Skip to main content

Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.11/Klebemappe 1932 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

nicht mehr vorzustellen, als sie faktisch sind. Die Worte be 
grenzen sich; die Realität setzt immer wieder Ideologien außer 
Kurs. 
Was die Beziehungen zwischen den Klaffen und Berufs 
schichten betrifft, so versichert man mir, daß die Mischung sich 
gut entwickle. Die Arbeiter legen ihre anfängliche Befangen 
heit in den Arbeitsgemeinschaften um so leichter ab, als sie bei 
der körperlichen Vormittagsarbeit die Ueberlegenen sind. So 
brauchen sie sich nicht in jeder Lagersituation zurückgesetzt zu 
fühlen. Außerdem befindet man sich ja in einem halben Natur 
schutzpark, in dem die gesellschaftlichen Kontraste sowieso schon 
etwas gedämpfter sind. 
denunziert sich selber als politische Naivität. 
Nicht anders kann man jedenfalls das Ansinnen bezeichnen, 
das^heute aus der Bewegung heraus an den Staat gestellt 
chaß er den Freiwilligen Arbeitsdienst um seiner volks- 
Eltlschen Ziele w-llen auch auf Kosten der wirtschaftlichen 
Rentabilltat durchfuhren möge. Sieht man selbst davon ab 
daß ein so stark wirtschaftlich bedingtes Unternehmen wie der 
Freiwillige Arbeitsdienst die ökonomische Rentabilität nicht 
«über acht lassen darf, so ist doch noch zu fragen, ob 
den volkspolitischen Zielen der Bewegung tatsächlich damit 
gedient , Ware, wenn die Regierung auf einen solchen Vor- 
ihnen gar nicht damit gedient, 
und wahrscheinlich bemeE man nicht einmal, daß wenig dazu 
gehört, um die Arbeitslager in ein Instrument der Kultu r- 
reaktion zu verwandeln. Schon heute zeigen sich Ansätze 
zu einer Entwicklung in dieser Richtung, die auch dem 
ahnungslosesten Gemüt zu denken geben sollten. Ein Laqer- 
teilnehmer antwortet auf meine Frage, wie sich junge Kom- 
Nationalsozialisten nach Absolvierung des 
Lagerdienstes verhielten, daß die Radikalen meistens „ge 
brochen zu ihren Parteien zurückkehrten und nicht mehr recht 
zu gobrauchew seien. Ebenso wird nach Schellenberg von den 
Arbeit N betont, „daß sich neben der Hebung, 
fArbeitsfreu.dlgkert das Gemeinschaftsgefühl nach der 
idealen Seite hm stark gehoben habe, Ablehnung des Radi ¬ 
kalismus und positive Einstellung zum Staate seien die be 
herrschende Haltung." Wenn es aber so ist, daß die Arbeits 
lager das Einschwingen in eine höchst problematische Mitte 
begünstigen, wenn sie junge, revolutionär gesinnte Leute nicht 
nur kritisch gegen das Verhalten ihrer Partei stimmen, sondern 
auch von jenem entschiedenen Denken abbringen, das den Ehren 
namen des radikalen verdient, wenn sie einen Zustand her 
vorrufen, in dem die eine Radikalität so wenig wie die andere 
gilt — dann befördern sie in Wahrheit nicht die Volksgemein 
schaft, sonden die politische Stagnation; dann bilden sie nichr 
die Keimzelle neuer Gestaltungen, sondern werden zum Werk 
zeug der nach rückwärts gerichteten Mächte. Dergleichen.fängt 
klein an und hört schlimm auf. Die naiven Ideologen der 
Bewegung sollten begreifen, daß sie zuletzt nur den Kräften 
in die Hand arbeiten, die mit den Arbeitslagern ihre eigenen 
Pläne verfolgen. 
/ Jeder Versuch, die Arbeitslager mit' positiven Bedeu 
tungen zu überlasten, sie als Vorform der Volksgemeinschaft 
aufzuziehen und überhaupt politisch auszuwerten, muß Ent 
täuschungen zeitigen; wenn er nicht gar der Reaktion mittel 
bar zugute kommt. Diese Erkenntnis besagt nichts wider die 
Bewegung selber. Nur wird ihr Sinn nicht dort anzutreffen 
sein, wo ihn die Gutgläubigen zu finden hoffen. 
