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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.11/Klebemappe 1932 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

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Aber das ZahlenL-ild ist nicht nur zum Mittel aller dieser 
Zwecke geworden, sondern entfaltet sich weit über sie hinaus, einem 
noch verborgenen Ziel entgegen. Tatsächlich erfreut es-sich heute 
einer Beliebtheit, deren Sinn sich nicht ohne weiteres erraten läßt. 
an jedem Lag des Jahres und zu jeder Tageszeit unschwer enr- . 
nehmen läßt. Nett ist das Räderwerk, das für die Verwendung 
von Phssphorsäuredünger wirbt, und schlagend das bunte Plakqr 
des Reichsmilchausschusses, das die Bauern dazu bestimmen möchte, 
ihrer Butter die marktgängige Qualität Zu verleihen. 
Kaum der Erwähnung bedarf, daß die Ueberredungsgewalt 
des Zahlenbildes von der Agitation nach bestem Vermögen 
ausgenutzt wird. Gind Zahlen nicht immer beweiskräftig, so liefert 
doch das Bild zum mindesten den kräftigen Schein des Beweises. 
Manchmal kommt dieser auch ohne Schein gar nicht aus, weil er 
sich sonst gleich als Scheinbeweis enthüllte. So bedient sich die 
Vereinigung der deutschen ArLeitgeberverbände eindrucksvoller 
Kurven, um das Verhältnis der Tariflöhne und der Großhandels 
preise in eine ihr günstige Beleuchtung Zu rücken. Aber die Kurven 
sind ziemlich willkürlich genullt und lassen einige Faktoren aus, 
die in diesem Zusammenhang wichtig wären. Sehr interessant ist 
die KrM-Mrstellung des Vereins deutscher Maschinenbauer, dre 
den ReinprsduktionswerL der Industrie mit dem kleineren Der 
Landwirtschaft konfrontiert und die Autarkie-Schwärmer sinnfällig 
widerlegt. An der Wand der Reichszentrale für Heimatdienst wirv 
für die Ankurbelung der Wirtschaft gekämpft und mit vielen Tep 
pichnägeln ein schauriges Bild unseres waffenlosen Zustands rn 
die Köpfe genagelt. 
Entstehung von Volkskrankheiten, Unfällen usw. zu unterrichten. 
Und wer etwa die Berliner Ausstellungen der letzten Jahre be 
suchte, wird beobachtet haben, daß sie in steigendem Maße Sinn 
bilder zur Veranschaulichung von Quantitäten verwenden. Sie 
greifen zu Photomontagen, sie nehmen alle möglichen bekannten 
Zeichen und Vorstellungen zu Hilfe, um den Gehalt der Zahlen 
durch eine eingängige Bildersprache zu popularisieren. Da nun Aus 
stellungen nahezu durchweg dem Allgemeininteresfe dienen oder doch 
ihm zu dienen vortauschen müssen, ist dem Zahlenbild von Anfang 
an die Bestimmung mitgegeben, ein Wissen auszustreuen, das den 
Massen nutzt. Die Hygiene-Ausstellung hat Propaganda für die 
Volksgesundheit gemacht, die Bau-Ausstellung die Wohnkultur zu 
fördern gesucht. Seiner Herkunft nach ist also das Zahlenbild In 
strument einer Aufklärung, die keineswegs nur müßige Ziele ver 
folgt, sondern die gesellschaftlichen Lebensbedingungen verbessern 
Will. 
Es ist, als wolle man aus einer Art von Zwang heraus den gan 
zen statistischen Stoff unter die Massen bringen. Das statistische 
Reichsamt etwa gibt seiner kleinen Sonderschau den Titel: „Popu 
larisierung der Statistik" und führt dem Publikum auf graphische 
Weise eine Menge von Daten zu, die man vielleicht nicht alle not 
wendig Zu wissen brauchte. Der Eifer des Reichsamtes ist so groß, 
daß es sogar die Zukunft Ziffernmäßig vorwegnimmt; jedenfalls 
entwirft es ein Zahlengemälde, das die schon geborenen und die 
noch ungeborenen schulpflichtigen Kinder im Alter von 6 bis 14 
Jahren von 1880 bis 1940 enthält. Bezeichnend für den Zug zum 
Zahlenbild find auch die in den Schulen verunstalteten Lildstatisti- 
schen Uebungen, deren Früchte in der Ausstellung farbig erglän 
zen. Zahlreiche Arbeiten veranschaulichen das Bemühen deutscher 
und japanischer Schüler, sich alle möglichen Quantitäten durch 
Kreise, Karten und Männchen ein für allemal einzuprägen. Der 
Gegenstand, auf den sich ihre Darstellungen beziehen, ist in der 
Regel die Volkswirtschaft und das staatliche Leben. 
