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Full text: H:Kracauer, Siegfried/01.05/Klebemappe 1926 - [Geschlossener Bestand der Mediendokumentation, Nachlass]

Heute noch M Lre'UerspMven der Bibel verweisen, die keineswegs 
rosig seien. Der Apostel ist zufrieden gewesen, etliche zu gewinnen, 
Luther hat erklärt, der alte Adam sterbe nicht. Können wir mehr 
erhoffen als jene? Zu fragen ist auch, fuhr der Redner fort, ob die 
Umgestaltung Lcr kapitalistischen Wirtschaftsordnung überhaupt in 
den Bereich der christlichen Aufgaben falle. Die Bibel enthält nichts 
über Kapitalismus und Arbeit; nichts auch über den Socialismus. 
Darum ist es Fälschung gewesen, wenn man, wie es Lei uns ge 
schehen ist, von der Kanzel herunter in den Kampf um die Wirt- 
schaftsanfchauungen ew hat. Gegenüber vielen Pfarrern 
ist die Mahnung auszusprechen: das Entscheidende, die Seel- 
sorge, darf nicht vergessen werden. Freilich, nicht nur die ein 
zelnen sind zu gewinnen, das Evangelium ist auch Zusammen 
schluß in Liebe. Hieraus ergeben sich nach Geh. Rat Titm-s 
(dsr sich übrigens als AnLi-Sozialdemokrat bekannte) g" 2 soziale 
Ausgaben: die Beregung der Individuen, ihre Vereinigung zum 
Ganzen. Das Evangelium wühlt die Menschen auf, macht «e un 
zufrieden; es hat einen gewaltigen Kritizismus in 
die Welt gebracht. Kritische Haltung gegenüber den Weltzuständen 
verbindet sich im Evangelium mit dem unbedingten Gehorsam 
ggen Go.t, der die Geschicke der Völker in Händen hat. Als drittes 
hat uns das Evangelium mit der Gabe der inneren Fröh 
lichkeit bedacht. Ohne diese DreilM der Kritik, des Gehor 
sams, der Fröhlichkeit aber kann es keine soziale Gemeinschaft geben. 
Für sie und für die soziale Wohlfahrt tritt natürlich auch der Christ 
ein. Zum Schluß Zog der Redner einige praktische Folgerungen 
aus den allgemeinen Grundsätzen. Er gedachte der Fortschritte des 
Sozialwissenschaftlichen Instituts in Stockholm und befürwortete 
die gemeinsame Regelung wirtschaftlicher Fra 
gen durch die Volker: so der Arbeitszeit, der Tarifpolitik, der 
Kartellierung. Hindernisse sind die Konkurrenz der Wirtschafts- 
grupprn und die Feindschaft der Völker. Sie lassen sich nur durch 
den guten Willen übrrwinden, der seinerseits wiederum nur 
auf dem Boden gemeinsamer religiöser Ueber 
zeugung entstehen Amn. Bei Gott ist es nicht unmöglich, schloß 
Geh. Rat Titius, die großen Unternehmer- und ArbeiterverMnds 
und die Völker mit solchem guten Willen M beseelen. Wird nicht 
aus ihm heraus gewirkt, so ist der Niedergang Europas unver 
meidlich. 
Als Korreferent führte Pfarrer O. Keller (Zürich) das 
Folgende aus: Die christliche Verkündigung schließt eine soziale 
Botschaft ein auch wenn ihr Programm im einzelnen nicht aus 
dem Evangelium unmittelbar geschöpft.werden kann. Heute ver 
langt das Problem der sozialen Erneuerung aus dem Geiste des 
Christentums eine neue Bearbeitung, well es einer neuen Aeit- 
lage gegenübergestellt ist. Diese wird u. a. dadurch charakterisiert, 
daß der neue Lebens- und Gestaltungswille der auf steigen 
den Arbeiterschaft heute weithin viel allgemeiner aner 
kannt ist. Dazu hat vor allem die Auflösung der Gesellschaft bei 
getragen. In ihr hat die Kirche ihre Freiheit vom Staate gewon 
nen und damit auch größere soziale Handlungsfähigkeit und die 
Möglichkeit, neues Vertrauen zu gewinnen. Bedeutsam sind vor 
allem zwei Dinge: Einmal das soziale Erwachen der 
Kirchen selbst, die d^e Aufgabe der sozialen Erneuerung nicht 
mehr einzelnen Pionieren oder Gruppen überlassen; sodann die Tat 
sache, daß diese Ausgaben heut? von allen Kirchen als gemein 
schaftliche Arbeit ausgenommen werden in den großen inter 
nationalen Zusammenschlüssen. Diese neue Zeitlage stellt auch 
praktische Aufgaben. Die wichtigste bleibt die religiöse: 
die soziale Botschaft oes Evangeliums in allen Völkern lebendig 
zu wachen. Damit sind andere Aufgaben gegeben: die Durchar 
beitung der Probleme, die erzieherische Beeinflussung des Volks 
ganzen, die organisatorischen Aufgaben in Einzelgemeinde, VoR 
und internationaler Zusammenarbeit, für die heute in den Fort 
setzungsausschüssen der Stockholmer Konferenz das nötige Organ 
vorhanden ist. Die Arbeit für soziale Erneuerung hat einen Aus 
gleich und ein Zusammenwirken Zu suchen zwischen der bisherigen 
Liebestätigkeit und der eigentlichen Sozialreform/ die sozialpoli 
tische Arbeit erfordert. . 
