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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.11/Klebemappe 1932 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

L - L'O 
Iitm-Sommer. 
Berlin, Anfang Juli. 
Den lauten Ereignissen, die jetzt die Straße beherrschen, ist die 
ereignislose Stille in den Berliner Kinos umgekehrt proportional. 
Man verunstaltet eine Reprise um die andere, das ganze vergan 
gene Repertoire wird wieder durchgekaut. Die „Privatsekretärin" 
macht von neuem eine unwahrscheinliche Karriere, die „Stürme 
auf dem Matterhorn" toben, und „Der Andere" kehrt in sein 
eigentliches Ich zurück. Einige dieser Filme sind noch ganz leben 
dig und halten jeden Vergleich mit den späteren aus; viele da 
gegen wirken wie Grabgespenster, die bei der leisesten Berührung 
vergehen. Noch nie ist bisher im Sommer ein solcher Mangel an 
Nachschub gewesen. Verschuldet wird 'die Dürre durch das Kon- 
Lingentgesetz, das neuerdings bekanntlich sehr verschärft worden 
ist. Sollte seine Auflockerung nicht möglich sein, so befürchten die 
Interessenten für den Winter eine filmlose, eine schreckliche Zeit. 
Was den Produzenten recht ist, scheint wieder einmal den Kon 
sumenten (d. h. den Theaterbesitzern) picht billig zu sein. 
Eine einzige Neuheit ist zu verzeichnen: der Ufa-Film: ,,Der 
Mann ohne Namen" mit Werner Krauß. Die Ufa hat sich 
hier um ein gefüllteres Thema, um eine dichtere Atmosphäre als 
die hergebrachte bemüht. Dennoch gelingt es der Werkstattarbeit 
Robert Liebmanns nicht, den Oberst Chabert-Stoff wirklich zu be 
wältigen. Sie schlagt wesentliche Motive an, ohne sie zu Ende zu 
entwickeln, und stoppt den Eintritt ernster Möglichkeiten vorzeitig 
ab. So wird der Kampf geschildert, den der nach Ißjähriger Ab 
wesenheit Zurückgekehrte und längst Lotgesagte Automobilfabrikant 
Heinrich Martin im Interesse der Anerkennung seines Namens 
führt; aber ehe noch diese Kampfszenen ihren Sinn erfüllen und 
die bittere Hilflosigkeit des Einzelnen dem Staatsorganismus 
gegenüber illustrieren können, hören sie plötzlich auf und münden 
in einen törichten Lustspielschluß ein, der ganz zu Unrecht wieder 
aufatmen läßt. Und wie das soziale Motiv verebbt das private. 
Aus der Tatsache, daß der Heimkehrer seine frühere. Frau mir 
seinem besten Freund verheiratet findet, werden keinerlei deutliche 
Folgerungen gezogen, und man weiß weder genau, ob die Frau 
ihn zuletzt erkennt, noch ob die abweisende Haltung des Freundes 
auf bösem Willen beruht. Durch den Abbruch der thematisch ge 
gebenen Konflikte und ihre Auflösung in den Gewässern des 
Schwanks entstehen überdies schwer erträgliche Unmöglichkeiten. 
Innerhalb eines realistisch gemeinten Films ist es wenig glaub 
haft, daß der Held seinen Namensanspruch nicht zureichender be 
gründen kann — Zeit genug dazu wird*ihm in den gedehnten 
Szenen wahrhaftig gelassen -- und die Schnelligkeit, mit der er 
sich um des happy end willen in ein fremdes Mädchen verliebt, 
widerstreitet den Bindungen, die ihn angeblich ins alte Zuhause 
zurücktreibsn. 
