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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.04/Klebemappe 1924 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Verfolg eines sich über den Köpfen der Menschen vollziehenden 
Prozesses oder durch den zur Freiheit entbundenen schöpferischen 
Willen, ob erst im Unendlichen, oder schon hier im Endlichen — 
ste sind sich alle darin verwandt, daß sie eine abgeleitete Be 
stimmung zur höchsten emporsteigern. Ohne der Bedingtheit des 
Irdischen nachzusragen, das ihnen mehr oder weniger in sich 
selber befriedet scheint, fordern oder setzen ste skrupellos die 
Vollkommenheit menschlicher Zustände, die doch immer nur ein 
zweites ist — eine Wirkung der Gnade nämlich —, wenn sie 
denn überhaupt heranreifen soll. Freilich darf auf keinen Fall 
der Unterschied an Tiefe und Existenzfülle verwischt werden, 
der etwa zwischen einer eudämonistischen Zivil!sationZphilosophie 
vom Schlage der Spencer fchen und dem heroischen Kuld'"- 
ideal Nietzsches besteht. Während jene, die nur dann ei 
von ihrer Flachheit verliert, wenn man sie mit der traditionS- 
starke r englischen Wirklichkeit Zusammenhalt, die- menschlichen 
Unzulänglichkeiten nicht eben tragisch nimmt, da sie ja doch 
am Ende der Zeit das größte Glück der größten Anzahl winken 
sieht, begreift Nietzsche die Kultur als einen durchaus tragischen 
Vorwurf, der sich nicht wie irgend ein Rechenexempel ohne 
Rest bewältigen läßt. Dieser Hemmung ungeachtet, stellt er 
freilich seinen „Uebermenchen" auf die Beine, der die Gren 
zen des Menschlichen sprengt, weil er die Welt von sich aus 
schöpferisch meistern möchte. Aber der Gigant kann" nicht 
stehen und seine verkrampfte Haltung ist nur ein Umschlag 
jener Skepsis des früheren Nietzsche, die noch ein sehr deutliches, 
wenn auch verzerrtes Wissen um die menschliche Brüchigkeit 
bezeugt. 
Holzapfel übertreibt die ungebrochene Kulturgläu 
bigkeit des neunzehnten Jahrhunderts so grotesk, daß sie 
durch ihn, wie man meinen sollte, eigentlich aä Lbsuräum 
geführt werden müßte. Buch bringt er es zuwege — gewiß ein 
Verdienst —, die in verschiedenen Höhenschichten einlagernden 
Anschauungen dieser Epoche tüchtig ineinander zu wirren und 
derart indirekt auf ihre Zusammengehörigkeit aufmerksam zu 
machen. Er amerikanisiert Nietzsche und zaubert aus angel 
sächsischem Militarismus eine Renaissance-Kultur hervor; so 
tritt doch wenigstens die gemeinsame Wurzel der beiden Be 
griffe „Zivilisation" und „Kultur" zutage, die in unserer Zeit 
vielleicht noch nicht genügend erkannt wird. Keinen Augen-! 
blick kommt dem salkMucke-man der Gedanke, daß Kultur 
überhaupt eine paradoxe Angelegenheit fei; menschliche 
Schöpferkraft feiert bei ihm vielmehr ihre unbedingten und 
erschrecklichen Triumphe, und das Ergebnis ist die ungetrübte 
Apotheose des Menschlichen. Die Verhärtung der Dogmen, di 
Starrheit ethischer Normen: alles Schwierigkeiten, die gerade 
in der menschlichen Bedingtheit gründen und nur in täglichem 
Kampfe immer Meut «nzugreifen sind, ohne auf yMnifats- 
mögen, die <ü- solche doch noch gar keimen Sinn in sich bergen. 
So löst flo da» Wirkliche auf und zerftäubt es zu Schein. Sich 
den verschiedensten Kultur- und FsrtschciWlehren ver- 
schwistsnd, fetzt sie mit Nietzsch« den ungeleiteten Willen 
Mr Macht absolut, nimmt mit Der g son ein« sich schöpferisch 
entwickelnd« Lebenskraft an, die nur nicht weiß, wobm sie sich 
eigentlich entwickln soll, und behandelt, w!« Valhinger in 
seiner .Philosophie des W-OL" es tut, die Msral als bloß« 
Fiktion. 