Woher dieser Vorstoß des Allgemeinbewußtseins ins Zahlen 
gebiet? Andere Zeiten als die unsrigen Haben das Wissen um die 
Zahlen „ , die unser gesellschaftliches Dasein betreffen, entweder 
verpönt oder als ein Geheimnis gehütet. Wenn solche Zahlen 
jetzt an die Öffentlichkeit getrieben werden, so kann das nur den 
Sinn haben, daß die Öffentlichkeit mit ihnen umgehen soll. Viel 
leicht steckt in der Tendenz zum Zahlenbild die zum planwirt 
schaftlichen Handeln. Denn eine Grundvoraussetzung dieses Han 
delns wäre allerdings die Vertrautheit des Volks mit den Zahlen, 
die es erzeugt. 
Statistische Zahlen sind vieldeutig, und wer sie zu interpretieren 
hat, kennt ihre Gefahren. Aber stellt sich eine der vielen Bedeu 
tungen, die ihnen innewohnen, bildlich dar, so treten die nicht 
illustrierten Bedeutungen gern in den Hintergrund zurück. Denn 
dem Bild eignet eine starke Versührungskraft, die vor allem kritik 
lose Menschen gefangen nimmt. Es fordert ausschließliche Hingabe, 
es verdrängt die Möglichkeiten, die in ihm nicht einbegriffen sind. 
Kein Wunder, daß sich Reklame und Propaganda des 
Zahlenbildes bemächtigen. Die Berliner Städtischen Gaswerke 
lenken Zum Beispiel dadurch die Aufmerksamkeit auf sich, daß sie 
die Größe ihres Betriebs demonstrieren. Ihre Rohrleitungen 
reichen, wie aus drastischen Abbildungen hervorgeht, von Berlin 
bis fast nach Neufundland, und unter der Last ihrer jährlichen 
Koksmenge erstickt das riesige Karstadt-Gebäude. Nach ähnliches 
Methoden verfahren die sozialhygienischen Reichsfachverbände, die 
Auto-Industrie oder die Berliner Elsktrizitätswerke, die unter 
anderem ein interessantes „dreidimensionales Belastungsgebirge* 
zeigen--ein plastisches Modell, dem sich der Elektrizitätsverbrauch 
* 
Jedermann kennt die graphischen Vergegenwärtigungen, um 
die es hier geht, von den Reklamen in Schaufenstern her, aus 
den Zeitungen usw. Man sieht Männchen nebeneinander, deren 
Zahl oder Größe eine Vorstellung von der Bevölkerungsdichte in 
Deutschland gibt, erhält aus einer Kombination von Kreisen 
Aufschluß über die Bedeutung der Weltsprachen, wird durch Sinn 
bilder mannigfacher Art in die angenehme Lage gebracht, alles 
Wissenswerte über die Rassen der Erde zu erfahren. Der Zweck 
dieser Zahlenbilder ist immer der gleiche. Sie wollen das Ver 
ständnis gewisser Zahlenwerte dadurch erleichtern, daß ste diese 
Werte in einer Gestalt vorführen, die ihre sofortige Erfassung 
ermöglicht. Während die nackten Zahlen ein Nacheinander sind, 
das sich dem Leser nur schwer erschließt, setzt ihre Verbildlichung 
den Betrachter mit einem Schlag ins Bild. Ohne erst auf lang 
wierige Beschreibungen angewiesen Zu sein, hat er die von den 
Zahlen gemachten Aussagen über Zustände und Entwicklungen 
unmittMar vor Augen. Das Zahlenbild illustriert ja nicht allein 
den reinen Zahlentext, sondern gibt Zugleich den Kommentar 
dieses Textes figürlich wieder. Es ist die Gestalt einer Zahlen 
reihe zuzüglich ihres Sinnes. 
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Zahl und Iild. 
ILir. Berlin, im November. 