Kurzum, der Film bleibt wie die meisten andern in lauter 
Unentschiedenheiten stecken. Sie rühren daher, daß er 
und seinesgleichen ihr Dasein nicht so sehr einer substantiellen 
Kraft als dem Willen verdanken, es jedermann recht zu machen, 
ohne dabei die Gesetze der Neutralität zu verletzen. Es gibt auch 
unpolitische Lebensregungen, die eine gewisse Sättigung der 
Neutralitätssphäre gestatteten. Aber sie scheinen bei uns in einem 
hohen Grade erstürben oder doch verkümmert zu sein. Denn dieser 
Film, der die Flauheit seiner Konzeption mit der Mehrzahl der 
übrigen Filmprodukte teilt, verrät nirgends eine gedankliche oder 
gefühlsmäßige Beziehung zu der von ihm zu treffenden Sache, 
sondern an allen Ecken und Enden immer nur den einen Wunsch: 
um keinen Preis Anstoß Zu erregen und sämtliche Klippen Zu um 
schiffen, die seinen Publikumserfolg beeinträchtigen könnten. Er 
ist von außen her bestimmt, er richtet sich nach Bedingungen, die 
ihm selber nicht immanent sind. Und vergeblich sucht man nach 
Antrieben, die ihm zum unableitbaren Leben verhülfen und seine 
Entfaltung von sich aus bestimmten. 
Die Regie Ucickys sprengt nirgends die Grenzen der Routine; 
es sei denn in einer kleinen Szene, die im Archiv für Kriegsverluste 
spielt. Sie zeigt einen Büroangestellten, der immer höher und höher 
an den Aktenregalen empoMettert; dann kommt er wieder her 
unter, und die Szene, die keine Konsequenz hat, ist aus. Infolge 
der Schwächen des Manuskripts werden gerade die Hauptdarsteller 
gehemmt. Man merkt es Werner Krauß an, wie sehr ihn seine 
Rolle vergewaltigt. Wenn er das Spiel zu tragischer Größe steigern 
will, muß er sich lustspielhaft benehmen, und hat er sich in ein 
heiteres Lächeln hineingelebt, so wird er sofort von neuen Wolken 
umzogen. Eine Figur, die nicht gesehen, sondern zusammen 
gekleistert ist, kann auch er nicht Zum Charakter gestalten. Aus 
ähnlichen Gründen ist Helene Thimig um ihre Bewegungs 
freiheit betrogen. Falkenstein als kleiner Agent, Maria Bard als 
Helle sympathische Stenotypistin und Grünbaum als Rechtskonsulent 
versehen durch ihre spielfreudigen Leistungen den Film mit einigen 
kräftigen Lichtern. Aber diese Chargenrollen gehören nicht not 
wendig zur Komposition, wären vielmehr überall möglich. 
8. Xr3,6au er. 
An der Grenze des Gestern. 
Zur B erlitt er Film - und Pho to -Schau. 
Von S. K^acauer. 
Berlin, im Juli. 
Ist einem Ladenkomplex der Joachimsthalsr Straße ist jetzt eine 
p e r m a n e n t e F i l m - undPhoto-Scha u eröffnet worden, 
die ein Material vereint, wie es in dieser Fülle noch niemals ge 
boten wurde. Dokumente, Bilder und Proben sind hier zusammen 
gestellt, die von den ersten Anfängen der Photographie und des 
Films bis zur jüngsten Gegenwart reichen. Sie gewähren einen 
nahezu lückenlosen Ueberblick über eine Entwicklung, an der wir 
selber so ganz beteiligt waren, daß wir sie bisher nicht von uns 
abzulösen vermochten. Durch diese Sammlung erst wird das un- 
gewußt mitgeführte Leben offenbar und tritt uns fremd gegenüber. 
Und indem wir sie mustern, erkennen wir, nicht ohne zu schaudern, 
wie das Heute stückweise in die Vergangenheit zurücksinkt und 
das Vergangene stetig im Heute weiter rumort. 
Die Ausstellungsräume erinnern an Buden. Alle Wände sind 
von oben bis unten mit Photos gepflastert, und dazwischen leuchten 
immer wieder grelle Außenplakate. Noch andere Umstände tragen 
dazu bei, den Eindruck des Jahrmarktzaubers zu wecken.Der Betrieb 
dauert bis in die späte Nacht; in einem der Räume, der als altes 
Vorstadt-Kintopp ausgestattet ist, werden verschollene und neue 
Filme gezeigt; die Schaufensterdekoration gleicht einer sichtbar ge 
wordenen Drehorgelmelodie; der Eintrittspreis ist so niedrig gehal 
ten, daß die offene Ladentür nicht als unüberwindliches Hindernis 
wirkt. Kurzum, die Straße zieht sich tief in die Schau hinein, 
und deren heimlichste Winkel noch sind für Passanten geschaffen. 