Ein auffälliges Merkmal der sozialen und politischen 
Kämpfe in Deutschland ist ihre Abstraktheit. Es ist, als 
schlügen sich nicht so und so bedingte Menschen und Gruppen 
mit Hilfe von Parteiprogrammen, sondern als befehdeten sich 
Parteiprogramme mit Hilfe irgendwelcher Menschen. Die 
Programme sind gewissermaßen allein in der Welt und die 
Menschen nur eine Konstruktion. Dieser Grundgug geht durch, 
er bestimmt das Verhalten auf der Rechten und auf der Lin 
ken. Bezeichnend für ihn ist z. B. die ungehemmte Leichtigkeit, 
mit der die Parteien ihre Taktik sprunghaft verändern. Die 
Position des einen Tages wird durch die des nächsten 
desavouiert, und die Sprünge sind Lustsprünge. Wer soll 
dem folgen? Hätten die Aktionen wirklich Träger, so müßten 
sie sich anders entwickeln. Aber eben die menschlichen Träger 
scheinen nicht vorhanden zu sein. Es fehlt die Substanz, an 
der das politische Handeln zu haften vermöchte. Die Masse 
der Menschen ist nicht in Parteien organisiert; umgekehrt 
vielmehr: aus der Tatsache der Parteimitgliedschaft folgern 
die Organisierten erst, daß sie auch Menschen seien. Der beste 
Beweis dafür ist, daß sogar untergeordnete Fragen rein sach 
licher Natur von dem ihnen unangemessenen parteipolitischen 
Standpunkt aus entschieden werden. Das Parteidogma regiert 
unumschränkt auf Kosten der Personen, die es verfechten, und 
fetzt sich noch über die gesellschaftliche Wirklichkeit hinweg. 
Auf der anderen Seite genießt dann innerhalb der nationalen 
Bewegung der „Führer" geradezu göttliche Ehren; aber dieser 
unbegründete, phantastische, ja widersinnige Führerkultus ist 
nur der totale Widerspruch zur Abstraktion vom Menschen und 
vorrat ebenfalls, daß bei uns politische Theorie und mensch 
liche Praxis einstweilen nicht zueinander kommen können. 
W—ie d—ies.e..r Zustand sic,h —au--s-w--i-rkt, weiß jeder. Von der 
leibhaft existierenden Bevölkerung aus betrachtet, verhindert 
er die Entstehung des geringsten außerpolitischen Konsensus. 
Da die Menschen ja nur insofern Menschen darstellen, als sie 
von ihrem Parteibuch bzw. der dem Parteibuch gemäßen Ge 
sinnung okkupiert werden, öffnen sich Abgründe zwischen 
ihnen, die aber gar nicht Abgründe zwischen Menschen, son 
dern zwischen Schemen sind. Morden sich denn die lebendigen 
Träger politischer Ueberzeugungen in den Straßenschlachten? . 
Keineswegs. Die aufeinander losknallen, sind gespenstische 
Produkte von Ueberzeugungen, und erst ihre Leichen enthüllen 
Widder, daß sie auch Menschen waren. 
z? Seite der Parteiziele und -Programme aus be- 
Während mehrere politische Parteien die Arbeitslager 
bewegung mit Mißtrauen verfolgen, knüpft man in den Kreisen 
der beteiligten Jugend selbst und auch anderswo die größten 
Hoffnungen an d^ Lager. Lampel fragt einen der Jungen: 
„Ihr nehmt euch zum Ziel die Erweckung des Volkes?" Der 
nickt und antwortet: „Die Lösung von der Jugend her." Viele 
glauben in der Tat, daß diese Lager der Kern einer kommen 
den, politisch auszuwertenden Volksgemeinschaft und damit 
„die Lösung" seien. „So können die Arbeitslager da 
draufcn," schreibt Pros. Walter Norden in seinem Vorwort 
zu Schellenbergs Buch, „zu Keimzellen einer gefestigten, ver 
tieften und verbellen Volksgemeinschaft werden" Und auch 
die letzten Erlaffe des Reichslommissars für den Freiwilligen 
Arbeitsdienst Dr. Syrup sprechen von dem „echten Gemein 
schaftsgeist", den der Arbeitsdienst zu Pflegen habe. 
