4) ,1. AAngw
den) nurschöpfepischen, zivilisationsfreien Provinz
zu flüchten. Berlin ist als Zustand heute im fern
sten Provinzler wirksam und real; und es muß
als ein Stück Realität, der wir nicht entrinnen
können, ohne Ressentiment und Romantik vom
deutschen Leben verarbeitet und bezwungen werden.“
Flucht aus Berlin? Die Antwort Ullmanns lautet:
Nein 1 . Er erteilt sie in der Gewißheit, daß Berlin
„der Ausdruck des deutschen Schicksals und seiner
Verwirrungen“ ist, und verknüpft sie mit der Er
wartung, daß sich unter dem Druck der Not in
der Reichshauptstadt endlich eine führende Schicht
bilden werde, die wirklich Elite heißen darf. Auch
wer nicht in allen Begründungen und Forderungen
mit ihm übereinstimmt, wird doch die Haltung be
jahen müssen, aus der heraus er, der Kritiker
Berlins, sich von dieser vielgehaßten Stadt nicht
abkehrt, sondern sie, einem Liebenden gleich, erst
recht ans Herz drückt.
Berlin in Deutschland.
Von S. Kracauer.
Ein wichtiger Beitrag zur wachsenden Literatur
über die Reichshauptstadt ist das Buch Hermann
Ullmanns: „Flucht aus Berlin?“ (Eugen
Diederichs Verlag, Jena. 120 Seiten. Geh.2.60).
Es empfiehlt sich rein schon als eine sichere Dar
stellung der für die Wirklichkeit Berlins entschei-
■ denden Züge. Indem Ullmann diese Wirklichkeit
von verschiedenen Seiten aus betrachtet — nicht
ohne die heutigen Tatbestände durchweg histo
risch zu unterbauen —, übt er zugleich an ihr
schonungslose Kritik. Eine Kritik, die nicht auf
mehr oder’ weniger zufälligen Impressionen, son
dern auf einer fundierten Anschauung der gesamt
deutschen Verhältnisse beruht.
Hassende und auch Liebende haben die Reichs
hauptstadt zu schildern versucht, und Ullmann ist
nicht ihr Entdecker. Er muß aufnehmen, was
andere nicht minder scharf beobachtet haben: die
Geschichtslosigkeit dieser Stadt, die formlose Un
ruhe, von der sie beherrscht wird, die Vermittler
rolle, die sie zwischen dem deutschen Osten und der
westlichen Zivilisation spielt. Und gewiß ist man
ches tiefer erfaßt worden, als es hier geschieht; so
etwa die fragwürdige Beziehung Berlins zum Boden,
die Ernst Bloch erst unlängst in seinem großartigen
Aufsatz: „Berlin, von der Landschaft gesehen“
(vergl. Reichsausgabe vom 7. Juli) erforscht
und gedeutet hat. Aber das Schwergewicht der Be
trachtungen Ullmanns liegt doch auf der Analyse
eines Phänomens, das bisher meines Wisens noch
nicht so grundsätzlich angegriffen worden ist. Ich
meine das Phänomen der Berliner Ober
schicht.
Diese Gesellschaft, die keine ist — Ullmann
leitet ihr Parvenutum aus ihrer Entstehungsart ab.
„Die industrielle Gründerzeit hat ganz Europa ver
wüstet, aber sie hat überall allmählicher eingesetzt
und mehr Zeit zur Anpassung gelassen als in
Deutschland und zumal in Berlin. In diesen un
seligen Jahrzehnten ... ist die Stillosigkeit des
Parvenus geradezu der Stil Berlins geworden ...
Und wenn auch der Parvenu überall den Ton an-
zugeben begann: in Berlin war er nahezu mit sich
allein. Weder eine alte Gesellschaft noch ein
starker, einflußreicher Untergrund von Volkstum
trat ihm entgegen und hemmte ihn.“ So mußte
freilich nach dem Zusammenbruch eine Oberschicht
übrig bleiben und weiter gedeihen, die noch viel
ungehemmter war und aller Voraussetzungen zur
Gesellschaftsbildung ermangelte. Man traf sich zu
technischen Zwecken, ohne sich zum Miteinander
leben zu verstehen, und tauchte in zahllosen Klün
geln unter, die nur den Mangel eines allgemeineren
Consensus bewiesen. Kurzum, die Oberschicht war
und ist alles andere eher als eine wirkliche, zur
Führung berufene Gesellschaft. Und mit Recht,
wenn auch nicht ohne Uebertreibung, wird die
Frage aufgeworfen: „Die Ohnmacht der Zentralen,
der politischen, bürokratischen, verwaltungstechni
schen, der Meinungszentralen, die in Berlin gehäuft
sind ... dieses völlige Versagen der Selbst- und
Staatsverwaltung gegenüber den Riesenaufagben der
Krise — wo hat das alles seine Wurzeln, wenn
nicht in dem Fehlen einer geschulten Schicht, einer
Elite? ... Oder vielmehr: muß diese Apparatur
nicht versagen, wenn der geistige Ausgleich, die
seelische Beziehung zwischen denen stockt, die sie
bedienen?“
Dringt Ullmann auch nicht zu den letzten Grün
den der von ihm beschriebenen Zustände vor, so
wertet er doch seine Einsichten mit einer guten
Besonnenheit aus. Sie wird dort zur außerordent
lichen Tugend, wo sie nicht aus Kompromißlust
hervorgeht, sondern aus - dem Wunsch, umfassend
zu urteilen. Ullmann erkennt genau, daß die Schä
den, die sich in Berlin besonders drastisch dar
bieten, gesamtdeutsche Schäden sind, und
lehnt alle Versuche ab, die Berlin gewissermaßen
zu einem Geschwür am deutschen Volkskörper stem
peln wollen. Und die eigentliche Bedeutung seines
Buches besteht aber darin, daß er aus seiner Kritik
nicht die üblichen Schlüsse zieht, zu denen die
Widersacher Berlins in Berlin selber und in der
Provinz gelangen. „Nein, die bloße Negation »Ber
lins 4 tut es nicht. Berlin . . . als soziologische Tat
sache, als irgendwo in Deutschland vorhandener
Zentralenapparat und damit als Zustand und Pro
blem wird immer bestehen. Es ist ohne Zweifel ver
dienstlich, gegen die Ueberwertung der Maßstäbe,
die aus »Berlin 4 stammen, zu kämpfen. Aber es
ist weder tapfer noch fruchtbar, vor jenem Problem
als solchem in das Idyll und das romantisch über
steigerte Ideal einer (nie und nirgends bestehen