Seruelle Aufklärung. 
Epilog zur ReichZ gesund Heits-Woche. 
Knaben und Mädchen von 13 Jahren an — oder noch jüngere? 
sind während der „Reichsgesundheits-Woche" mit dem eisernen 
Besen aufgeklärt worden. Man hat sie in Brieux' braven 
Schmöker: „Die Schiffbrüchigen" geschickt und die Fährnisse des 
Liebeslebens durch Vorträge- ihnen nahegebracht. Die Ursachen 
des Trippers sind ihnen jetzt offenbar, die amtliche Zahl der Lucs 
fälle ist ihnen nicht verborgen geblieben. Knaben und Mädchen 
werden fürder kaum noch bezweifeln, daß es ihre Aufgabe sei, die< 
Statistik der Geschlechtskrankheiten prozentual zu verbessernd 
Im Dienste der Reichsgesundheit. 
Drastische Belehrung hat zumal der Film: „Falsch^ 
Scham" erteilt, der ganz Deutschland durchläuft. Seine optischen 
Darlegungen sind umso stichhaltiger, als er mit Unterstützung der 
„Gesellschaft Zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten" herge 
stellt worden ist. Knaben und Mädchen haben.in ihm die Hunnen 
überfälle der GonokoKen verfolgt, Vorsicht beim Gebrauch von 
Ammen sich eingeprägt und die Trophäen der Syphilis zu ver 
abscheuen gelernt. Der Glaube an die Segnungen der Prostitution 
ist in ihnen Zerstört, ein für alle mal wissen sie nun, daß die 
stärksten Gefühle des Primäreffekts verdächtig sind. Die Warnung 
ist gründlich. Knaben und Mädchen werden gewiß nicht Zögern, 
die künftigen Ausbrüche ihrer Triebe hygienisch Zu regeln und 
den guten Onkel Hautarzt zu Rate zu ziehen. Im Dienste der 
Reichsgesundheit. 
Aufklärung soll sein. Sie zerstört, wa§ an -er Scheu der 
früheren Generationen, von sexuellen Dingen zu reden, schlecht 
mythologischen Ursprungs war. Das echte Geheimnis .geht durch 
das Wissen nicht unter. 
Die AuMrungsmethoden indessen, die bei der ReichSgesund- 
hcits Woche zum Teil befolgt wurden, sind b arbarrsch. Hat 
man vordem ängstlich verschwiegen, so bespricht man jetzt 
plan. Man ist ins Gegenteil umgeschlagen, der Radikalismus 
deS VechMens und der des Hagens sind einander 
Keulenhiebe werden versetzt, die ganze Anatomie wlrd sauber^ch 
ausgebreiLet- Mit dem Ergebnis, daß die so LraktierLe äugend 
Wirkungen kennen lernt, deren Ursachen noch nicht m rhrem 
Erfahrungsbereich liegen. Sie erhält von Vorgängen Kunde, me 
unter Umständen den Körper verheeren, ohne eine der Empfin 
dungen wirklich erlebt Zu haben, die den Körper beherrschen und 
> ihm Glück und Unglück bedeuten. Es ist mehr als wahrscheinlich, 
daß Darbietungen dieser Art junge Menschen im Puber 
tätsalter mit Ekelvorstellungen , und Hemmungen belasten 
können, die auf lange hinaus schädigen. Vor allem die Film 
vorführungen, die das Körperliche in seiner AusschlreßM 
zeigen; denn der an die Leinwand gemalte Teufel ist unwider- 
leglich- Hinzu konMt noch ein anderes: die Widerstandskraft des- 
Körpers verringert sich leicht, wenn die Phantasie mit den in 
ihm sich abspielenden Ereignissen so zum Bersten angefüllt wird, 
daß sie nichts weiteres mehr hinzudenken mag. Der Körper 
bleibt dann sich allein überlassen, ausgeschaltet ist die umstürzende 
Gewalt des Geistes, sind die heilenden Regungen der Seele. 