Mag die Improvisation, die hier herrscht, den Absichten der Ver 
anstalter oder einfach der Knappheit an Mitteln zu danken sein: 
sie entspricht jedenfalls genau dem Gegenstand, der vorgeführt 
werden soll. Diese Bilder müßten nicht allein ihrer Herkunft und 
ihres Sinnes wegen in Hellen, vornehmen Museumssälen ersticken, 
sondern wären auch darum in einer solchen Umgebung schlecht 
untergebracht, weil sie noch nicht völlig historisch geworden sind. 
Ihr Ort ist an der Grenze zum Gestern, an der nur improvisiert 
werden kann. Denn im Zwielicht dort verschwimmen vorerst die Kon 
turen, und das Rauschen des gelobten Daseins klingt in die kaum 
verlassenen Felder herüber. 
Aus der Urzeit stammt die Aufnahme eines Fensters von 
Niöpce, der zwischen 1816 und 1830 gewirkt hat und der Vor 
läufer Daguerres gewesen ist. Die Photographie ist auf besonders 
präpariertem, in Asphalt getränktem Papier hergestellt worden und 
wird keine lange Lebensdauer mehr haben. Schon Zeigt das Bild 
Sprünge und Risse, schon droht die Gestalt wieder in die Mono 
tonie des Grundes einzugehen, dem ihr Schöpfer sie abgelistet 
hatte. Es muß für ihn ein Glück ohnegleichen gewesen sein, alle 
todgeweihten Dinge zu bannen. Noch ist die Erscheinung deutlich 
Zu sehen, mit dem Fensterkreuz und der steinernen Brüstung — ein 
armseliges Fenster an irgendeinem Pariser Haus. Aber gerade die 
Nichtigkeit dieses Sujets veranschaulicht das von den ersten Licht 
bildnern Gemeinte. Sie waren zweifellos von der Mission erfüllt, 
das Zeitliche einer Welt zu segnen, die das Zeitliche segnet. Und 
die Rührung, die sich der heutigen Betrachter beim Anblick des 
vergilbten Blattes bemächtigt, erklärt sich eben daraus, daß es zum 
Unterschied von den meisten modernen Photos das Vergängliche 
retten, nicht aber bis zum Ueberdruß verewigen will. Dadurch, 
daß es ein flüchtiges Phänomen um seines möglichen Sinnes 
willen wunderbar zum Stehen bringt, ruft es wieder die ursprüng 
liche Bestimmung der Photographischen Technik ins Gedächtnis zu 
rück, deren Nutznießer sich längst damit begnügen, die Verflüch 
tigung unwesentlicher Phänomene sinnlos aufzuhalten. 
- - > * 
Anfänge des Films: eine Wundertrommel wird gedreht, und 
aus kleinen Bilderheftchen, die man wie ein Kartenspiel rasch mit 
dem Finger Überschlagen kann, erstehen kunstlose Szenen. „Du 
ahnst es nicht," heißt eines der Heftchen, und diese Behauptung 
ist dazu geeignet, die Neugier von Rummelplatz-Besuchern zu 
wecken. Noch erhalten sich im Luna-Park die Biofixbilder-Apparate 
jener Zeiten fort, die der spendierfreudigen Lüsternheit übertrie 
bene Versprechungen machen. Schaubudenluft umweht überhaupt 
den Beginn der ganzen Filmproduktion, ist die Atmosphäre, in der 
die Versuche Max Skladanowskys gedeihen. Und wie das unge 
schlachte Instrumentarium, dessen sich dieser Erfinder bedient, 
schon viele, später herausgearbeitete Möglichkeiten in sich enthält, 
so ist die Stelle, an der ins jungfräuliche Stoffgebiet eingebrochen 
wird, für ^ie Zukunft entscheidend. Immer haben die Umstände, 
unter denen eine neue Entwicklung anhebt, einen unabsehbaren 
/ Einfluß auf ^eren Verlauf. Der von Skladanowsky ge- 
j schaffene erste''Spielfilm der Welt nennt sich: „Die Rache der 
/ Frau Schultze" und ist eine Art von Moritat, deren Bilder
	        
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