Nichts wäre der richt gen Entwicklung der Arbeitslager 
hinlvrlicher als dieso sie zu „Keimzellen zukünftiger politi 
scher Gestaltungen zu machen und sie derart ideologisch zu 
übersteigern. Wenn man sie als dsn Kern einer neuen Volks 
gemeinschaft ansieht und dementsprechend behandelt, erstickt 
man nur von vornherein die Möglichkeiten, die sie vielleicht 
bieten. Warum? Weil jeder Versuch, die Volkslager unmittel 
bar politisch auszukonstruieren, an der politischen Realität 
scheitern und sie damit selber zum Scheitern bringen muß: 
weil er ihnen einen Geist einhaucht, der ihrem ursprünglichen 
zuwiderläuft. 
Zugegeben, daß in den interkonfessionellen Arbeitslagern 
die Jugend aller Volksschichten sich aufeinander abstimmt und 
ihre Gemeinsamkeit Zu empfinden lernt. Aber wie dieses 
jugendliche Empfinden der Gemeinsamkeit von sich aus 
politisch wirksam werden soll, ist nicht einzusehen. Die Jugend 
bewegung in ihrer keineswegs zufälligen Unkenntnis der 
politischen Realität hat von jeher den guten Willen und Ge 
meinschaftsgefühle für bare politische Münze genommen; statt 
der Tatsache inne zu werden, daß in der politischen Sphäre 
Interessen regieren. Um eine eingreifende politische Bedeutung 
zu erlangen, hätte sich also die Arbeitslagevbewegung als eine 
politische zu konstituieren; d. h. ihre Anhänger dürften nicht 
in den Wahn verfallen, daß bereits die Lagerform als solche 
politische Konsequenzen nach sich ziehe, sondern müßten 
Stellung zu unserer Wirtschaftssituation, zur sozialen Schich 
tung, zu den Parteiinteressen usw. nehmen und sich dann zur 
Lagerform aus politischen Konsequenzen bekennen. Diese Not 
wendigkeit der Eingliederung einer an sich noch nicht politi 
schen Erscheinung, wie es die Arbeitslager sind, in reale 
politische Zusammenhänge faßt E. W. Eschmann, der Mit-; 
arbeiter der „Tat", ins Auge, wenn er im Vorwort zu dem 
Sammelwerk: „Wo findet die deutsche Jugend neuen Lebens 
raum?" die Forderung des obligatorischen Arbeitsdienstes 
durch die Sätze ergänzt: „Am furchtbarsten wäre wohl das 
Zusammenschließen eines solchen allgemeinen Avbeitsdienst- 
jahres aus den... freien Arbeitslagern der Jugend aller 
sozialer Schichten, denn hier sind die geistigen, sozialen und 
wirtschaftlichen Vorbedingungen des Arbeitsdienstjahres be 
reits praktisch erforscht worden. Andererseits ist es notwendig, 
daß dieses Arbeitslager sich in zunehmendem Maße als Vor 
posten des unvermeidlichen allgemeinen Arbeitsdienstjahres 
fühlen und ihre Fragestellungen danach einrichten, indem sie 
ihrem nationalpädagogischen Anfang eine staatspolitische und 
nationalwirtschaftliche Fortsetzung geben. Das bisher richtige 
Bestehen auf der rein pädagogischen Bedeutung der 
Arbeitslager würde die Gefahr mit sich bringen, daß vielleicht 
das kommende Arbeitsdienstjahr nach unsinnigen, veralteten 
Vorstellungen organisiert wird und eben den pädagogischen 
Erfolg der freien Arbeitslager wieder zerstört. Wie überhaupt 
ist auch hier, gerade hier, die Behauptung von der Autonomie 
der Pädagogik scharf zurückzuweisen. Gerade hier ist zu be 
tonen, daß es eine Pädagogik außerhalb des Staatlichen und 
Sozialen nicht gibt und nicht geben kann." Lehnt man auch 
das allgemeine Arbeitsdienstjahr ab, so muß man doch die 
Gültigkeit der in Eschmanns Forderung mitgesetzten Erkennt 
nis einräumen, daß die Institution des Arbeitslagers nur 
dann einen politischen Sinn erhält, wenn sie als Glied einer 
politischen Konstruktion auftritt. Als eine Einrichtung, die. 
aus eigenem Antrieb in die politische Sphäre hineinwirken 
will, bleibt sie zur Ohnmacht verdammt. Oder hat etwa der 
Frontsoldatengeist in der Politik der Nachkriegszeit sich durch- 
zusetzen vermocht? Und doch ist die Kriegsgemeinschaft binden 
der gewesen als die Gemeinsamkeit in den Lagern. 
Die romantische Illusion, daß aus der Wirklichkeit der 
Arbeitslager direkt die der Volksgemeinschaft
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.