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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.11/Klebemappe 1932 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Nachzutragen wäre noch, daß das gewaltige Material, das in 
der Schau nach und nach der Öffentlichkeit zugänglich gemacht 
werden soll, von zahllosen Filmschaffenden zur Verfügung gestellt 
worden ist. Regisseure haben ihre Privatarchive geöffnet, Kom 
parsen wertvolle alte Fotos beigesteuert. Die ausstellende Gesell 
schaft, die von ihren Bruttoeinnahmen bestimmte Prozentsätze an 
die WohlfahrtSkaffen einiger Filmverbände abführt, will auch 
in anderen großen Städten des Reiches Zweigausstellungen grün 
den. Geplant sind ferner in der Zentrale selber: Verträge der 
verschiedensten Art und Sonderveranstaltungen aus Spezialge 
bieten. 
Leben vollständiger als irgendeine andere Kunstgattung darstellt, 
zählt zu seinen Aufgaben vielleicht auch diese: uns immer wieder 
auf das fragwürdige Jnsinander von verrinnender Zeit und Ge 
fühlen oder Leidenschaften aufmerksam zu machen, die Dauer M 
haben behaupten. Die Heiterkeit, die jüngst veraltete Bildstreifen 
wecken, ist freilich dunkel grundiert; denn der Anblick von Klei 
dern und Gesten, in denen wir uns vor kurzem noch geäußert hat 
ten, gemahnt an den Untergang jeder Gegenwart überhaupt. Und 
zweifellos werden viele Sportfeste, Tragödien usw., denen wir 
heute auf der Leinwand begegnen, bald genau so komisch wickn 
wie das Paar am Elterngrab. Mefreit von dieser Komik ist nur 
die vollends historisch gewordene Wirklichkeit, die nicht mehr in 
die unsrige hinübergreift, und die Erscheinung von Gehalten, Ue 
so gut evident und übermächtig sind, daß sie sogar noch ihre ver 
gehende Erscheinung bezwingen. Aber wo kämen sis in der jetzi 
gen Welt vor? 
* 
Von der Vergangenheit rückt die Ausstellung unmerklich zür 
Gegenwart vor. Einige Etappen der Entwicklung heben sich immer 
hin ab. Da ist der Brief von Max Mack an Albert Bassermann, 
in dem dieser, der sich bisher gegen das Filmen gesträubt hatte, 
erfolgreich beschworen wird, eine Rolle im Film: „Sein eigener 
Mörder" zu übernehmen. Da sind Abbildungen der ersten, jm 
Atelier gebauten Dekoration, da werden Proben von Filmen ge 
boten, die eine neue Serie einleiteten oder in technischer Hinsicht 
eine wichtige Anregung brachten. Aber trotz dieser kleinen Sig 
nale findet man nicht die Schwelle, hinter der ein für allemal das 
Gestern läge, sondern gleitet ohne Zwischenstation ins Heute hin 
ein. Das Gefühl der Unheimlichkeit, das dadurch entsteht, daß man 
nicht eigentlich weiß, wann die modernen Gewänder die alten 
verdrängen, wird noch durch das Bewußtsein gesteigert, daß mit 
dem technischen Fortschritt die Leere der Filme selber wächst. Am 
Ende der Schau ist eine neue Tonfilmkamera aufgebaut, die sich 
zum plumpen Bioskop Skladanowskhs wie ein eleganter Wagen 
von Heute zu einem urtümlichen Ford verhälp Die Filme jedoch, 
die aus dieser schnittigen, wundervoll durchkonstruierten Appara 
tur hervorgehen, befriedigen nicht die Erwartungen, die man an 
die Vervollkommnung des ursprünglichen Modells knüpfen bürste. 
Jm Gegenteil: je mehr sie zu Jndustrieprodukten werden, desto 
hohler klingen sie, und der Zuwachs des in ihnen investierten 
technischen Könnens scheint geradezu ihre Substanzminde. 
rung zu bedingen. Sie verkehren richtige Absichten, sie heben 
die Kolportage und senken sie dadurch, sie liefern der Bevölkerung 
faule Ideologien und verbauen die Gehalte durch Dekorationen. 
So hätte es nicht zu sein brauchen, aber so ist es faktisch gekommen. 
Der Gang durch die Ausstellung gleicht aufs Haar einem Rutsch 
ins Bodenlose. Eine Hoffnung aber bleibt: der herrliche Apparat, 
der diese nichtigen Produkte erzeugt. Er kann nicht vergeblich 
geschaffen worden sein, sondern wird eines Tages die Funktion 
erhalten muffen, die ihm in Wirklichkeit zukommt. 
von Versen wie diesen begleitet werden: 
„Abends, wenn die Glocke Zehn, 
Will Frau Schultze schlafen gehn, 
Ihr Herr Nachbar — componiert, 
Spielt Posaune und klaviert." 
Bezeichnend auch, daß eine Zirkusreiter!» die Rolle der Räche 
rin spielt. Alle Filme von damals sind Illustrationen zu Bänkel 
sängerweisen oder vergegenwärtigen wie selbstverständlich kolpor- 
tageähnliche Themen. Derselbe Zwang, dem die Techniker bei 
der Ausbildung der Apparatur gehorchen, führt ste Motiven zu, 
die unterhalb der offiziellen Literatur ihr Wesen treiben. Es ist 
die Welt der Volksbelustigungen, in die sie vorstoßen, der primitiv 
gemachten und genossenen Abenteurergeschichten, der Zehnpfennig 
Broschüren, die in Schreibwarengeschäften und Hinterhöfen an 
die halbe Öffentlichkeit kommen. Wenn aber diese Welt als erste 
dem Film erobert wird, so heißt das nichts anderes, als daß er 
ihr zugeordnet ist. Und in der Tat: als ein Geschöpf der Straße, 
als ein Permittler jener unzerstörbaren, großen Motive, die sich 
in Schauzelten deutlicher offenbaren als in der sogenannten Lite 
ratur und das Glück der Unverbildeten und der Weisen sind, feiert 
er später die höchsten Triumphe. Die Chaplinaden, die das Zeichen 
seiner Abstammung unverwischbar auf der Stirn tragen, sind zu 
gleich seine Erfüllung. 