In den Räumen des Zentralin st ituts für Er 
z i e hung u nd Unterricht ist zur Zeit eine interessante 
Ausstellung Zu sehen, Sie nennt sich: „Zahl und Bild" und 
veranschaulicht an Hand zahlreicher Beispiele die verschiedenen 
Methoden, nach, denen heute die Ergebnisse der.Statistik bild- 
mäßig- dargestellt werden. Um gleich die nötigen Daten zu geben: 
verunstaltet worden ist die Schau vom Zentralinstitut selber unter 
Mitwirkung des Reichskuratoriums für Wirtschaftlichkeit, dessen 
Referent Dr. Kurt H. Busse die Sachbearbeitung übernommen 
hat. Für die gute Aufmachung zeichnet der Deutsche Lichtbild 
Dienst verantwortlich. 
O 
Inzwischen hat sich die Neigung zum Zahlenbild längst ver 
selbständigt und ist den verschiedensten Zwecken Untertan gemacht 
worden. Obwohl hier, vom wissenschaftlichen abgesehen werden soll, 
der die ZahlwM heraufbeschworen hat, noch auch 
grundsätzlich auf sie angewiesen ist, möchte ich doch eines einzig 
artigen VÄs^ das die Ausstellung auf 
Zeigt. Ich meine den im Aufbau befindlichen A t la s der d e u t- 
s ch e n V o l k stund e, der von der Notgemeinschaft der deutschen 
Wissenschaft heraM wird. Dank der vorgelegten Proben er ¬ 
hält die Oeffentlichkeit zum erstenmal Einblick in die Methodik des 
gewaltigen Werks. Es kommt auf Grund einer Enquete Zustande, 
die über 20 000 Ortschaften umfaßt und das gesamte, noch erhaltene 
Kulturgut zu inventarisieren sucht. In den sorgfältig ausgearbeite 
tem Fragebogen, deren Beantwortung meistens den ortsansässigen 
Lehrern obliegt, finden sich Fragen wie diese: Wer bevorzugt den 
Montag als Hochzeitstag? Ist an den Häusern eine Dachrinne an 
gebracht, und- wem wird der Erstgeborene ge 
nannt?-Welche Namen- trW -der Palmstrauß.?- Jeder Frage ist 
eine eigene Karte Deutschlands gewidmet, in die alle zur betr^ 
dm Frage gehörenden Auskünfte mit Hilfe von Zeichen eingetragen 
werden; so daß man aus der Karte unverzüglich die Gegenden aL, 
lesen kann, in denen etwa die Katholiken den Montag als Hoch 
zeitstag bevorzugen. Natürlich sind die Karten durchweg im selben 
Maßstab gehalten, um die rasche Herstellung von Beziehungen zwi 
schen den einzelnen Befunden Zu erleichtern. Wenn das Werk erst 
vollendet ist, wird unser Besitz an altem Kulturgut in einer bisher 
ungeahnten Weise erschlossen sein, und aus seiner geographischen 
Fixierung werden sich dann zweifellos neue Erkenntnisse ergeben^ 
- Jeder quantitativ durchdrungene Stoff läßt sich selbstverständ 
lich auf mannigfaltige Weisen versinnlichen. Man mag ihm mit 
Kurven Leikommen, mit Säulen, mit Meßbildern, in denen 
Figuren verschiedener Größe auftreten, oder mit Zählbildern, in 
denen die Zahl und ihre Bedeutung durch bestimmte Mengen 
schematischer Bildchen repräsentiert werden. Die Ausstellung 
gestattet nicht nur einen lehrreichen Vergleich zwischen den Dar- 
stellungsartm, sie lehrt auch erkennen, daß jede ihre Vorteile und 
Nachteile hat. Und zwar entspinnt sich fast stets ein Konflikt 
zwischen Genauigkeit und Anschaulichkeit. Während bei Meß 
bildern, die verschieden große typische Bilder enthalten, der 
Ziffernmäßige Wert des Bildes in der Regel zurücktritt, verküm 
mert Lei Zählbildern gemeinhin der Inhalt des gewählten 
Symboles auf Kosten seiner Menge. Welche Methode sich als die 
beste empfiehlt, kann nur von Fall Zu Fall entschieden werden 
und hängt nicht zuletzt von den mit der Verbildlichung jeweils 
verbundenen Absichten ab. 
Die Tendenz Zum häufigen .Gebrauch des Zahlenbildes ist 
modernen Ursprungs. Ausgebildet worden ist sie Zuerst in den 
großen Ausstellungen, in denen es darauf ankam, gewisse 
statistische Erkenntnisse dem breiten Publikum einzuhämmern. So 
hat zum Beispiel die Dresdener Hygiene-Ausstellung schon vor 
dem Krieg mit Zahlenbildern zu arbeiten begonnen; aus dem 
Bedürfnis heraus, die Besucher möglichst schlagkräftig über die
	        
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