Das Hygienische, bis zu seinem nackten Ende vorgetrieben, 
kehrt sich gegen sich selber. ! 
! In dem Drang, die Jugend mit Aufklärung zu verprovian- 
Lieren, hat man eben die Hälfte vergessen. Forsch zerrt man die 
Eingeweide nach außen; aber der Hinweis auf das nicht minder 
verborgene Erotische, von dem die leiblichen Funktionen sich 
nicht kahl trennen lassen, wird in der Regel unterdrückt. Diese 
Aufklärung ist unvollständig und daher nicht geeignet, jenen Hin- 
tcrtreppengerüchten den Garaus zu machen, die sich die Schulbuben 
einander zuraunen. Indem sie das Gebiet der Erotik zu uw- 
reißen vermeidet, führt sie seine Gehalte auf eine Summe phy 
siologischer Geschehnisse zurück, statt umgekehrt Zunächst die faktische 
Abhängigkeit des Physiologischen von den erotischen Kräften dar- 
zutun. Das Erotische durchsetzt als Liebe, Leidenschaft, Neigung 
und Begehren die Seele und ihre Sprache und verbündet sich Zwei 
deutig mitchem Geist; es wird von der Sexualität nicht getragen, es 
schließt sie" ein. Die Einwände: man rede Zu Unreifen, und man 
könne über diese Dinge in der Öffentlichkeit überhaupt nicht reden, 
verschlagen hier nicht. Wenn schon nicht Anstand genommen wird, 
die unmündige Zuhörerschaft in naturwissenschaftlichen Referaten 
aufzuklären, zu deren Verständnis ihr die Voraussetzungen feh 
len, so ist es erst recht gestattet, ihr Ausblicke auf das Erotische 
Zu eröffnen, dessen Macht sie vorausahnen mag. Nicht gestattet 
nur sind diese Ausblicke dann, sondern geboten. Denn ihr Unter 
bleiben beschwört einen Obskurantismus herauf, der 
schlimmer ist als der alte. Oder ist eine Jugend nicht mit Blind 
heit geschlagen, die um die schädigenden Folgen von Beziehungen 
weiß, deren Ansehen und Bedeutung ihr verhohlen wird? Muß 
sie nicht doppelt dereinst der Wollust ausgeliefert sein, wenn sie 
das Geschlechtliche lediglich aus der Perspektive des Hautarztes 
kennt? Wenn sie nur über die grob prophylaktischen Mittel unter 
richtet ist und nicht auch über den Sinn des Triebes selber: wie 
-er den ganzen Menschen umfängt, wie er zum Guten und Bösen 
gereicht? Sexuelle Aufklärung nach Art der heute verübten ist 
verderblich, solange sie durch die alleinige Betonung der Hygiene 
ein verfälschtes Bild der Wirklichkeit gibt. 
Um die Jugend an die Wirklichkeit heranzuführen, dazu ge 
hört freilich Scham. Man hat die „falsche Scham" erfolgreich 
aüsgsrottet; die richtige scheint mit abhanden gekommen zu 
sein Ein Aufklärungsfeldzug jedenfalls, der sich darauf beschränkt, 
in Vorträgen und Filmen denen, die es begreifen und nicht begrei 
fen, Material über Geschlechtskrankheiten und ihre Verhütung auf- 
zutischen, hat mit Scham zuletzt üb?rhaupt nichts Zu schaffen. 
Scham -- richtige oder falsche —- bildet sich dort nur, wo ein Ver 
hältnis zwischen Menschen besteht. Die hygienische Propaganda 
unserer Tage aber meint im Grunde garnicht die einzelnen Men 
schen sondern die Statistik. Ihre Objektivität wäre rechtmäßig 
durchaus, wenn sie Objekte beträfe, Gegenstände, die an der ratio 
nellen Bewältigung ihre Schranke haben. Da sie jedoch auf „Auf 
klärung" abzielt. ist ihr der Vorwurf der „UnmenschlichkeiL" nichts
	        
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