HohapWs SselenstnMmg U von erfchüt^rnder DÄnali- 
M, aber gerade darin besteht ihr Verdienst. Denn aus der har 
monischen Ehe, die sie mit dem Schetnideal „größtmöglicher 
Vervollkommnung" der Kultur an Haupt und Gliede n ^ngeht, 
erwachsen Früchte, an denen man di« ganze Nichtigkeit der 
psychologisieverchen BetrschiungSweis« zum Greifen deutlich er 
kennen kann. Höchst ungeheuerlich, was diese Forschung in 
der grundlosen Seele ergründet. Sie entdeckt, worauf gewiß 
noch kein Betender verfallen ist, daß Gebete die Willenskraft 
steigern, wenn sie „Vorstellungen vom Mächtigsten und Voll 
kommensten wiederholt und eindrucksvoll festhalten", sie degra 
diert di« Götter und den kategmckschen Imperativ W plumperen 
»der feineren „Substantialisierungen" ter Gewissensstimme und 
behauptet die WhängigSeit der „UnsterbliKeltssehnsucht" von 
intensivsten Lustgefühlen. Urzeugung der Wirklichkeit aus dem 
Schlamm der entwirklichten Ss-l«: das ist recht eigentlich das 
Streben dieser Psychologie. Erst macht sie das Etwas der Un- 
, strrSlWeitSixcheißung zimichds, dann holt sie aus dem Nichts 
der Lustgefühl« jenes Elwas wieder hervor — ein Tas^n- 
WKEertrick, der sich damit erledigt, daß das nun von ihr pwdu- 
Hisrte Etwas garnicht wehr dM früher wsg^Mckert« ist Da 
st« zudem nicbt eirmml als schlicht besckmck^ude Psgchskoai« 
, Besonderer leistet, ist zu befürchten, daß Holzapfels prasumtive 
„MenschheitsküMer" mit ihrer HLf« Wr wenig auSzurichten 
dermöse». 
* 
' Schwer M PMn, Baß dieses Schemen noch rmwchen 
kann. Lockt es durch seine Ueberbetonung des Schöpfe- 
i Äschen, weckt feine Kulturbegeisienmg Gip^kvausch? Wer 
dÄ Lösung, die es bietet, ist nie und nimmer Lösung, ja, 
, eine Lösung in solcher Richtung auch nur zu suchen, führt schon 
sö vom Weg. Denn gegenüber panidealistischer Ausartung der 
, sich unbedingt setzenden Geistes gilt mtt Strmx: Kultur bleibt 
- Mkglich dann eine Möglichkeit, wenn sre rmter der immer- 
f wahrenden Frage ficht, und soll das Schöps-eriche je bejaht 
; werden diirs-n. so ist es nicht minder von Grund auf zu ver 
Minen. — Allein das Bewußtsein von der Grenze des 
Reise gibt, ist nur Nachspiel — Nachspiel und Ausräucherung 
der Psychologie des ausgehenden neunzehnten Jaho. 
Hunderts, die, mannigfach abgewandelt, in Literatur und Philo 
sophie auftritt und derselben niederen Sphäre angehört wie das 
den Kulturb-griff nutzende Denken, mit dem ste zumeist sich ver 
bündet. Weiß der Mensch noch um seine Kreatürlichkeit und 
spannt'er sich — in negativem oder positivem Sinne — über 
sie hinaus zu dem, was ihr schlechthin überlegen ist, so hat er 
Mchsom einen Richtpunkt von höchster Wirklichkeit, denn mchis 
kann je wirklicher sein als Gott, auf den er sich derart w.e 
immer bezicht. Insofern nun die Gewißheiten, die dem Geists 
dann entorgentreirn mögen, aus seiner Verbundenheit mrt 
dieser höchsten Wirklichkeit herrühren, sind sie letzte und äußerste 
Gegebenheiten: ersahvbar wohl, doch n'cht selber wiederum «UÄ 
anderen Gegebenheiten abzuleiten. Es geht darum nicht an, 
theologische Begriffe wie etwa „Unsterblichkeit", „Gnade, 
„Sünde", deren Gehalte sich allenfalls dem in der entschs.oendrn 
Spannung befindlichen Menschen erschließen, als Auswirkungen 
psychischer Vorgänge, als „Erlebnisse" zu begreifen; v.Ä 
eher schon hätte man umgekehrt von ihrer WiMchkcit her^ d» 
sich nicht begründen, sondern lediglich hinnchmen laßt, den Sinn 
der psychischen Vorgänge zu bHHmmen. Der Weg der ricy'MN 
Deutung führt stets von oben nach unten, und auch d.« 
seelischen Phänomen« bedeuten nur etwas im VerhdltmS M 
jenen letzten Gegebenheiten, die der auf die höchste WiMch- 
kert ausgerichietr Mensch erfährt. So ist, um ein BÄsM M 
nennen, Franz v. BaaderS Auffassung des Geimsseus 
als „Cewiß-wissen des Erkmnffeyns von Gott" eine durch 
aus rechtmäßig« Bestimmung des Seelischen. Em DeriMM 
das die dem hrnigeMmrlerMeN's^ , sm) dan-ielenden 
WiMchkLiLsaehalte zu Exponenten mnerpsy^ychen 
macht, ist smnwidrM, da es das UnMeitLare Ef das erst 
zuleitende zurückzuführen sucht. 
