie ist, sondern das Werk eines klei 
nen Anabhängigen Kollektivs, das außer Brecht und Ottwa l d 
noch den Regisseur Dudow und den Komponisten Ei s l e r um 
faßt. Es handelt sich hier also um Zwei Fälle: 
1. um das Eingreifen der Zensur, 
2. um einen außerhalb des Löblichen Produktionsprozesses ent 
standenen Film. . 
Beide find gesondert voneinander Zu betrachten. Das Haupt 
interesse beansprucht im Augenblick zweifellos der B e s ch ei d d er 
Filmprüfstelle, und ich schicke voraus, daß er schlechter 
dings unbegreiflich ist. Aber sich auf einen Protest gegen 
rhn zu beschränken und den Film selber durchs Netz schlüpfen zu 
lassen, wäre nur dann angebracht, wenn das Verbot irgendein 
belangloses Jndustrieprodukt betroffen hätte. „Kuhle Wampe" 
jedoch ist schon seiner Hersteller wegen wichtig genug, um genau 
so stark belichtet zu werden- wie dieses Verbot. 
Der. Film sucht vorwiegend die Zustände unter den Arbeits 
losen Zu veranschaulichen. Im Mittelpunkt des ersten der drei 
Teile, in die er zerfällt, befindet sich eine Erwerbslosenfamilie, 
deren 'besonderes Schicksal das allgemeine illustriert. Die Eltern 
tragen kleinbürgerliche Züge und hantieren mit Sprüchen, die auf 
die Verhältniße nicht mehr passen. Einem Milieu, dem die Tochter 
bereits entwachsen ist, der Sohn aber erliegt. Nachdem ihm der 
Vater vorwurfsvoll mitgeteilt hat, daß aus Grund der Notver 
ordnung seine Unterstützung beträchtlich gekürzt werde, bringt er 
sich um. Der zweite Teil zeigt das Leben der exmittierten 
Familie in der Siedlung Kuhle Wampe, in der sich die Erwerbs 
losen aus dumpfe Art mit den Zuständen abfinden. Hier schlagt 
der Film in Kritik um, in Kritik der Spießbürgerliche die re 
signiert und das Leben nach alter Art weiterschleppt, so gut es eben 
geht. Die Tochter erwartet ein Kind, und der Bräutigam, ein ziem 
lich haltloser Mensch, willigt schließlich ein, sich mit ihr zu ver 
loben. Das. Verlobungsessen, das in Anbetracht der gedrückten 
Verhältnisse merkwürdig üppig ist, entwickelt sich zum Saufgelage, 
dessen Widerwärtigkeit die der ganzen Kleinbürgerwelt kennzeich 
nen soll. Um nicht im Schlamm zu ersticken, verläßt die Tochter 
ihre Eltern. — Der dritte Teil dient der Belehrung und Ausrich 
tung. Die Arbeitersportjugend feiert ein Sportfest, in dessen Ver 
lauf man auch der Tochter und ihrem Bräutigam begegnet, der 
durch das Fest zu einer besseren Lebenshaltung bekehrt wird. Man 
treibt Nacktkultur, verunstaltet Wettspiele und fingt Songs, die den 
Willen zur Veränderung der Zustände kundgeben. Im Hintergrund 
prangt ein Plakat, das zur Solidarität ermähnt. Auf der Rück- 
fahrt'zur Stadt kommt es zwischen der Arbeitersportjugend und 
verschiedene zu leider viel zu ausgedehnten 
EiseEhM denen die Weltanschauungsgegensätze noch 
einmal Lufeinanderprallen. 
Ich habe den Inhalt nicht nur des Verbots wegen, sondern 
auch um seiner selbst willen so ausführlich berichtet. Festzustehen 
scheint mir in der Tat, daß sich die Filmindustrie dieses Stoffes 
unter den heutigen Umständen kaum angenommen hätte. Aller 
dings macht der Film „Drei von der Stempelstelle" ebenso wenig 
wie „Kuhle Wampe" einen Hehl daraus, daß die Arbeitslosen 
heute fast keine Chancen haben; aber er mildert durch komische 
Einschläge äb und hält die Siedlung doch halb und halb für eine 
brauchbare Lösung. Brecht und Ottwald gehen unstreitig weiter. 
Der Haken ist nur,, daß sie die Freiheit, deren sie sich außerhalb 
des Geheges der Industrie erfreuen, nicht richtig nutzen. Ihre 
Analysen sind verschwommen, ihre Demonstrationen ermangeln 
der Schlüssigkeiü W Schlag gegen die offizielle 
Filmproduktion hätte sein können, ist ein Schlag ins Wasser ge 
worden. 