„Rache der Gefallenen. Sittengemälde in vier Akten": diesen 
Titel führt ein verschlissener Film, in dem der junge Hans 
Nlbers als dämonischer Verführer auftritt. Noch wehen seine 
Locken in voller Pracht, noch ist seine Eitelkeit unschuldig wie die 
von Helden in Dienstmädchenromanen. Jetzt will er die Bolks- 
figur sein, die er in seiner Novizenzeit vielleicht wirklich war. 
und trifft sie nicht mehr. Der Kitsch, den er einst darstellte, war 
populärer Natur, die Bedeutung hatte; die Natur, die er heute 
im Interesse seiner Popularität mimt, ist Kitsch. AuWlußrekch 
rst ein Bild aus diesem Film. Mit der Pistole in der Hand steht 
die (anscheinend schon gefallene) Heldin im reich ausgestatteten 
Familiensalon einem Staffelei-Gemälde gegenüber, das den Ver 
führer in Frackuniform zeigt, und hegt Gefühle, die der Text wie 
folgt ausdrückt: „Diesen Mann liebte ich einst. Öh, wie ich ihn 
heute Haffe! Ich muß ihn töten, und sei es auch nur im Bild!" 
Statt daß man nun der Heldin die Erregung anmerkte, die diese 
Worte verraten, wirkt sie im Gegenteil wie eine völlig unbeteiligte 
Person. In der ruhigen Haltung einer gehobenen Mittelstands 
Statue erfüllt sie die Mitte des Zimmers, und der Windstille, die 
ihren Busen am Wogen verhindert, entspricht durchaus die Gleich 
gültigkeit, mit der sie den Revolver umfaßt. Das Mordinsirumenl 
könnte eine leere Streichholzschachtel sein, die im nächsten Augen 
blick abgelegt wird, so gering sind seine Beziehungen zur Ge 
fallenen und zum Frack. Und doch diese tragischen Worte? Die 
Aufnahme beweist, daß sich zur Zeit ihrer Entstehung der in 
zwischen vom Film eroberte Raum noch nicht aufgetan hat. Der 
Salon ist ein abgewandeltes Bühnenpodium, die Darsteller find 
Schauspieler, die nicht reden dürfen, die Möbel kommen aus der 
Requisitenkammer, und die Kamera hat Angst, sich vom Fleck zu 
rühren. Solange dieses Borstadium dauert, gehören die Menschen 
und Dinge weder mehr zum Theater, in dem sie sich verständlich 
machen könnten, noch bereits in jene Welt, die auf der Leinwand 
widergespiegelt zu werden vermag. Es sind Gespenster, die im 
Morgengrauen agieren und deren Sprache nicht die unsrige 
ist. Ihre Gebärden scheinen ihre Worte Lügen zu strafen, ihre 
Arglosigkeit ist Aufruhr, und ihre Pistolen schießen ins Leere. 
Wenn die Kamera aus der Starre erwacht, werden sie weichen.' 
Viele Filme der abgelebten Epoche sind nur noch komis ch. 
Nicht dort wo ste komisch sein wollen, sondern gerade an den 
Höhepunkten des Ernstes. Inmitten einer Friedhofsszsnerie zukn 
Beispiel, die offensichtlich best rührenden Schluß einer dramatischen 
Handlung bildet, verweilen ein besser gekleideter Herr, der jedem 
Courths-Mahler-Roman zur Ehre gereichte, und die kniende 
Henny Porten, Der Kommentar zum. Bildertext lautet: 
„Der schönste Platz, den ich auf Erden hab', 
Das ist die Rasenbank am Elterngrab." 
Daß die Trauergestalt und der etwas abseits stehende Herr 
erschüttert sind, duldet nicht ^n mindesten Zweifel. Dennoch 
zwingt das Bild Gelächter herauf, und auch andere, weniger krasse 
Szenen aus verjährten Gesellschastsfilmsn sind unrettbar der Ko 
mik verfallen. Sie entspringt einer bestimmten Veränderung, die 
mit diesen Bildern vorgegangsn ist. Zeigten sie ihren ersten Be 
trachtern im wesentlichen nur den von ihnen gemeinten Gehalt, so 
zeigen sie ihren heutigen Betrachtern das sonderbare, Sben ver 
moderte Milieu, in dem jener Gehalt sich so naiv kundgab als sei 
er darin wirklich verwurzelt. Wir sehen nicht nur die Ergriffen 
heit des Herrn, sondern auch sein antiquiertes Jackett, und sind 
zu bemerken genötigt, daß die Trauer Henny PortenS gleich unter 
der veralteten Hutform sitzt. Der Akzent der Bilder hat sich ver 
schoben, die modischen Aeußerlichkeiten, die früher verschwanden, 
treten jetzt wie eine Geheimschrift sichtbar hervor. Und statt von 
dem Pathos mitgerissen zu werden, das in der Zeit ihrer Aktuali 
tät aus ihnen sprach, erregt uns nur noch der lächerliche Kon 
trast, der zwischen den pathetischen Ansprüchen und der hinfälligen 
Erscheinung ihrer Helden besteht. Da der Film das erscheinende (
	        
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