Der bei der Psychologie anhebende Geht des neunzehnten 
JalÄunderts, der aus der Verbundenheit mit den! ihn Be 
dingenden entglitten ist, schlägt notgedrungen dle'M, Verthuen 
ein Wie er des Postulat menscylicher HouMntwicklung un- 
ludwklih an die erste Stelle rückt, so versackt er E und mehr 
i-, der unaerichteten Deschre'bung der entspannten Seele, einer 
e-'eele die ihren HSSKsn R'chtpünkt verloren Hai und daher 
unendlich zerstießt. Ein- solch« PMwlogk ab«, der dre 
sckPN Befund-, und zwar di« Befund« einer Er«rch gewor- 
Seele, stw's Letztes sind, geht gen-« den ^ von unten 
-aL oben sie m-cht nur Grundlage der Erklärung, was 
'ÄI der ErKLwng bchüMg ist. Statt die Gewißheiten deS 
sich zur höchsten Wirklichkeit verhaltenden M-niV-n unan^ 
Net selLn u lassen, deutet sie dies« E E L 
erfahrenen Gewißheiten aus 
rischem, rein menschlichem Wege je ganz überwindbar zu 
sein — Holzapfel zweifelt nicht daran, daß sie radikal getilgt, 
werden können. „Größtmögliche Vervollkommnung", so lautet 
seine Devise und ein „Wir schafsens" scheint steter Refrain. 
Ueberall setzt der Unermüdliche seine Hebel an. Da ihn die 
Begrenztheit der meisten Menschen nicht befriedigt, wünscht er 
sie tunlichst in Genies umzuwandeln, und da ihm auch die 
Einseitigkeit der meisten Genies kein Genüge leistet, fordert 
er, daß jedes'eine Art von Lionardo werde. So türmt sich' 
der Wolkenkratzer panidealisüscher Kultur auf, der Forschung, 
Kunst, Ethik und — Religion gleichmäßig und harmonisch 
umgreift. Ja, auch die Religion! Denn für Holzapfel 
versteht es sich von selbst, daß ste der Kultur-Kathedrale einzu- 
verleiben sei, er überhört, hierin durchaus typisch, die kritische 
Frage, die von ihr aus immer wieder an die Kultur gerichtet 
wird, und faßt es nicht, kann es nicht fassen, daß sie nur dann 
wahrhaft Religion ist, wenn sie sich paradox zu dem weltlichen 
Reich verhält, statt ohne Anstand in ihm auf- und unterzu 
gehen. Hiervon abgesehen muß man ihm nachsagen, daß er 
seine Sache gründlich anpackt. Gar sehr gepeinigt von dem 
Gedanken, daß die 'Genies planlos auswachsen, just, wie es 
Gott gefällt, projektiert er einfach seine Genie-Auszucht, die der 
leidigen göttlichen Zufallspolitik ein für allemal ein Ende be 
reitet und das Problem der kommenden All-Kultur erst wirk 
lich spruchreif macht. Es lebe die panidealist.sche Organisa 
tion! Eine Assembler von Lionardos, ein Institut für Ueber- 
menschen: das hätte sich Nietzsche sicherlich nicht träumen lassen. 
Diese fürchterliche Akademie weift irgendwie in die Rich 
tung nach Darmstadt, beschwört den Schatten der Weisheits 
schule herauf. Und als Parodie ist sie nicht einmal so ver 
ächtlich, denn sie karikiert Züge, die in der Tat für das Welt 
bild K e h s e r l i n g 8 bezeichnend sind. Genau wie dem Pan- 
idealisten schwebt diesem ja eine weit- und sphärenumspannende 
Totalkultur (die sogenannie „MenMeitsökumene^vor, die 
weiträumig genug ist. um d", 
gliedern, genau wie der Panid-alift will, cr d'r T.nftncm.::.! 
einsbnen, sämtliche W.deripcu^e u.w 
haupt alles in besten Einklang bringen. Freilich, die größt 
möglichst vervoMommneten Zöglinge der Holzapfelschsn Aka 
demie sind ihm zuletzt doch über. Das bischen Kulturbetrieb 
in eigene Regie nehmend, lassen diese „Menschheitskünstler" 
Gott einen guten Mann sein und führen von ganz alleine dir. 
Menschheit h-rrl'chen Zeiten entgegen. Vorausgesetzt natür 
lich, deß sie nicht das Schicksal jener Baumeister Lecken, tue 
einst den Turm von Babel errichtet haben. 
Auch dir Seelmforschung, deren Ergebnisse Holzapfel 
feinen KulturgeMLern zurbesseren „OrmüiLwNL" dir
	        
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