Mr entscheidende Fehler der Filmkomposition besteht meines 
Erachtens darin, daß unklar bleibt, zu welchem Zweck die Heiden 
Welten der resignierenden Erwerbslosen-Kleinbürger und der Hoff 
nungsvollen Arbeiterjugend in der vorliegenden Form stilisiert 
und gegeneinander abgesetzt sind. Soll die der Arbeiterjugend die 
oder rückständigen Schichten zu treffen gedachten und im Schluß 
teil die kommunistische Aktivität verherrlichen wollten. Wenn das 
ihr Vorhaben war, ist ihnen jedenfalls seine Ausführung nicht 
gelungen. Denn zunächst wird das gegnerische Spießerleben in 
einer Weise karikiert, die der Ueberzeugungskraft enträt. Daß sich 
arme Tröpfe, die keinen Ausweg aus ihrer im ersten Teil ver 
deutlichten Situation wissen, bei Gelegenheit vollsausen, ist nicht 
zu bezweifeln; daß sie sich dabei so ekelhaft anstellen, ist unwahr 
scheinlich. Aber benähmen sie sich selbst derart peinlich, so wider 
spräche doch die Behandlung, die der Film ihrer Ausschweifung 
angedeihen läßt, seinen im Schlußteil sich durchsetzenden Ab 
sichten. Er traktiert die Vollerer nicht zornig oder bekümmert, 
sondern schlechthin gehässig und verhöhnt obendrein wie irgendein 
mondäner Gesellschaftsfilm die kleinbürgerlichen Eßmanieren. 
Das ist unberechtigt angesichts der Lage, in der sich die Erwerbs 
losen befinden, und verstößt auch wider das Interesse der Soli 
darität; um von der geringen Glaubwürdigkeit zu schweigen, die 
der ganzen Schilderung anhaftet. 
Der älteren Generation, die im Morast verkommt, wird später 
die junge gegenu^ die ein Vortrupp der Freiheit sein 
soll. Woraus geht hervor, daß sie es ist? Am Ende daraus, daß sie 
der Freikörperbewegung huldigt, Motorrad fährt und sich zu 
Kampfliedern vagen Inhalts vereinigt? Enthielten die Texte dieser 
Gssänge sogar spezifischere Aussagen, sie klängen doch nur rheto 
risch. Schuld daran trägt,., daß sie in einem Zusammenhang sitzen, 
dem nach der vorangegangenen Bergegenwärtigung des Erwevbs- 
losenelends keine reale Macht innowohnm kann. Einmal ist der 
Sport eine Sache der Jugend aller Richtungen und nicht nur das 
Zeichen der revolutionär gesinnten. Dann ist ein Sportfest eine An 
gelegenheit, die niemalsM gleichmshaft — der All ¬ 
tagsnot die Balance zu halten vermag. Und schließlich eröffnet 
dieses Fest um so weniger die vermutlich gewünschten neuen Per 
spektiven, als auf ihm die Jugend die Hauptrolle spielt. Hätte man 
noch mit den sumpfenden Erwerbslosen des zweiten Teils Leute 
desselben Alters konfrontiert! Aber Unterschiede der Haltung durch 
Generationsunterschiede versinnlichen zu wollen, heißt jene entkräf 
ten. Gute Jugend gebärdet sich immer radikal; nur eben bietet ihr 
Drang, die Verhältnisse zu ändern, an sich eine geringe Garantie 
für zukünftige Taten. Kurzum, der letzte Teil des Films ist eine 
windige Schlußapotheose, deren Optimismus nicht mitreißt. Ich 
glaube natürlich, daß es besser ist, gemeinsam Sport zu treiben 
als sich zu Lesaufen. Doch auch Sportfeste können Räusche sein, und 
ich weiß weder, ob sie zur Ueberwindung des KleinLürgertums 
taugen, noch ob sie einen nachträglichen Katzenjammer ausschließen. 
Das.^untergründige, das im Film gezeigt wird, wirkt unter allen 
Umständen wie eine dekorative Geste und erscheint mehr als eine 
Flucht denn als ein Signal der Rettung. Der Beweis dafür ist 
der: daß die Bilder des Anfangs im Zuschauer noch sortdauern, 
nachdem die Hurra-Stimmung des Festes längst verflogen ist. 
Dud o w, ein neuer Mann als Filmregisseur, verrat an einigen 
Stellen seine Begabung. Er hält das Motiv der Fahrräder rm 
ersten Teil sicher durch und hat von den Russen gelernt, soziale 
Zustände durch Gesichter zu charakterisieren. Da man im deutschen 
Film die sozialen Zustände meistens verschweigt oder verfälscht, ist' 
gerade diese Kunst noch selten ber uns angewandt worden. Auf 
lange Strecken hin verfährt die Regie ungeübt. So sind die Milieu-, 
bilder, die jeweils einen reuen Teil einleiten, nicht genug mit 
Bedeutung gefüllt und die Aufnahmen vom Sportfest viel zu weit 
schweifig geraten. Immerhin sind mir diese abstellbaren Mängel 
lieber als die unheilbaren, die der Versiertheit entspringen.. . 
Die Filmprüfstelle hat, wenn ich richtig informiert bin, den 
Film darum verboten, weil er den Reichspräsidenten als 
den Schöpfer der Notverordnungen, die Iustiz und die Kirche 
verächtlich mache. 
1. Verächtlichmachung des Reichspräsidenten: sie kann nur in 
jener Szene erblickt werden, die den Selbstmord des Arbeitslosen 
aus der niederschmetternden Wirkung der Notverordnung ableitet. 
2. Verächtlichmachung der Justiz: Anstoß erregt wird die Er 
scheinung eines Richters haben, der mit der in solchen FällÄ 
üblichen Monotonie einen Exmittierungsbefehl nach dem andern 
verliest. Mit seinem Auftritt sind die vergeblichen Bittgänge her 
Tochter bei den verschiedenen Aemtern zusammenmontiert. 
3. Verächtlichmachung der Religion: während Gruppe 
„Kuhle Wampen veröoten! 
Von S. Kraeauer.
	        
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